Nach der Pflegeversicherungsreform gibt es keine Ruhe: Nachdem es hoch her ging um die courses-sorties, heißt es nun, manche Heiminsassen bekämen weniger „Unterstützung“, andere mehr

Vom Ausgang zum Sitztanz

d'Lëtzebuerger Land vom 30.03.2018

Kaum war am 1. Januar die Reform der Pflegeversicherung in Kraft getreten, musste LSAP-Sozialminister Romain Schneider vier Wochen später ein erstes Mal Feuerwehrmann spielen: Eine Dame hatte sich in einem offenen Brief beschwert, für Pflegeleistungsempfänger, die von einem mobilen Dienst daheim versorgt werden, gebe es aus der Pflegekasse kein Geld mehr für begleitete Gänge auf Ämter, zur Apotheke oder zum Einkaufen. Diese courses-sorties habe die Reform abgeschafft. Prompt überschlugen sich entrüstete Kommentare auf Facebook und rtl.lu. Marc Fischbach, der frühere CSV-Minister und heutige Präsident des Pflegedienstleisterverbands Copas, nannte im Radio die Abschaffung „eine unglückliche Entscheidung“. Der ADR-Abgeordnete Fernand Kartheiser schrieb einen Gesetzesvorschlag zur Wiedereinführung der courses-sorties.

Nun sieht es so aus, als könnte der Sozialminister erneut Wogen glätten müssen. Hatte er Ende Januar erklärt, die courses-sorties „als solche“ seien zwar abgeschafft, könnten aber im Rahmen von gardes en groupe weiterhin stattfinden, schlug einen Monat später die Copas Alarm und wiederholte das vergangenen Freitag: Von jenen Bewohnern von Alten- und Pflegeheimen, die schon vor Inkrafttreten der Reform pflegebedürftig waren und deren persönlicher Pflegeplan zum 1. Januar auf das neue System umgestellt wurde, erhielten nun 36 Prozent im Schnitt 30 Prozent weniger appui à l’indépandance pro Woche.

„Dabei sind 30 Prozent nur ein Durchschnittswert“, betont Copas-Generalsekretärin Netty Klein gegenüber dem Land. Betrachte man die Leute individuell, könne die Einbuße bis zu zehn Stunden pro Woche betragen. „Und ich glaube nicht, dass das Ministerium zu grundsätzlich anderen Resultaten kommt als wir“, sagt Klein. Denn die früheren Pflegepläne seien von der CNS mathematisch an die neuen Regeln angepasst worden. „Was sich daraus ergibt, ist nicht etwa Einschätzungssache.“

Die CNS, die die Pflegekasse verwaltet, äußert sich nicht dazu, ob die Behauptungen der Copas zutreffen und ob sie sich anhand von Abrechnungen der Alten- und Pflegeheime über erbrachte Leistungen nachvollziehen lassen: Diese Frage sei eine für das Sozialministerium. Was schon darauf hindeutet, dass das Problem weniger ein technisch-administratives als ein politisches sein könnte.

„Uns überrascht, wie die Copas das darstellt“, sagt Abilio Fernandes, Generalkoordinator im Sozial-
ministerium. Denn die Generalsekräterin des Pflegedienstleisterverbands hat die Lage so umrissen: Nicht alle pflegebedürftigen Personen in den Heimen erhielten nun weniger appui. Manche bekämen mehr. „Seit der Reform gibt es entweder pauschal fünf Stunden pro Woche oder null.“ Womit verliere, wer vor der Reform mehr als fünf Stunden bekam, dagegen gewinne, wer früher ein bis vier Stunden erhielt. Netty Klein betont, der appui sei nicht zu verwechseln mit Animationen der Heimbewohner in einer Gruppe, damit sie nicht vereinsamen. Sondern darunter könne Kinesitherapie fallen oder „Sitztanz“, eine Gymnastik im Sitzen nach Musik. Wer an derlei Betreuung weniger erhalte als noch vergangenes Jahr, sei klar benachteiligt, „und das trifft ausgerechnet die Bedürftigsten“. Jemandem plötzlich mehr zu geben, sei ebenfalls kontraproduktiv: „Nicht alle wollen mehr. Kinesitherapie zum Beispiel ist nicht immer angenehm.“

Abilio Fernandes weist das zurück: „Das Gesetz legt ganz klar fest, dass es bis zu fünf Stunden sein können. Jemanden zu einer Behandlung zu zwingen, wäre natürlich nicht im Interesse der betreffenden Person, es wäre aber auch nicht legal.“ Dass nun die Fünfstunden-Grenze gilt – bei appui in einer Gruppe seien es bis zu 20 Stunden die Woche –, liege daran, dass vor der Reform nicht alles, was auf den Pflegeplänen stand, tatsächlich benutzt wurde. „Es waren in der Praxis nur 80 bis 90 Prozent.“ Die Reform habe „die Leistungen an den tatsächlichen Bedarf angepasst“.

Wer aus Rede und Gegenrede schlau werden will, muss bedenken, dass es dabei nicht um Pflegepläne für Leute geht, die seit der Reform neue Empfänger aus der Pflegeversicherung geworden sind, sondern um alte Pläne, die mathematisch „konvertiert“ wurden und nun „Pflegesynthese“ heißen, wie der seit 1. Januar amtliche Terminus lautet. Gab es früher laut Plan etwas, das in der Synthese nicht mehr vorkommt, fällt das natürlich auf – vorausgesetzt, die Betreffenden bemerken es tatsächlich, wie die Dame, die den Wegfall der courses-sorties beklagte.

Allerdings ist Romain Schneider Politiker genug, um sich nicht ausgerechnet im Wahljahr den größten Wurf seines Ressorts zum Verhängnis werden zu lassen und für seine Partei womöglich das zweite Parlamentsmandat im Nordbezirk, das sie 2013 errungen hatte, in Gefahr zu bringen. Dass es nicht einfach würde, Pflegepläne, in denen mehr als fünf Stunden Unterstützung im Heim standen, oder zum Beispiel die courses-sorties, in Synthesen umzurechnen, in denen das so nicht mehr vorkommt, war natürlich klar. Und die Zahl der Pflegebedürftigen mit alten Plänen lag 2017 immerhin bei rund 14 000. Deshalb begannen noch ehe das Reformgesetz am 12. Juli vergangenen Jahres verabschiedet wurde, die Gespräche über den „Übergang“.

Eine regelrechte Übergangsphase wollte Schneider nicht ins Gesetz schreiben. Unter anderem, weil dann für alte und neue Pflegepläne zwei Sorten Regeln, Formulare und Dokumentations-Software nebeneinander hätten betrieben werden müssen. Stattdessen setzte der Minister auf Ausführungs-Verordnungen und vor allem auf Versammlungen. Was er am 30. Januar nicht ganz ohne Mühe auf einer Pressekonferenz erläuterte, hatte er schon im vergangenen Jahr und zuletzt Mitte Dezember mit der Copas besprochen: Wer vor der Reform zum Einkaufen begleitet wurde, könne es sehr wohl auch nach dem 1. Januar. Nur, dass das nicht mehr courses-sorties heißen sollte, denn die hatte die Reform tatsächlich aus dem Pflegegesetz gekippt. Stattdessen sollten die Ausgänge ausnahmsweise für die Leute mit alten Plänen im Rahmen von gardes en groupes gegeben werden. Sehr ausnahmsweise, weil diese gardes eigentlich nicht für Leute gedacht sind, die fit genug sind, um im Supermarkt einkaufen zu gehen, und sei es auch mit Begleitung. Sondern für Personen, die daheim von einem „informellen Helfer“ versorgt werden – etwa dem Ehepartner –, der auch mal eine Pause braucht, oder die an Demenz leiden. Dann kann es bis zu 40 Stunden pro Woche gardes en groupe in einer Tagesstätte geben. Übergangsweise aber sollte ab 1. Januar ein Viertel davon „individuell“ für Ausgänge genommen werden können: Ob zum Supermarkt, auf Ämter, oder gar ins Kino, wie der Minister am 21. Februar noch einmal klarstellte, als auf Antrag der CSV-Fraktion der parlamentarische Ausschuss für Arbeit und Sozialversicherung mit ihm über die courses-sorties sprach. Im Wahljahr sollte sich die Sozialversicherung gerade nicht lumpen lassen.

Allerdings scheint die Copas nicht mehr alles, was im vergangenen Jahr besprochen wurde, akzeptieren zu wollen. Mag sein, dass ihr Präsident, der frühere CSV-Minister, sich einen Spaß daraus macht, den LSAP-Minister im Wahljahr aussehen zu lassen wie einen, der seinen Laden nicht im Griff hat. Wahrscheinlicher aber ist, dass es um Geld geht. Denn die Übergangsleistungen in der Praxis zu gewähren, erfordert zum Teil anders qualifiziertes Personal als früher. Die Copas erzählte ihren Mitgliedern, den gardes en groupe liege eigentlich eine anderer Pflege-Ansatz zugrunde als den courses-sorties, nachdem die beiden größten Pflegenetzwerke Hëllef doheem und Help signalisiert hatten, sie hätten an die alten courses zu viel Personal gebunden, erfuhr d’Land unter der Hand. Und ungeachtet aller Erläuterungen Romain Schneiders bietet noch immer nicht jeder mobile Dienst die courses als ausnahmsweise individualiserte Gruppenbetreuung an.

Über Geld wird zu reden sein, wenn der Sozialminister sich nach den Osterferien mit Copas und Gewerkschaften trifft, um Bilanz nach drei Monaten Reform zu ziehen, wie er das im Februar im Parlament versprochen hat. Letzten Endes ist das eine Fortsetzung der Debatte, die ziemlich bald nach der Bildung der DP-LSAP-Grüne-Regierung begann, die sich vorgenommen hatte, die von der vorigen Regierung angedachte Reform weiterzutreiben. Damals ging man noch davon aus, die Pflegekasse werde spätestens Ende 2015 unrettbar pleite sein. Gerettet werden sollte sie nicht zuletzt durch Kürzungen bei der „Unterstützung“ – seien das begleitete Einkäufe, Animationen im Heim oder Sitztänze. Wie ein noch unter Romain Schneiders Vorgänger Mars Di Bartolomeo erstellter Bericht der Generalinspektion der Sozialversicherung festhielt, seien diese Angebote und die Kosten dafür „explodiert“, ohne dass wissenschaftlich klar erwiesen sei, welchen Nutzen sie hätten.

In aller Öffentlichkeit zu erklären, dass sich damit die Frage stelle, wie weit die öffentliche Pflegeversicherung reichen soll, und ob es zum Beispiel angehen könnte, dass ein Pflegedienst begleitete Gänge in den Supermarkt anbietet, sie aber aus der eigenen Tasche bezahlt werden müssten oder vielleicht zum Teil, ging der LSAP und ihrem Sozialminister zu weit. Die Abgeordnete Taina Bofferding hielt als parlamentarische Berichterstatterin in ihrem Abschlussbericht zur Reform fest, „l’assurance dépendance crée und droit inconditionnel aux prestations“.

Weil die Ausarbeitung der Reform sich in die Länge zog, verfügte die Regierung im Zukunftspak, die zuständige Behörde im Sozialministerium werde bereits ab 2015 Pflegepläne „restriktiver“ zuerkennen. Bis heute ist nicht bekannt, was genau das hieß. Es half aber – neben dem Konjunkturaufschwung, der mehr Beitragseinnahmen brachte –, die Kasse vorerst zu retten, indem es ihre Ausgaben senkte. Zumindest einige Pflegebetriebe aber erlitten durch den Zukunftspak Einbußen. Um die ein Stück abzufedern, stellte die Regierung für 2015 bis 2018 insgesamt 30 Millionen Euro vom Staat bereit.

Die Vorstöße der Copas an die Adresse des Sozialministers sind deshalb auch Vorstöße an die Adresse der gesamten Regierung, um ganz sicher dafür zu sorgen, dass keinem Pflegedienst und keinem Heim Verluste durch die Reform entstehen. Romain Schneider hatte im Februar beruhigt, der Übergang zum reformierten System könne Betrieben, die in Schwierigkeiten geraten, durch die crédits-tampons vom Staat erleichtert werden. Doch wie die Copas die Sache sieht, sind die crédits als Ausgleich für den Zukunftspak gedacht und nicht für Kompensationen nach der Reform. Gibt es darüber in zwei Wochen eine Einigung – und im Wahljahr steht das zu vermuten –, könnten die Klagen über Nachteile aufgrund der Reform rasch ein Ende haben. Wenngleich die öffentlichen Ausgaben für die Pflege anschließend erst einmal weiter zunehmen dürften.

Peter Feist
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