Seit Jahren wird sich um eine Aufwertung von luxemburgischer Literatur bemüht. Auf den schulischen Curricula findet man sie kaum

Vom Renert in die Traufe

Hier lang zur Luxemburgensia
Foto: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land vom 20.01.2023

Kürzlich wurde auf den assises culturelles über die hiesige Literatur und ihre mannigfachen Herausforderungen diskutiert. Ein Umstand, der gestreift wurde, liegt im Mangel an luxemburgischer Literatur auf den nationalen Lehrplänen. Die Situation ist zugegebenermaßen komplex: die lustige, gesprochene Sprache, die einem moselfränkischen Dialekt entstammt, die anderen beiden Amtssprachen, die die Mehrheit der Einwohner/innen nicht perfekt beherrscht, und Autor/innen, die Literatur in drei Sprachen, und mittlerweile auch auf Englisch, verfassen. Dazu ein Unterrichtssystem, das sich über die letzten Jahre zwar stark diversifiziert hat und auf die internationale Klientel sprachlich zugeschnittene Bildungswege hervorgebracht hat, das traditionell aber eigentlich so funktioniert, dass Sprachen getrennt voneinander gedacht und unterrichtet werden. Und alle Absolventen, die es hervorbringt, sollen die Sprachen bitteschön auf hohem Niveau sprechen können.

Da Luxemburger Literatur sich demnach für mindestens drei Schulfächer, dem Deutschen, Französischen und Luxemburgischen, eignet, erweist sich ein kleiner Exkurs in die Historie der horaires et programmes, also der Lehrpläne, als erhellend: Zwischen Goethe, Schiller, Frisch, Voltaire, Racine und Giraudoux sucht man vergeblich nach einem festen Platz für luxemburgische Autoren. In der Stunde Luxemburgisch, die auf den Septima-Klassen bis vor Kurzem stiefmütterlich von Deutschlehrern gehalten wurde, waren in den 1960-er-Jahren die „extraits d’auteurs luxembourgeois au choix du professeur“. Anfang der 70er-Jahre kam ein Band mit luxemburgischen Gedichten und Prosatexten auf den Plan, und im Französischen stand „littérature luxembourgeoise d’expression française“ auf dem Programm; vielleicht war dies auch einer Anthologie geschuldet, die zu diesem Zeitpunkt Texte hiesiger Autoren, die auf Französisch schrieben, versammelte. Mit der Zeit verschwand dieser Programmpunkt, und auf den deutschen Lehrplänen findet man eine solche Spezifizierung, die Luxemburger Autoren einschließen würde, nirgends. Im Schuljahr 1989 erscheint Michel Rodanges Renert zum ersten Mal im Lehrplan für Luxemburgisch, „extraits narratifs“ sollen auf Septima gelehrt und besprochen werden, gemeinsam mit einer „discussion sur la vie quotidienne des luxembourgeois“. Es werden auch Werke von Henri Rinnen (Vu Wëllef, Afen, Quetschen a Kanner) oder Fernand Barnich und René Kartheiser als Kursivlektüre vorgeschlagen. Und auch im Jahr 2000 ging es noch darum, „Land a Leit“ mit einem gleichnamigen Buch kennenzulernen.

Für Jeanne Glesener, Professorin für luxemburgische Literatur an der Uni.lu, liegt darin eine der Hauptschwierigkeiten der Literaturvermittlung im Schulkontext: „Luxemburgische Literatur wurde historisch oft dazu genutzt, das Land zu erklären.“ Dadurch sei der Eindruck entstanden, es würde sich in den Texten, die hier verfasst werden, nicht mit dem Rest der Welt auseinandergesetzt. Diese Vorurteile, auch was die Qualität anginge, hielten sich weiter, das beobachte sie auch bei Studenten. „Man kann keine Literatur vermitteln, mit der man nicht selbst in Berührung gekommen ist.“ Sie bedauert den Mangel an Systematik, Texte in den Lehrplan aufzunehmen.

Im Fondamental werden keine Materialien vorgeschlagen, und die Lehrkräfte können sich je nach Interesse und Motivation nach luxemburgischen Kinderbüchern umschauen, die sie nutzen wollen. Im Sekundarunterricht ist die Situation anders: Die 60 Programmkommissionen der jeweiligen Fächer versammeln sich regelmäßig und entscheiden, welche Materialien es auf die Listen der Kursivlektüre schaffen. Es handelt sich dabei um Empfehlungen (nur auf den Abschlussklassen gibt es vorgeschriebene Lektüren). Doch diese Listen, die auf demokratische Weise entstehen, ändern sich relativ wenig. Der Präsident der Programmkommission, Marc Michely, stellt klar, dass es sich um ein „konsultatives Gremium“ handle, das für Kohärenz im Programm sorgen solle. Das letzte Wort liege allerdings bei Bildungsminister Claude Meisch (DP). „Berührungsängste“ mit luxemburgischer Literatur gebe es in den Kommissionen keine. Trotzdem wird man den Eindruck einer gewissen Stasis nicht los. Das Altbewährte, das universelle Ideale in sich trägt und seit Jahren funktioniert, hat sich verselbstständigt. Das einzige luxemburgische Werk, das im Général auf der Abschlussklasse unterrichtet wird, ist der deutschsprachige Roman Neubrasilien von Guy Helminger über Migration.

„Ob luxemburgische Literatur im Unterricht behandelt wird, steht und fällt mit dem Enthusiasmus der Lehrkraft“, sagt Charles Meder, Deutschlehrer und Autor. Manche Kolleg/innen täten sich schwer, die Qualität der hiesigen Werke einzuschätzen und tendierten so zu dem, was sie kennen – außerdem seien die Programme auch so schon relativ vollgepackt. Aber es gebe unter den Lehrkräften durchaus auch eine gewisse Geringschätzung gegenüber luxemburgischen Autoren, die auf Deutsch und Französisch schreiben.

Das Centre national de littérature (CNL) publiziert seit 2016 gemeinsam mit dem Script didaktisches Material zu luxemburgischen Texten, zur Zeit gibt es 16 Arbeitsmappen. Denn auch das wird als einer der Gründe angegeben, warum sich Lehrpersonal davor scheut, autochthone Texte einzusetzen: Zu Werken von Nora Wagener oder Elise Schmit gibt es kein oder wenig Material – im Gegensatz zu Klassikern wie Friedrich Dürrenmatt. Wenn deutsche Literatur als eine Literatur aus Deutschland, der Schweiz und Österreich verstanden wird, und die langue de Molière von Autoren wie Camus und Racine personifiziert ist, wird nachvollziehbar, wie schwer die hiesige Literatur auf Deutsch und Französisch es hat, sich irgendwo zu situieren. Hinzu kommt, dass sie nicht auf etliche Jahrhunderte Literaturgeschichte zurückblicken kann. Wird das Luxemburgensia-Label nun als ein Makel verstanden, der diesen Autor/innen anhaftet? Manche Autor/innen beklagten sich jedenfalls bei den assises, ihre Romane lägen in Buchläden neben Kochbüchern aus.

Seit der Rentrée 2021 wird nun nicht mehr auf der Septima, sondern auf der Quatrième an allen Sekundarschulen das Fach Luxemburgisch unterrichtet. Das liegt auch daran, dass man im Ministerium die Einschätzung teilte, ein interessanteres Programm samt literarischen Texten für Jugendliche in diesem Alter zusammenstellen zu können. Und dass man sich bewusst wurde, dass der Renert für das erste Lyzeumjahr zu komplex sei und den 12-Jährigen die Lust auf andere, ihrer Lebensrealität angepasstere Texte nehmen könnte. Schaut man sich den Reader für die Quatrième an, wurde sich Mühe gegeben, Gegenwartsliteratur einzubeziehen, um die Jugendlichen zu motivieren, sich weiter mit luxemburgischer Literatur zu beschäftigen: Neben Claudine Muno oder Serge Tonnar finden sich darin Texte von Tullio Forgiarini und Samuel Hamen. Sie sind allesamt in luxemburgischer Sprache. „Zwischen der Art und Weise, wie man Luxemburger Literatur betrachtet, nämlich vermehrt als mehrsprachiges Ganzes, und wie sie unterrichtet werden kann, gibt es eine Diskrepanz“, sagt Sébastien Thiltges, Postdoktorant und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Luxemburg. Im Lycée Michel Rodange läuft seit September ein Pilotprojekt, das es Schüler/innen der literarischen Sektion erlaubt, Luxemburgisch als vierte Sprache hinzuzuwählen. Das Programm beinhaltet ebenfalls Gegenwartsliteratur von Samuel Hamen, Cathy Clement, Pol Greisch oder Claudine Muno in luxemburgischer Sprache. Bisher haben sich allerdings exakt null Schüler hierfür angemeldet. Immerhin stehen jenen, die sich für eine literarische Spezialisierung in Form der Sektion A im Classique entscheiden – es werden bedauerlicherweise immer weniger, kaum genug, um eine Klasse zu füllen (d’Land, 13.05.2022) –, auch die Welten eines Italo Calvino oder Jorge Louis Borges offen, sollten sie sich für Italienisch oder Spanisch als vierte Sprache entscheiden.

Die Diskussion lässt sich nicht führen, ohne sich über den Begriff der Kanonisierung zu verständigen. „Wenn ich etwas auf den Lehrplan stelle, entscheide ich mich gegen etwas anderes“, sagt Sébastien Thiltges. Deshalb sei es wichtig, den Kanon kritisch zu unterrichten, das heißt die Kriterien, die dazu geführt haben, dass etwas kanonisiert wurde, zeitgleich zu reflektieren. Auch wenn es den einen luxemburgischen Kanon (noch) nicht gibt, stellt sich die Frage, wo eine nationale Literatur gelesen werden soll, wenn nicht in der entsprechenden Schule. Dient sie nur als Exportprodukt für die Frankfurter Buchmesse? „In anderen Ländern wird die eigene Literatur unterrichtet. Es ist schon bizarr, dass wir das hier nicht tun“, beklagt Nathalie Jacoby, Direktorin des CNL. In Belgien, einem ebenfalls vergleichsweise kleinen Land, unterstrich die Commission des lettres 2014 die „nécessité que la Fédération Wallonie-Bruxelles intervienne plus activement en faveur de la prise en compte de la littérature belge dans l’enseignement“. Es ginge dabei auch um die Selbstwahrnehmung der frankophonen Belgier/innen.

Sarah Pepin
© 2023 d’Lëtzebuerger Land