Jean-Claude Juncker (CSV)

Der Spitzenkandidat

d'Lëtzebuerger Land vom 28.05.2009

Auf den Vorwurf, er wisse keinen Ausweg aus der tiefsten Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten, antwortet Premier Jean-Claude Juncker: „Mais je le redis devant vous, je ne le sais pas.“ Wenn andere Kandidaten wissen, wie es weitergeht, rät er auf fast jeder Wahlversammlung und in ei­nem Interview mit der Illustrierten Paperjam: „Alors, votez pour eux. Si vous votez pour moi, vous votez pour le parti de l’ignorance, parce que je n’ai pas de réponse à tous les problèmes.“

Mit so viel bekennender Ignoranz straft der Spitzenkandidat der CSV, deren Markenzeichen „Déi mam Juncker“ ist, zuerst seine eigene Partei Lügen. Denn auf ihren Wahlplakaten verspricht sie noch immer „de séchere Wee“. Mit seinem Eingeständnis, dass er ihn nicht kennt, dass die Partei des sicheren Wegs in Wirklichkeit die „Partei der Unwissenheit“ ist, scheint Juncker rücksichtslos das wertvollste Kapital einer konservativen Partei zu vergeuden: die innere Sicherheit, die soziale Absicherung, die Versicherung, alles Unverhoffte ausschließen zu können.

Doch in Wirklichkeit ist Juncker, nicht zum ersten Mal, seiner Partei wieder einen Schritt voraus. Denn hinter dem beinahe sokratischen Bekenntnis zur eigenen Ignoranz will Juncker nicht nur ein wenig der Philosophenprinz sein, den zu geben er jedes Mal versucht ist, wenn er nicht gerade auf antiintellek­tuelle Art volkstümlich sein will. Wenn er sich mit seiner Unwissenheit eine Blöße gibt, dann nicht um sie, sondern um seine Ehrlichkeit zur Schau zu stellen. Mit der Bescheidenheitsfloskel seiner Unwissenheit will er sich von all den anderen Kandidaten unterscheiden, die das Blaue vom Himmel versprächen.

So kann er auf Distanz zur Politik als angebliches Gauklergeschäft gehen und sich damit selbst als Antipolitiker darstellen. Nicht auf platte, populistische Art und Weise wie die ADR oder zumindest nur über einen Umweg, sondern eher so, wie der Philosoph Alain Badiou die Antiphilosophie charakterisiert: als Kritik an der Sprache der anderen, der eine eigene, radikal neue Praxis entgegengesetzt werden soll; als biographischer Trieb mit einem selbstgefälligen Hang zur Beichte und als feste Überzeugung, einsam einen rettenden Bruch mit einer langen Tradition vorzunehmen.

Mit dem Bekenntnis zu seiner Unwissenheit übt Juncker selbstverständlich auch seine Lieblingsstrategie, Kritiken der Opposition ins Leere laufen zu lassen: Mehr noch als jede Niederlage zu einem von langer Hand vorbereiteten Sieg zu verklären, nimmt er jede Kritik der Opposition vorweg, indem er sie als erster äußert. Wenn er als erster eingesteht, dass die Wohnungsbaupolitik ein Fiasko ist, die Arbeitslosigkeit eine Katastrophe wird und er selbst ratlos ist, ist die Opposition entwaffnet. Besten- oder schlimmstenfalls ist sie sogar überflüssig, wenn der Regierungschef ihren Part mit übernimmt, Politik macht und sie gleichzeitig kritisiert.

Da fügt es sich gut, dass Juncker ohnehin am liebsten immer etwas Anderes sein will, als er gerade ist: Er ist Christlichsozialer und will eigentlich Sozialist sein, je nach Gesellschaft auch „der letzte Kommunist“ und in den USA Demokrat. Im Schatten der Kathedrale kokettiert der CSV-Mandatär ab und zu sogar mit dem Antiklerikalismus, und die bekennende Ratlosigkeit eines Politikers, der in der Schlussprozession mitmarschiert, hat eine unübersehbare Parallele zur Agnostik, dem Bekenntnis denkfauler Atheis­ten.Hinter diesen Rollenspielen verbirgt sich nicht nur Woody Allens anerkennungsbedürftiges Chamäleon Leonard Zelig, sondern auch der Politiker, der seine Rolle sprengt, um gleichzeitig Antipolitiker zu sein. Es ist die provokative Geste des Stierkämpfers, der sich todesmutig dem Stier entgegenstellt: Kurz vor den Wahlen seine eigene Ratlosigkeit einzugestehen, wäre für andere Kan­didaten politischer Selbstmord. Der liberale Spitzenkandidat Claude Meisch könnte sich nach einem solchen Eingeständnis vorzeitig aus dem Wahlkampf zurückziehen.

So wie es sich die Sozialisten nie erlauben könnten, eine Wahlkampfveranstaltung nach dem ironischen Vorbild von „Juncker meets Marx“ „LSAP meets Marx“ zu nennen. Weshalb Juncker wiederum im Fernsehduell vor einer Woche Meisch mit väterlichem Lob überschütten konnte, um zu zeigen, dass Meisch als Duellant für ihn gar nicht satisfaktionsfähig ist. So als spielte dieser in der Jugendmannschaft statt in der Nationalliga.

Jede Bescheidenheitsfloskel ist eine vermummte Hybris, und so will Juncker mit dem öffentlichen Bekenntnis zu seiner Ratlosigkeit den Beweis erbringen, dass seine Popularität so weit jenseits aller Norm liegt, dass ihr nicht einmal etwas anhaben kann, was für andere Politiker einem Selbstmord gleichkäme. Bei aller Unwissenheit weiß er doch, dass Tageblatt, Luxemburger Wort, TNS Ilres und IfD Allensbach ein einträgliches Business of Fame unterhalten, um seine Popularität Anfang Mai auf nordkoreanische 83 beziehungsweise 91 Prozent zu beziffern.

Spätestens diese Prozentsätze zeigen, dass Jean-Claude Juncker nicht nur ein Politiker und Kandidat ist, sondern auch eine politische Funktion im CSV-Staat zu erfüllen hat, die größer ist als er selbst, und die er bisher sehr erfolgreich erfüllte. Er ist der erste Regierungschef der Nachkriegsgeneration, der erste, der sein Amt nach dem Ende des Kalten Kriegs und nach dem Durchmarsch der Neoliberalen antrat. Damals versprach er als junger Erlöser, der jugendlicher als alle anderen Staatsminister der Geschichte sein wollte, in euphorischer Aufbruchstimmung zugleich die Verjüngung und Enttabuisierung der Politik und seiner Partei, versprach Streitkultur statt „Konsensualismus“, war in Zeiten hohen Wirtschaftswachstums Garant des Sozialstaats bis zur Romantisierung des Arbeitermi­lieus im Schatten der Hochöfen, deregulierte sanft das Arbeitsrecht und das Bankgeheimnis und wurde zur Beruhigung nicht müde, gleichzeitig lautstärker als alle anderen gegen die Deregulierung zu wettern.

Aus dem jugendlichen Erlöser wurde zwar rasch der erfahrene Verwalter der Staatsgeschäfte. Dafür verkörperte Juncker dann auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn, wie Ga­briel Lippmann, Hugo Gernsback oder Edward Steichen, den Mythos des großen Sohns eines kleinen Landes, der in der großen Welt Anerkennung in den Augen der Großen dieser Welt gefunden hatte, der Vermittlerheld von Dublin und Wunschkandidat für jedes Spitzenamt der Europäischen Union war.

Doch in den letzten Monaten ist alles schief gelaufen. Zuerst kam der Prozess zur Ratifizierung des Vertrags von Lissabon ins Stocken, und seither ­schwand Junckers Aussicht, erster ständiger Vorsitzender des Europäi­schen Ministerrats zur werden. Dann gerieten die Volkswirtschaft und die Staatsfinanzen in die Krise, welche die Ratlosigkeit der Regierung und des Regierungschefs vorführten. Schließlich verrieten die angeblichen Pariser und Berliner Freunde den Premier, übergossen das Land als Steueroase mit Schimpf und Schande und trieben es so in die außenpolitische Isolation.

Das alles sieht nach einem Scherbenhaufen der persönlichen Ambitio­nen, der Wirtschafts- und der Außenpolitik aus. Und nach der Notwendigkeit, für die kommende Legislaturperiode die persönlichen Am­bitionen, die Wirtschafts- und die Außenpolitik zu ändern. So dass der Spitzenkandidat der CSV, der vor einem Jahr noch nicht sicher war, sich überhaupt noch einmal dem Wahlkampf stellen zu müssen, sich neu erfinden muss, um unter veränderten Bedingungen seine politische Funktion weiter erfüllen zu können, um zu verhindern, dass die wirtschaftliche und diplomatische Krise zu einer Legitimationskrise des CSV-Staats führt. Es heißt also, unter Wahrung des gesellschaftlichen Zusammenhalts die Wirtschaftspolitik und den Sozialstaat nach den Wah­len an die Zeiten niedrigeren Wachstums und niedriger Staatseinnahmen, wenn nicht an ein neues „Regulationsregime“ anzupassen, wie es der Wirtschaftswissenschaftler Michel Aglietta nennen würde.So drückt der mit 54 Jahren schon etwas müde Samurai mit seinem öffentlichen Bekenntnis, dass er nicht weiß, wie es weitergeht, auch das ­Reset-Knöpfchen, um vielleicht endgültig der nationalen Politik erhalten zu bleiben, gar dem ungeduldigen Thronprinz Luc Frieden das Finanzministerium zu überlassen und noch einmal als Antipolitiker das zu tun, was er als Traumwandler zwischen den Christlichsozialen und einem christlichen Sozialismus am besten kann: eine konservative Erneuerung unter Erhalt der sozia­len Kohäsion, früher auch „sozia­ler Friede“ genannt.  

Romain Hilgert
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