Erziehungsminister Claude Meisch hat sein Konzept zur Sprachförderung im Kindergarten vorgelegt, allerdings ohne sich zuvor mit Sprachforschern zu beraten. Das kommt nicht gut an

Unausgegoren

d'Lëtzebuerger Land du 01.04.2016

„Es geht darum, wie Kinder am besten Sprache lernen, zumal wenn sie mit zwei oder mehreren Sprachen konfrontiert sind. Diese Fragen müssen Sprachwissenschaftler beantworten, nicht Politiker. An der Uni hat sich einiges getan und sie wird eine wichtige Rolle dabei spielen, wenn es darum geht, eine Sprachenpolitik zu definieren.“ So hatte der damals frisch gebackene Erziehungsminister Claude Meisch (DP) vor fast genau zwei Jahren gegenüber dem Land erklärt auf die Frage, wie eine künftige Sprachenpolitik der blau-rot-grünen Koalition aussehen könnte und wer dafür die Konzepte schreiben würde. Das Koalitionsprogramm gibt, außer der offiziellen Dreisprachigkeit für die Regelschule, keine neue Richtung vor.

Und tatsächlich sah es für eine kurze Zeit so aus, als würden Spracherwerbsforscher der Uni Luxemburg mit dem Ministerium zusammenarbeiten, um gemeinsam eine kohärente Sprachförderung von der Crèche bis zur Première zu definieren, die der komplexen Situation im mehrsprachigen Luxemburg gerecht würde. Im Herbst 2014 setzten sich Sprachforscher der Uni Luxemburg, darunter Adelheid Hu, Constanze Weth, Sonja Ugen, Claudia Seele, Claudine Kirsch und andere mit Vertretern des Ministeriums zusammen, um über den Vorschlag des Ministers, Luxemburgisch und Französisch in den Kindergarten stärken zu wollen, zu beraten. Im März 2015 trafen sich Wissenschaftler aus dem In- und Ausland, Beamte aus dem Ministerium, Lehrer und Erzieher sowie Träger von Kindertagesstätten im Rahmen einer Konferenz erneut, um sich über Mehrsprachigkeit und frühkindliche Sprachenförderung auszutauschen. Es lag ein Hauch von Frühling in der Luft, Forscher und Praktiker aus unterschiedlichen Fachdisziplinen und Arbeitsfeldern begegneten einander, um verbindende – und trennende – Linien auszuloten. Nach jahrelangen, sich im Kreise drehenden, weil ideologisch verhärteten Sprachstreitereien ein Novum.

Doch die Aufbruchsstimmung währte kurz. Was genau dazu führte, dass der Kontakt zwischen Uni und Ministerium plötzlich abriss, rätseln Teilnehmer jenes Herbsttreffens heute. „Ich weiß nicht, warum die Arbeitsgruppe nie wieder zusammengerufen wurde“, so Adelheid Hu ratlos. Überliefert ist, dass die Sprachforscher auf jenem Treffen viele kritische Einwände formulierten und einige Skepsis gegenüber Meischs Vorstoß äußerten. Eine Liste mit offenen Fragen hatten sie mitgebracht, etwa welches Verständnis von Mehrsprachigkeit einer Sprach(früh)förderung zugrunde liege, die auf zwei Hauptsprachen – Luxemburgisch und Französisch – setzt. In dem gut zweistündigen Treffen trugen die Forscher ihre Bedenken vor – um dann nie wieder etwas vom Ministerium in der Sache zu hören.

Stattdessen stellen sie ein Jahr später fest, dass der Minister ein Konzept für die sprachliche Frühförderung der Null- bis Vierjährigen vorgelegt hat, dessen Umsetzung bereits beschlossene Sache ist – ohne sie einzubeziehen. „Wir haben das Konzept weder vorher gekannt, noch wurden wir um eine Stellungnahme gebeten“, betont Entwicklungspsychologin Pascale Engel de Abreu, die an der Uni zu Mehrsprachigkeit forscht und bedauert, dass trotz der Wichtigkeit des Themas „kein großer Austausch“ mit „einer ganzen Reihe von Akteuren“ vorgesehen sei. Ihre Hauptkritik: Das Konzept sei in vielen Punkten „nicht wissenschaftlich“ fundiert und lasse wichtige Fragen unbeantwortet.

Hauptautorin, Script-Mitarbeiterin Claudia Seele, hat bis vor kurzem noch an der Uni im Rahmen ihrer Doktorarbeit zur pädagogischen Praxis in mehrsprachigen Kindergärten ethnografisch geforscht, die gewissermaßen nun Pate für das neue Modell stehen. Seele ist zudem Koautorin eines dünnen Bands zur plurilingualen Bildung, den das Erziehungsministerium 2015 veröffentlichte. Eine unabhängige Beratung ist das nicht..

Das Papier sei „hinter verschlossenen Türen“ geschrieben worden, „eine ergebnisoffene, wissenschaftliche Herangehensweise gab es nicht“, empören sich Sprachforscher der Uni. Warum hatte Claude Meisch nicht, wie zuvor angekündigt, zunächst Sprachwissenschaftler aus dem In- und (warum nicht) Ausland sowie Professionelle aus der Praxis konsultiert, um sein Konzept wissenschaftlich abzusichern? Oder wenigstens verschiedene Pilotprojekte auf die Schiene gesetzt? Forscher hätten im gleichen Zug den Vorschlag des Soziologen Fernand Fehlen prüfen können, statt in Deutsch in Luxemburgisch zu alphabetisieren, oder den des Sprachforschers Jean-Jacques Weber, parallel eine Alphabetisierung auf Französisch anzubieten, eine Forderung, die früher von der DP unterstützt wurde, die der Minister aber verworfen hat, obschon ihre Analyse im Koalitionsprogramm steht. Wie wenig Freiraum war, die Sprachenfrage ohne ideologische Scheuklappen zu denken, zeigt sich daran, dass die Brückenfunktion des Luxemburgischen im besagten Sprachenkonzept aufgegriffen wird, obwohl sie empirisch nicht erwiesen ist.

Dasselbe gilt für das Konzept der Mehrsprachigkeit. Zwar gibt es Kindergärten in Luxemburg, die Mehrsprachigkeit fördern, aber ihre Zahl ist klein, bisherige Evaluationen erlauben keine allgemeinen Schlussfolgerungen. So bleibt unklar, wie sich die Mehrsprachigkeit auf die späteren Sprachkompetenzen auswirkt. Sollte bei einem Konzept, das landesweit eingesetzt werden soll, nicht mindestens gesichert sein, dass die angestrebten Ziele auch erreicht werden? Sollten sich Politiker nicht die Zeit nehmen, neue Ansätze gründlich zu studieren und Pilotprojekte, neben ihrer Praktikabilität, auch auf ihre Wirksamkeit zu überprüfen?

Einmal mehr zeigt sich, dass Bildungspolitik hierzulande nicht mit, sondern lieber ohne die Wissenschaft gemacht wird. Wozu eine Uni, wenn es bei Bildungsdebatten selten um pädagogische und wissenschaftliche Erkenntnisse, dafür umso öfter um die Meinungen und Privilegien einiger weniger geht? Dass sich bisher keine Partei zum Sprachenplan geäußert hat, mag an den Osterferien liegen, mit falsch verstandenem Koalitionsfrieden oder Nachwuchsproblemen in fast allen Parteien zu tun haben, denen gestandene Bildungsexperten fehlen. Vielleicht ist das Schweigen aber auch Ergebnis einer politischen Führungskultur, die kontroverse Programme lieber in kleinen Zirkeln austüftelt statt sich fundierten Gegenfragen zu stellen. Sogar wenn sie von solch gesellschaftlicher Tragweite sind, wie eine landesweite Sprachförderung und Sprachenpolitik.

Es gäbe vieles zu hinterfragen. Im Konzeptpapier ist der Stellenwert der Erstsprache nicht deutlich. Sprachforscher betonen, wie wichtig gute Kenntnisse der Muttersprache seien, um andere Sprachen korrekt zu lernen, weil sie helfen, Satzstrukturen, Grammatik und andere Regeln zu erkennen und darauf aufzubauen. Auch die Autoren setzen „gefestigte“ Erstsprachenkenntnisse voraus, ohne jedoch zu sagen, woher sie kommen sollen. Die Erzieher in den Kinderkrippen und -gärten sollen die Herkunftssprache der Kinder „valorisieren“, verantwortlich für das korrekte Erlernen sind jedoch allein die Eltern. Aber was, wenn nicht einmal die Eltern die Sprache richtig beherrschen? Wer gleicht den Nachteil aus und was bedeutet er für die Bildungskarriere eines Kindes?

Laut Konzept sollen Kleinkinder Luxemburgisch und Französisch vor allem „spielerisch“ erlernen. Doch angesichts des schlechten Abschneidens von Kindern bei den Bildungsstudien Pirls und Pisa haben Forscher der Uni Luxemburg wiederholt vor kognitiver Überforderung gewarnt, die mit zu hohen Sprachanforderungen verbunden seien. Wie passt das zusammen, wenn schon in der Kinderkrippe mindestens zwei Sprachen gefördert werden sollen?

Auf den 23 Seiten gibt es zahlreiche schön klingende Formulierungen, deren Umsetzung kniffelig sein dürfte. Ab wann ist ein guter Zeitpunkt, um eine weitere Sprache zu lernen, wer entscheidet das? Wie werden Erzieher auf die anspruchsvolle Sprachförderung vorbereitet? Wie sinnvoll ist es, Französisch im Kindergarten als zweite oder gar dritte Fremdsprache einzuführen, wenn sie danach brachliegt und erst im zweiten Grundschuljahr wieder aufgegriffen wird?

Regierungsberater Manuel Achten plädiert angesichts solcher Einwände dafür, die Sprachenfrage „nicht zu reduktionistisch“ zu sehen, zumal auch anschließende Änderungen im Précoce und Préscolaire denkbar seien. Es sei nicht so, dass Kinder Sprachen am besten nacheinander lernen. Mehrsprachigkeit sei „mehr als das Lernen mehrerer Einzelsprachen“. Doch das Konzept sieht in den Praxisbeispielen selbst solch ein Nacheinander vor. Vor allem beantworten die Autoren nicht, wie aus dem spielerisch erlernten Luxemburgisch und/oder Französisch gefestigte (Fremd-)Sprachenkenntnisse entstehen und wie der Übergang zwischen non-formaler und formaler Bildung, mit ihren sehr unterschiedlichen Lernkulturen und Anforderungen, gestaltet werden kann, ohne dass die Kinder einen „Kulturschock“ erleiden.

Das sind Schlüsselfragen, wenn es darum geht, ein kohärentes Sprachenkonzept zu erstellen, das den komplexen Herausforderungen der Luxemburger Gesellschaft gerecht werden soll. Fragen, die nicht mit der Bemerkung ausgekontert werden dürfen, der Anspruch dürfe „nicht sein, dass in der frühkindlichen non-formalen Bildung quasi schon alle Voraussetzungen hergestellt sein sollen für einen erfolgreichen schulischen Verlauf“. Und deren Antworten einer kleinen Arbeitsgruppe von freigestellten Lehrern und Beamten allein überlassen werden darf. Denn so wichtig und richtig es ist, bei den Kleinen zu beginnen und in der Kinderkrippe mit der Sprachförderung anzusetzen: Wenn es stimmt, was der Minister und seine Beamten sagen, dass nämlich mit dem Sprachenlernen so früh wie möglich begonnen werden muss, um Lerndefizite gar nicht erst entstehen zu lassen – dann gilt im Umkehrschluss auch, dass mit hastig entwickelten, ungeprüften Sprachkonzepten im Kleinkindalter auch vieles kaputt gemacht werden kann.

Ines Kurschat
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