Vor der neuen Verteidigungsministerin liegt ein weites Feld an dringenden Aufgaben. Im Laufe der Jahrzehnte hat sich ein Wildwuchs entwickelt, der schon an der Spitze seinen Ausgang nimmt

„La Défense et son armée“

d'Lëtzebuerger Land du 17.11.2023

Das seltsame Verhältnis der Luxemburger Politik zum Militärischen allgemein und zur eigenen Armee im Besonderen wurde mal wieder deutlich, als der DP-Abgeordnete Gusty Graas Ende Juli in der Kammer-Debatte zum neuen Armeegesetz erklärte, man dürfe die Armee nicht mit Landesverteidigung und Kriegführung gleichsetzen. Die Armee diene vielmehr dazu, dass Luxemburg seine Rolle in der Nato erfüllen kann.

Die Aussage ist zumindest bemerkenswert, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die Nato ein militärisches Verteidigungsbündnis ist, das im Ernstfall Territorialverteidigung durch Kriegführung betreibt. All ihre Mitgliedsarmeen haben einen militärischen, unter Umständen kriegerischen Zweck. Doch in Luxemburg herrscht das Bestreben vor, eine grundlegende öffentliche Debatte zum Militärischen zu vermeiden, auch um den Preis kognitiver Dissonanz. Man muss dem scheidenden Verteidigungsminister François Bausch (Grüne) zugutehalten, dass er mehrfach Ehrlichkeit und Realismus eingefordert hat (d’Land, 23.06.2023). Die neue Regierung sollte daran anknüpfen. Ostentatives Nicht-sehen-wollen des Elefanten im Raum wird zunehmend unmöglich. Unter dem Druck der Nato, also von außen, war in den letzten Jahren das Verteidigungsbudget erhöht worden, um auf erneuten äußeren Druck weiter erhöht zu werden. DP-Premier Xavier Bettel und Verteidigungsminister Bausch haben relativ geräuschlos bei der Nato das Zwei-Prozent-Ziel herunterverhandelt, wodurch sich das Verteidigungsbudget auf längere Sicht voraussichtlich nicht bei circa zwei Milliarden Euro jährlich, sondern lediglich bei rund 1,6 Milliarden einpendeln wird. Das macht, alle Zivilisten und Militärs der Streitkräfte eingerechnet, immerhin noch an die 1,2 Millionen pro Kopf und Jahr. Die gegenwärtige Struktur, so heißt es, sei nicht in der Lage, derartige Summen sinnvoll zu verwalten und zu investieren.

Doch das ist bestenfalls die halbe Wahrheit. Hintergrund dürften sowohl militärische wie auch verfassungsrechtliche Aspekte sein. Ein hoher Militär im Ruhestand hat es ebenso klar wie brutal formuliert: „Schaut man sich auf der Webseite der Direction de la Défense etwa die Beschreibungen einzelner Komponenten an, gewinnt man den Eindruck, dass für manche die Verbindung zum Stabschef der Armee nur rein beamtenrechtlicher Natur zu sein scheint, während die militärische Befehlskette unbeleuchtet bleibt. Zu oft wird vergessen, wie kritisch solche Fragen sind, wenn es zu erklären gilt, warum etwas einmal nicht nach Plan gelaufen ist. Auch für unsere Partner innerhalb der Allianz ist es nicht unerheblich, ob unsere nationalen Fähigkeiten sich nahtlos in multinationale militärische Befehlsketten einfügen lassen und wer ihre militärischen Ansprechpartner zu Einsatzfragen sind.“

Im Laufe der letzten Jahrzehnte hat sich offensichtlich ein gewisser Wildwuchs entwickelt, der schon an der Spitze seinen Ausgang nimmt. Luxemburg leistet sich mit der „Direction de la Défense“ eine komplexe Multifunktionsbehörde, die im Außenministerium angesiedelt ist, aber einem Verteidigungsminister untersteht und irgendwo zwischen Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik laviert gemäß dem 3D-Ansatz „Diplomatie, Développement et Défense“. Aus dem Internetauftritt der Verteidigungsdirektion ergeben sich mehr Fragen als Antworten. Es tauchen die Begriffe „Défense“, „Direction de la Défense“ und „Armée“ auf, ihre Abgrenzung bleibt nebulös. Verwirrend ist insbesondere eine Passage, in der es heißt: „La Direction de la Défense est chargée de planifier les investissements et de développer les capacités et moyens militaires et d’identifier des investissements permettant la diversification de l’effort de défense du Luxembourg. Aujourd’hui, la Défense luxembourgeoise et son Armée disposent de capacités et compétences diverses dans des domaines tels que la reconnaissance terrestre, le domaine spatial, aérien ou la cyber défense.“

La Défense et son armée? Bei den Untersuchungen des parlamentarischen Haushaltskontrollausschusses zum Satelliten Luxeosys wurde den Parlamentariern am 14.9.2020 klar, dass Défense und Armee zweierlei Dinge und nicht ausreichend miteinander verzahnt sind. Wer trifft militärische Entscheidungen im Rahmen der Défense – zum Beispiel über einen eventuellen Einsatz des militärischen Satelliten, das heißt eine militärische Aufklärungsmission? Oder über einen Cyberangriff oder eine Cyberabwehr? Ist der Generalstabschef dann lediglich der beamtenrechtliche Vorgesetzte der Offiziere in der Défense, beziehungsweise der Direction de la Défense, oder ist er auch ihr operativer militärischer Vorgesetzter? An wen müssen Verbündete sich wenden, wenn sie einen militärischen Entscheider brauchen? Was hat der Generalstabschef zu sagen und was nicht? Militär lebt wesentlich von der eindeutigen Zuweisung von Kompetenzen, die ihren Ausdruck in einer Befehlskette findet. Wozu dient eine militärische Parallelstruktur im Rahmen des Außenministeriums? Hat die Diplomatie des Außenministeriums irgendwann beschlossen, Kriege künftig selbst zu führen im Sinne von Clemenceau, der einst formulierte: „La guerre! C’est une chose trop grave pour la confier à des militaires“?

Während die Défense offensichtlich an einer Space-Patrol bastet, verharrt die Armee in den Niederungen der Siebzigerjahre und kämpft mit einem clash of cultures. Eine ganze Reihe von Problemen bedingen und verstärken sich gegenseitig. Als Schwachpunkt wird immer wieder eine archaische und ineffiziente Führungskultur genannt, die in der Praxis zu überbordender Bürokratie und Mikromanagement führt. Detaillierte Anweisungen zur praktischen Ausführung von Vorgaben ersticken jede Initiative und Eigenverantwortung im Garnisonsbetrieb und finden ihre Ausprägung im militärischen Einsatz als „Führung mit Befehl“. In westlichen Armeen hat sich jedoch seit Jahrzehnten das Prinzip des „Führens mit Auftrag“ etabliert, wobei der Vorgesetzte ein Ziel setzt, die nötigen Mittel zuweist und die übergeordnete Führungsabsicht im Rahmen der Gesamtoperation mitteilt, ohne detaillierte Vorgaben zur Ausführung des Einzelauftrags zu machen. Der Ausführende entscheidet selbst, wie er das Ziel erreicht, wobei er durch Kenntnis der übergeordneten Operationsziele auch bei Lageänderung oder beim Abriss der Kommunikation in deren Sinne handeln kann.

Das Personalproblem der Armee

Die Luxemburger Armee ist spezialisiert auf Aufklärung, die weitgehend autonomes und lageangepasstes Handeln im Sinne übergeordneter Führungsabsicht verlangt. Insofern widerspricht die Führungspraxis auf dem Herrenberg dem Geist der Aufklärungstruppe und dem, was Offiziers- und Unteroffiziersschülern an ihren Truppenschulen im Ausland vermittelt wird. Die Diskrepanz führt zu Frustration, zur „inneren Kündigung“, zu „Dienst nach Vorschrift“ und schließlich zum Quittieren des Dienstes, was das ohnehin bestehende Personalproblem noch verschärft. Eine Verlängerung des Freiwilligendienstes auf vier Jahre und die Schaffung von neuen Anschlussverwendungen können punktuelle Entlastung bringen. Deutlich entschärfen könnten das Personalproblem dagegen strategische Vorgaben der Politik zur Schaffung einer Armee-Reserve, die auch die gesellschaftliche Integration und die Akzeptanz der Truppe verbessern würde.

Ergänzend zur Armee-Reserve brächte die Einführung des Konzepts des Zeitsoldaten wesentliche Vorteile. Die Aussicht auf Armee bis zur Pension schreckt zunehmend ab und führt durch die Verengung der Pyramide zur Spitze hin zu einem unauflösbaren Stau bei Berufssoldaten. Schließlich kann in einer Pyramide stets nur einer an die Spitze gelangen. Warum nicht nach zehn oder 15 Jahren als Capitaine oder Adjudant der Reserve in eine andere Funktion des Staates wechseln und der Armee als Reservist weiter zur Verfügung stehen? Auch dieses Konzept wird in westlichen Streitkräften praktiziert.

Und weiter: Warum nicht Jugendliche mit Interesse an Armee, Polizei oder CGDIS durch ein Armee-Lyzeum abholen? Warum kein Lehrstuhl für Militärwissenschaft an der Uni Luxemburg? Diese Rolle als Mittler zwischen Militärkulturen zu spielen, stünde Luxemburg gut zu Gesicht und wäre ohne Zweifel bei der Nato als Verteidigungsanstrengung absetzbar. Auch ließe sich die Verweildauer unserer Offiziersanwärter an ausländischen Akademien reduzieren, ohne auf die Prägung durch ein internationales Umfeld zu verzichten. Truppendienstliche Erfahrung im Ausland muss selbstverständlich sichergestellt werden. So könnte die sklerotische Bubble Herrenberg aufgebrochen werden, statt weiter einer weithin beklagten Infantilisierung Vorschub zu leisten.

Ein Leitbild für die Truppe

Diese kulturelle Transition muss selbstverständlich auch das Leitbild der Truppe umfassen. Der Versuch eines Leitbilds in Form der 2020 neugeschaffenen Werte-Charta darf als gescheitert angesehen und muss erneut in Angriff genommen werden, ohne in pathetische Anachronismen zu verfallen. Militärs und Gesellschaft muss klar sein, wofür diese Armee gegebenenfalls einzutreten hat.

Die Streitkräfte sind zwar zuvorderst betroffen und gefordert bei der Stärkung der Verteidigungsanstrengungen, aber angesichts der Dimension dieser Herausforderung muss dies zu einer gesamtstaatlichen Querschnittsaufgabe gemacht werden. Dabei können durchaus Synergieeffekte generiert werden. Es fehlt Luxemburg an Zivil- und Katastrophenschutzkapazitäten – was ein Mangel ist, der angesichts zunehmender klimawandelbedingter Katastrophen sowie einer gewachsenen Gefahr durch Krieg, Terror, Pandemien, Fluchtbewegungen und Unruhen schnellstmöglich behoben werden muss. Im Raum steht die Idee einer militärischen Mehrzweckeinheit (unité médico-sapeur), welche die Fähigkeiten einer Sanitäts- und einer Pionierkompanie vereint und mit dem CGDIS durch Abkommandierung, Ausbildung und Material sowie regelmäßige Wehrübungen verbunden wäre. Nach der regulären Dienstzeit in dieser Einheit verbliebe man im Status des Militärs, würde aber zum CGDIS abkommandiert. Während zwei Wochen im Jahr würden diese Kräfte einberufen, um die Reihen der Einheit zu voller Stärke aufzufüllen, Ausbildung und Übungen durchzuführen. Je nach Lage könnte diese Einheit im Blau des CGDIS oder in Militärgrün eingesetzt werden, das heißt zivil oder militärisch. Sie könnte ganz oder in Teilen bei Katastrophen im In- und Ausland unter nationaler, Nato-, EU-, oder UN-Führung agieren, um etwa in Kriegs- und Katastrophengebieten Infrastrukturen zu sichern, Zeltlager und Feldlazarette zu errichten, zu schützen, zu versorgen und zu betreiben. Frankreich, die Schweiz und Österreich haben derartige Einheiten aufgestellt. Das Konzept passt zur vieldiskutierten Idee des Militärhospitals und trüge auch zur Behebung der anhaltenden Misere im Sanitätsbereich der Armee bei. Gesellschaftlich ist die Idee unumstritten und würde für Luxemburg einen eindeutigen Mehrwert darstellen, der überdies als Verteidigungsbeitrag geltend gemacht werden könnte. Es wäre allerdings illusorisch anzunehmen, dass die Armee ein solches Projekt allein stemmen könnte. Expertise und Unterstützung des CGDIS wären unerlässlich, womit man erneut bei der staatlichen Querschnittaufgabe angelangt ist. Die Armee steht immer bereit, um allen staatlichen Stellen bei Bedarf auszuhelfen. Diese Bereitschaft darf keine Einbahnstraße sein.

In Gesprächen mit aktiven und ehemaligen Militärs, aber auch Zivilangestellten, die bei Recherchen zu den letzten Beiträgen zum Thema Militär (d’Land, 23.6.2023 und 15.9.2023) geführt wurden, herrschte Konsens über die Schaffung eines Generalinspekteurs oder Kommissars für die Armee. Das Grundkonzept stammt von der deutschen Bundeswehr, wobei die Idee eines „Wehrbeauftragten“ jedoch auf Luxemburger Verhältnisse angepasst werden müsste: Er solle mehr sein als ein Kummerkasten für Soldaten und umfassendes Zugangs- und Initiativrecht haben und neben periodischen Berichten auch selbstständig Untersuchungen durchführen und Vorschläge machen können. Militärjustiz und Militärpolizei könnten ebenfalls an dieser Dienststelle angesiedelt werden. Eine derartige Instanz, beziehungsweise ihr Vertreter, bräuchte das Vertrauen aller militärischen und zivilen Armeeangehörigen sowie der Politik. Auch die Aspekte des Militärischen müssten ihm vertraut sein. Ein legalistisch-bürokratischer Bremsklotz dürfe keinesfalls entstehen. So könnten Konflikte im vorpolitischen Raum ausgeräumt, Vertrauen geschaffen und die zivile und politische Kontrolle der Streitkräfte gewährleistet werden.

Die neue Ressortministerin Yuriko Backes von der DP hat ein weites Feld von dringenden Aufgaben zu beackern.

Reiner Hesse ist Politikwissenschaftler und Soziologe. Er hat über Militärpolitik und Militärsoziologie geforscht.

Reiner Hesse
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