Im Superwahljahr 2023 feiern die Grünen ihr 40-jähriges Bestehen. Der Blick nach vorne fällt ihnen leichter als der zurück

Die Ökoliberalen

Sam Tanson, Meris Sehovic, Josée Lorsché, François Benoy und François Bausch
Foto: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land vom 20.01.2023

Jubiläum Das Foyer der roten Rockhal in der seelenlosen Retortenstadt Belval erstrahlte am Montagabend in leuchtendem Grün. Die Regierungspartei Déi Gréng hatte zum Neijoerschpatt eingeladen. Bei Canapés mit confit de légumes und crème fines herbes konnten die insgesamt 1 100 Mitglieder – 28 neue hat die Partei eigenen Angaben zufolge alleine in den vergangenen beiden Wochen rekrutiert – die fünf Minister/innen, neun Abgeordneten, zwei Bürgermeisterinnen, 15 Schöff/innen und 67 Gemeinderät/innen kennenlernen. Alle gekommen waren sie selbstverständlich nicht.

Für die Grünen ist 2023 ein besonderes Jahr, nicht nur wegen der Gemeindewahlen im Juni und der Parlamentswahlen im Oktober. Am Nationalfeiertag vor 40 Jahren wurde die Partei gegründet, vor 30 Jahren fanden die aus der Spaltung von 1985 hervorgegangenen ökosozialistische Gap und ökoliberale Glei wieder allmählich zusammen und traten nach dem wegweisenden Kongress vom Januar 1994 mit einer gemeinsamen Liste an. Seit zehn Jahren sind déi Gréng nun in der Regierung. Mit Ausnahme der ADR hat keine andere Partei sich in den vergangenen Jahrzehnten sowohl programmatisch als auch personell so stark verändert wie sie.

Schon 2008, anlässlich des 25-jährigen Bestehens, stellte der frühere Abgeordnete Robert Garcia fest, dass die fünf Grundprinzipien, denen die Grünen sich bei ihrer Gründung verpflichtet hatten, kaum noch erfüllt seien. Das basisdemokratische Rota-tionsprinzip wurde 1994 aufgegeben, die Forderung nach der Abschaffung der Monarchie und das Bekenntnis zu einer Republik ebenfalls. Von der Gewaltfreiheit und ihrer kritischen Haltung gegenüber der Nato rückten sie schon während des Kosovo-Konflikts ab, 2018 haben sie die Ressorts Verteidigung und innere Sicherheit in der Regierung übernommen, ihr Minister François Bausch lieferte vergangenes Jahr Panzerabwehrraketen, andere Waffen und Material im Wert von rund 72 Millionen Euro an die Ukraine. Und Henri Kox wird in die Geschichte eingehen als der Polizeiminister, der in Luxemburg den Platzverweis eingeführt hat – wenn auch vorerst in einer „light“ Version, wie seine Partei immer wieder betont, als müsse sie sich dafür rechtfertigen.

Obwohl auch das Soziale ursprünglich zu den Grundprinzipien der Grünen zählte, vertraten sie in diesem Bereich nie besonders progressive Ansichten (eine Ausnahme war die von Trotzkisten und Maoisten unterwanderte Gap mit ihren teils revolutionären Ideen, die sich für fundamentale gesellschaftliche Umwälzungen aussprach). Zu den „regierungstreuen“ Gewerkschaften hatten sie seit jeher ein zwiespältiges Verhältnis, obwohl – oder gerade weil – viele ihrer Gründungsmitglieder aus der Gewerkschaftsszene kamen – und sich frustriert und desillusioniert von ihr abgewendet hatten. Schon 1984 setzte Déi gréng Alternativ sich für den „gedeckelten“ Index ein, in ihrer Kongressresolution von 1994 stellten sie die Sozialpolitik in den Dienst der „durchgreifenden Ökologisierung der Produktion“. Außer einer allgemeinen Arbeitszeitverkürzung finden sich dort kaum konkrete Vorschläge. Wie stehen die Grünen heute zu der von LSAP-Arbeitsminister Georges Engel vorgeschlagenen 38-Stunden-Woche mit vollem Lohnausgleich? Sie halten sich bedeckt.

Das taten sie am Montagabend insgesamt. Während die Koalitionspartner DP und LSAP schon seit Beginn des Superwahljahres 2023 gegeneinander sticheln und sich beide öffentlich von der Mietrechtsreform des grünen Wohnungsbauministers Henri Kox, die sie selber im Regierungsrat gebilligt haben, distanzieren, referieren die Grünen über Multi- und Polikrisen, vor denen sie schon vor Jahren gewarnt hätten, über Solidarität und Zusammenhalt in Europa und den Ausbau erneuerbarer Energien, über Menschenrechtsverstöße bei der Fußball-WM in Katar und Gewalt gegen Frauen im Iran. Vor 40 Jahren verstanden die Grünen unter „Solidarität und Zusammenhalt“ eine europäische Kooperationspolitik, die „den Zielen einer selbstbestimmten und an den Bedürfnissen der Mehrheit der Bevölkerung orientierten Entwicklung“ in Drittweltländern entspricht und verurteilten den Handelsliberalismus der Europäischen Gemeinschaft. 2020 verteidigten sie im Parlament das Freihandelsabkommen Ceta, das die EU mit Kanada abgeschlossen hat.

Realpolitik Diese unüberbrückbaren Widersprüche rechtfertigen die Grünen mit dem beschönigenden Begriff der „Realpolitik“. Tatsächlich hatte sich nach der Wiedervereinigung von 1994 der in den Anfangsjahren vor allem durch den 2021 verstorbenen Jup Weber repräsentierte wirtschaftsliberale Flügel der Partei (Glei) allmählich gegenüber dem sozialdemokratisch bis sozialrevolutionär geprägten (Gap) durchgesetzt. Spätestens nach den Wahlen von 2004 wurde der realpolitische Kurs auch personell in der Abgeordnetenkammer sichtbar. Renée Wagner und Robert Garcia zogen sich zurück, mit Henri Kox, Viviane Loschetter und Claude Adam wurden Grüne ins Parlament gewählt, die für eine neue Generation standen. Sie stammte vorwiegend aus dem Bildungsbürgertum (Lehrer/innen und Sozialpädagog/innen) und gab Umwelt- und Klimaschutz Vorrang vor anderen Grundprinzipien. Mit dem Regierungseintritt 2013 setzte sich die Verbürgerlichung der Grünen fort, viele Jungpolitiker/innen traten ein, denen die etablierte Umweltpartei nun Karrierechancen eröffnet. Ihre Mitgliederzahl hat sich in den vergangenen zehn Jahren fast verdoppelt.

„Es sind reiche Leute, die denken, sie seien ökologisch“, analysierte am Rande des Neijoerschpatt ein junger Mann, der selbst (noch) nicht Parteimitglied ist und mit einem Freund gekommen war. Er sah der Fraktionschefin Josée Lorsché und den Ko-Parteipräsident/innen Djuna Bernard und Meris Sehovic dabei zu, wie sie auf einer kleinen Bühne, mit einem Headset ausgestattet, geübt gestikulierend, gleich Motivationstrainern ihren Anhänger/innen positive Botschaften einprägten. Rechtsstaat und Demokratie schützen, Energieversorgung und Sicherheit gewährleisten: Das täten die Grünen, die „zentrale Verantwortungsbereiche“ besetzten, mit Kompetenz, Leidenschaft und einem klaren Kompass, meinte Sehovic. Die Tränen über den Tod von Camille Gira und den Herzinfarkt von Felix Braz sind getrocknet, die Skandale um Roberto Traversini und Carole Dieschbourg vorerst verdrängt. Für negative Gefühle war am Montag kein Platz. Djuna Bernard zählte die zahlreichen Reformen auf, die grüne Minister/innen – „den Heng, d’Sam, de Fränz, eist Joëlle an de Super-Turm“ – in den vergangenen zehn Jahren durchgeführt haben. Ihre Politik stelle „Resultate vor Parolen“, „Fakten über Ideologie“ und „das Allgemeinwohl vor Partikularinteressen“, skandierte ihr Ko-Präsident. Diesen Politikstil würden die Grünen bis zu den Wahlen durchziehen. Und Josée Lorsché ging immer wieder auf die multiplen Krisen, Menschenrechtsverletzungen und Einschränkungen der Grundfreiheiten „überall auf der Welt“ ein.

Perspektiven Im Laufe des vergangenen Jahres hatten die Grünen beim Heidelberger Markt- und Sozialforschungsinstitut Sinus eine Studie in Auftrag gegeben, um die Auswirkungen der multiplen Krisen auf das Wohlbefinden der Luxemburger Bevölkerung zu ermitteln (d’Land; 22.07.2022). „Nicht mega überraschend“ sei dabei herausgekommen, dass das Unsicherheitsgefühl gewachsen und das Wohlstandsversprechen der Nachkriegsgesellschaft nicht mehr erfüllt sei, erklärt Meris Sehovic dem Land. Beides dekliniere sich auf unterschiedliche Weise in unterschiedlichen gesellschaftlichen Milieus. Diese Erkenntnis wollen die Grünen in ihr nationales Wahlprogramm einfließen lassen, das sie am 1. Juli auf einem Parteikongress annehmen wollen.

40 Jahre nach ihrer Gründung und rund 30 Jahre nach dem Zusammenschluss von Glei und Gap stehen die Grünen eigenen Einschätzungen zufolge erneut vor einem Umbruch. Nach zehn Jahren Regierungsbeteiligung hätten sie die meisten Projekte aus den zwei Koalitionsabkommen umgesetzt. Jetzt stelle sich die Frage, wie die Grünen weitermachen, welche Perspektiven sie den Wähler/innen in Zukunft eröffnen wollen, sagt Sehovic. Sie trafen sich mit dem Belgier Hans Bruyninckx, Leiter der Europäischen Umweltagentur, und zogen andere Experten zu Rate, die ihnen dabei helfen sollen, neue Visionen zu entwickeln. Anders als CSV und LSAP greifen die Grünen diesmal nicht auf eine externe Kommunikationsagentur zurück, um ihre Wahlkampagne zu designen. Sie setzen auf die Inhouse-Kompetenz des Teams um den Koordinator des Parteisekretariats, Pit Bouché, Verwaltungsratspräsident von Caritas Accueil et Solidarité, der bis vor drei Jahren noch als politischer Berater für die CSV gearbeitet hat.

François Bausch, der einzige noch verbleibende nationale Mandatsträger, der schon bei der Partei-
gründung dabei war, hat die Regierungszeit tatsächlich genutzt, um die öffentlichen Verkehrsmittel und das nationale Radwegenetz auszubauen, was jahrzehntelang von seinen Vorgängern verschlafen worden war. Unter den vielen Ratio-nalisten sticht er heraus als derjenige, der den von „Konflikt- und Diskussionskultur“ geprägten Politikstil von vor 30 Jahren noch gelegentlich pflegt. Vielleicht erklärt das auch, weshalb er soviel Macht in der Partei hat – weil ihm einfach keiner widerspricht. Ab Oktober wird Bausch vermutlich, neben seinem früheren Vizepremierminister-Kollegen Dan Kersch von der LSAP, die Kammersitzungen mit unbekümmerten Zwischenrufen beleben, wie er es bereits getan hat, als die Grünen noch in der Opposition waren. In die Regierung wolle er jedenfalls nicht mehr, wie er bereits angekündigt hat. Ein paar Listenstimmen dürfte er den Grünen dennoch bescheren.

Technokraten Die anderen grünen Minister/innen sind ausnahmslos Technokraten. Sie mögen in ihren jeweiligen Bereichen durchaus kompetent sein und längst überfällige Reformen umgesetzt haben, doch ob es ihnen gelingen wird, den Wähler/innen ihren Sachverstand in einer Sprache zu vermitteln, die sie auch verstehen, steht auf einem anderen Blatt. Das gilt in besonderem Maße für Claude Turmes und seine Visionen in der Landesplanung und Energiepolitik. In etwas geringerem Maße auch für die neue Umweltministerin Joëlle Welfring und für die Kultur- und Justizministerin Sam Tanson, die beide mit bodenständigeren Ressorts befasst sind. Wohnungsbauminister Henri Kox hat die Grünen ein Jahr vor den Wahlen mit seinem zweiten Entwurf der Mietrechtsreform in Bedrängnis gebracht. Ob er selbst wusste, was in dem Gesetzentwurf steht, als er es im Oktober dem Regierungsrat vorlegte und der Öffentlichkeit vorstellte, darf zumindest bezweifelt werden.

Djuna Bernard und Meris Sehovic stellten sich am Montag jedenfalls hinter „den Heng“. Mit ihrem technokratischen oder „sachlichen Politikstil“ wollten die Grünen das in der Bevölkerung verbreitete Vorurteil entkräften, Politik sei „en dreckegt Geschäft“, sagt Sehovic. Ihnen gehe es nicht um Entertainment, sondern um kompromissfähiges Arbeiten. Die Gesellschaft habe sich in den vergangenen 40 Jahren verändert, erklärt der studierte Politikwissenschaftler Sehovic. Gesellschaftsstrukturierende Elemente wie Kirche und Gewerkschaften hätten an Bedeutung verloren, die Leute hätten sich immer mehr in ihre Privatsphäre zurückgezogen. Politisches und soziales Engagement würde nur noch punktuell und zeitlich begrenzt stattfinden. Das gelte selbst für Phänomene wie Fridays for Future, Youth for Climate, den Frauenstreik und den Protest gegen den Kohle-Abbau in Lützerath.

Der junge Mann am Rande des Neijoerschpatt würde es vermutlich weniger positiv formulieren. Er würde sagen, die einst wachstumskritische Partei sei zu einem ökologischen Abklatsch der DP geworden, die an die individuelle Verantwortung appelliert, statt Systemkritik zu üben, und die grünes Wachstum und Green Finance fördert, um der Ausbeutung natürlicher und menschlicher Ressourcen einen grünen Anstrich zu verleihen. Die Energiewende sei durch die Multikrisen eher gebremst als beschleunigt worden, weil in Europa die Laufzeiten für Atomkraftwerke verlängert wurden, (sogar in der von den Grünen mitregierten Bundesrepublik Deutschland) Kohle weiter massiv abgebaut wird und längerfristige Verträge mit autoritären Staaten zur Lieferung von klima- und umweltschädlichem Flüssiggas abgeschlossen wurden, wodurch das Erreichen des 1,5-Grad-Klimaziels in noch weitere Ferne gerückt sei. Er würde sagen, dass die Regierung Haushalte „bis in die Mittelschicht hinein“ noch viel stärker bei der energetischen Sanierung ihrer Häuser und der Installation von Solaranlagen auf ihren Dächern unterstützen müsse. Das Mietgesetz sei im Interesse der reichen Eigentümer/innen reformiert worden, weil die meisten von ihnen wählen dürfen, während die armen Mieter/innen oft nicht dazu berechtigt sind. In Klima- und Umweltfragen seien die Grünen überflüssig geworden, weil außer einigen rechtsradikalen Parteien kaum noch jemand an der Notwendigkeit ökologischer Prinzipien zweifelt. Und er würde sagen, der sachliche Politstil der Grünen, die wie bei der Steuerdebatte im Juli sowohl den einen als auch den anderen ein bisschen Recht geben, sei reiner Opportunismus, damit sie sich alle Optionen offen halten können, um an der Macht zu bleiben. Bei den letzten Umfragen im November hatte es für sie nicht so gut ausgesehen. Gegenüber den Wahlen von 2018 hatten sie drei Prozentpunkte und einen Sitz verloren.

Königsmacher Doch vor den Nationalwahlen sind erst einmal Gemeindewahlen. Am 25. Februar wollen die Grünen ihr Rahmenwahlprogramm auf einem Kongress annehmen. 2017 hatten sie vor allem als Königsmacher der CSV von sich reden gemacht: In Esch/Alzette, Schifflingen und Monnerich halfen sie ihr beim politischen Wechsel, in Käerjeng und Bettemburg unterstützten sie sie dabei, ihre Vorherrschaft zu verteidigen. „Hei um Belval, dee warscheinlech wéi keng aner Plaz hei am Land fir eis Vergaangenheet steet, an och fir eis Zukunft. Hei um Belval, dee grad an dem leschte Joer am Häerze vun eisem Kulturjoer 2022 stoung – also fir eis gesellschaftlech a kulturell Diversitéit steet; an och net zu Lescht hei um Belval, wou mer gesinn, wourëms et geet, nämlech d’Striewen no Wëssen, d’Striewen no gesellschaftlechem an technologeschem Fortschrëtt“, begründete Meris Sehovic am Montag die Wahl der Location für den Neijoerschpatt. Seit zwei Jahren wohnt er im Escher Teil von Belval und wird seine Partei als einer von vier Spitzenkandidat/innen in die Gemeindewahlen führen. Neben Differdingen, wo sie seit 2014 den Bürgermeister stellen, ist Esch/Alzette zur zweiten Hochburg der Grünen geworden, die sie unbedingt verteidigen wollen (die Bürgermeisterin der fusionswilligen Majorzgemeinde Wahl, Christiane Thommes-Bach, ist ebenfalls Mitglied der Grünen). Seit 23 Jahren sind sie in Esch ununterbrochen im Schöffenrat, erst (bis 2005 mit der Linken) als Juniorpartner der LSAP, seit 2017 (mit der DP) als Juniorpartner der CSV. Viel getan oder viel zu sagen haben sie in Esch trotzdem nicht, was sich schon alleine daran messen lässt, dass weder das Stadtzentrum, noch Belval über ein sicheres und zusammenhängendes Radwegenetz verfügen. Als Entschädigung hat der grüne Mobilitätsminister François Bausch in Esch die längste (und vermutlich auch teuerste) Fahrradbrücke Europas gebaut. Und ab September will die CFL in Belval fahrerlose Pendelbusse einsetzen.

Luc Laboulle
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