Männer haben ein deutlich höheres Risiko, bei ihrer Arbeit zu verunglücken. Doch der Geschlechteraspekt spielt bei der Unfallverhütung kaum eine Rolle

Tarzan-Syndrom

d'Lëtzebuerger Land vom 13.03.2015

Glück im Unglück hatte am Montagmorgen ein Arbeiter in Grevenmacher. Der Mann rutschte auf einer Leiter aus und fiel drei Meter in die Tiefe. Weil unklar war, wie schwer seine Verletzungen waren, wurde er per Rettungshubschrauber ins Krankenhaus geflogen. Die Polizei gab etwas später Entwarnung: Der Fall habe schlimmer ausgesehen, als er tatsächlich war. Für einen anderen Arbeiter verlief ein Einsatz am Donnerstag entlang der neuen Zugstrecke bei Itzig weniger glimpflich: Er wurde mit schweren Verletzungen in die Klinik geflogen.

Von 20 766 offiziell anerkannten Unglücken am Arbeitsplatz im Jahr 2013 waren 22 tödlich für die Betroffenen. Ein großer Teil davon verunglückte auf dem Weg zu Arbeit. „Der Arbeitsweg ist leider ein Bereich, den wir nicht regulieren können“, sagt Marco Boly, neuer Direktor der Inspection de travail et des mines. Die Prüfer der ITM werden bei jedem Arbeitsunfall von der Polizei verständigt – von der Schwere und den Umstanden eines Unfalls hängt es ab, ob sie den Fall dann selbst vor Ort überprüfen. Fallen Sicherheitslücken auf, weil beispielsweise versäumt wurde, eine Grube vorschriftsgemäß abzusichern oder ein Gerüst sicher aufzurichten, wird der Arbeitgeber ermahnt, die Mängel umgehend zu beheben. Wie oft derartige Versäumnisse von Seiten der Arbeitgeber zu Unfällen führen, weiß Boly nicht. Gewerkschaften aber fordern alle Jahre wieder mehr unangemeldete Kontrollen auf Baustellen und in Betrieben, nicht nur um Schwarzarbeit und Lohndumping zu detektieren, sondern auch um mangelhafte Sicherheitsvorkehrungen frühzeitig zu beheben.

Die Statistiken zu Arbeitsunfällen erhebt die Association d’assurance accidents (AAA). Neueste Zahlen für das vergangene Jahr liegen noch nicht vor. Doch es ist möglich, dass die Unglücksserie auf Luxemburgs Straßen sich auch auf die Statistik der Arbeitsunfälle niederschlägt. „Da reicht ein Unglück, etwa ein Zugunglück, und dann schnellt die Zahl nach oben“, erklärt Boly die mitunter starken Schwankungen bei tödlich verlaufenen Arbeits- und Wegeunfällen in den vergangenen Jahren.

Insgesamt aber ist die Entwicklung in Luxemburg ermutigend. Zwar gab es im Vergleich zum Vorjahr 2013 rund 500 mehr offiziell anerkannte Arbeitsunfälle. „Die Zahl der Beschäftigten stieg im selben Zeitraum um fast 4 000. Richtig ist also, dass die Zahl der Arbeitsunfälle weiter zurückgeht“, betont Paul Meyers von der AAA. Das sind doppelt gute Nachrichten. Vor rund drei Jahren hatte der damalige ITM-Direktor Paul Weber das EU-weite Leitmotiv der Null Arbeitsunfälle als Zielgröße auch für Luxemburg ausgegeben. Im Jahr zuvor, 2011, waren die Arbeitsunfälle insgesamt um 22 Prozent gesunken, ein positiver Trend, der jedoch unter dem damaligen EU-Richtwert von 25 Prozent lag.

Das ist nicht der einzige Verbesserungsbedarf. Viel ist es nicht, was die nationalen Unfallstatistiken bislang über die Hintergründe der Arbeitsunfälle preisgeben. Wie in anderen europäischen Ländern geschehen auch hierzulande die meisten Unfälle am Bau und in der Industrie. Rund 20 Prozent aller Arbeitsunfälle wurden 2013 auf einem Site industriel registriert, 21 Prozent auf einer Baustelle, und fast jeder dritte gemeldete Unfall passierte im öffentlichen Raum, auf dem Arbeitsweg mit dem Auto, Bus oder der Bahn. Das Gros der Unfälle betrifft Arbeitnehmer, die zwischen 25 und 44 Jahre alt sind; das Risiko, sich bei der Arbeit zu verletzen ist wegen der schlechten Witterung im Winter größer – und die Betroffenen sind in der Mehrzahl männlich. Männer haben ein deutlich höheres Risiko, am Arbeitsplatz zu verunglücken als Frauen.

„Das kommt, weil Männer in den entsprechenden Branchen die riskanteren Tätigkeiten ausrichten“, ist sich Meyers von der AAA sicher. Tatsächlich ist der Bausektor eine fast völlig von Männern dominierte Branche. Marco Boly von der ITM ist überzeugt, dass wichtige Sicherheitsvorkehrungen in der Regel eingehalten werden, wie der Schutzhelm oder die Schutzschuhe. Doch ein kleiner – nicht-repräsentativer – Spaziergang durch das Bahnhofsviertel der Hauptstadt vermittelt ein anderes Bild: Männer balancieren auf Gerüsten ohne Helm, Arbeiter tragen auf einen Spielplatz mit einem Presslufthammer alten Beton ab. Ohne Lärmschutz.

Ausländische Studien zeigen, dass neben eklatanten Versäumnissen mancher Arbeitgeber, dem Outsourcing an Sub-Unternehmen, mehr Zeitdruck und Stress zusätzlich geschlechtsspezifische Einstellungen bei Häufigkeit, Intensität und Art der Arbeitsunfälle eine Rolle spielen können. Anders ausgedrückt: Weil Männer (sich) zum „starken Geschlecht“ zählen, kümmern sie sich weniger um ihre eigene Gesundheit, sie legen häufiger ein riskantes Verhalten an den Tag als Frauen, obschon sie es besser wissen könnten. Vermeintlich stark, denn für ihre eigene Laxheit im Umgang mit Sicherheitsvorkehrungen zahlen manche einen hohen Preis.

Eine Studie der Universität Aalborg in Dänemark zu Masculinity and lifting accidents among Danish ambulance personal aus dem vergangenen Jahr kam zum Ergebnis, dass männliche Rettungssanitäter anders als ihre Kolleginnen in Dänemark öfters auf Hilfen verzichten, selbst wenn dies bedeutete, dass sie schwerer tragen mussten. Verletzungen durch falsches Heben und Tragen zählen im Gesundheitssektor zu den häufigsten Ursachen für unfallbedingte Ausfälle. Nicht nur, dass Männer vorhandene assistierende Hebevorrichtungen seltener benutzten, sie baten weniger oft um Unterstützung durch ihre Kollegen. Sanitäterinnen dagegen hatten weniger Scheu, um Hilfe zu fragen – und forderten diese von ihren Kollegen mitunter sogar mit Hinweis auf deren vermuttete größere Kraft ein. Teil des Verletzungsproblems sei wahrscheinlich, so die Schlussfolgerung der Wissenschaftler, die auf Befragungen des Personals sowie Beobachtungen des Arbeitsalltags basieren, das „Tarzan-Syndrom“ unter dem dänischen Rettungspersonal. Oder Jane-Syndrom, je nach Perspektive.

Doch während in anderen EU-Mitgliedstaaten Institute und Universitäten, oft im Auftrag staatlicher Stellen oder von Gewerkschaften, diese Hintergründe versuchen besser zu verstehen, um geeignete Gegenstrategien zu entwickeln, scheint das in Luxemburg wenig Thema zu sein. Die Unfallstatistiken der Versicherungen geben nicht Auskunft über das Geschlecht der Verunglückten. „Heute machen wir das nicht mehr“, sagt Paul Meyers.

Kein Wunder, dass mögliche geschlechtsspezifische Unterschiede nicht in den Blickfeld geraten. In den Unfallstatistiken des Europäischen Statistikamtes Eurostat sind die Daten der Mitgliedstaaten neben Alter zusätzlich nach Geschlecht aufgeschlüsselt. Weil Eurostat als Arbeitsunfall nur solche Vorfälle registriert, die mehr als drei Tage verletzungsbedingten Arbeitsausfall nach sich ziehen, liegt die Gesamtzahl der Arbeitsunfälle in Luxemburg deutlich niedriger. Auffällig ist: Frauen verunglücken mit nur 921 von insgesamt 6 299 von Eurostat registrierten Fällen deutlich seltener als Männer. Sogar wenn man die niedrigere Erwerbstätigkeit von Frauen berücksichtigt, bleibt der Unterschied markant. Von tödlich verlaufenden Arbeitsunfällen blieben Frauen in Luxemburg zwischen 2008 und 2012 völlig verschont: Alle tödlichen Arbeitsunfälle betrafen ausschließlich Männer. In der nationalen Statistik liegt der Anteil an den verunfallten Beschäftigten bei 5,69 Prozent, ohne Wegeunfälle sind es 4,58. Ein Vergleich mit anderen EU-Ländern ist wegen der oben genannten unterschiedlichen Unfalldefinition nicht möglich. Auch weitere Angaben fehlen beim Luxemburger Euro-Stat-Eintrag, etwa zur Schwere eines Arbeitsunfalls.

„Ich weiß nicht, ob bei Arbeitsunfällen geschlechtsspezifische Faktoren eine Rolle spielen“, sagt Jean-Luc De Matteis vom OGBL. Ausschließen will es der Sicherheitsbeauftragte nicht. „Das Problem ist, dass wir dazu kaum Untersuchungen haben“, bedauert De Matteis. Es wäre „nützlich, wenn wir mehr über die Hintergründe der Unfälle wüssten“, räumt de Matteis ein. Der Sicherheitsexperte für den Bau weist aber insbesondere auf die Verantwortung der Arbeitgeber hin: Immer wieder können sich Arbeiter nicht genügend schützen, weil ihnen die nötige Ausrüstung oder das Wissen fehlen. Dabei geht es nicht nur um den berühmten Helm: Lastenzüge und andere technische Vorrichtungen können das Heben erleichtern. Rückenschmerzen seien gerade auch unter Bauarbeitern weit verbreitet „Je älter die Arbeiter werden, umso schlimmer werden die Beschwerden“, weiß De Matteis.

Da macht es Sinn, passgenaue Sicherheits- und Gesundheitstrainings zu konzipieren, die, wo geboten, geschlechtsspezifische Faktoren berücksichtigen. Entsprechende Fortbildungen gibt es am Centre de formation syndicale (CFSL). Seit 2009, mit der Einführung des Einheitsstatuts für Arbeiter und Angestellte, sind derlei Fortbildungen beim Fortbildungszentrum in Merl zusammengeführt. Dort werden jedes Jahr hunderte Sicherheitsbeauftragte und Arbeitnehmer in Arbeitsschutz und Sicherheit ausgebildet. Auch psycho-soziale Faktoren, wie Mobbing, Stress, Depressionen, Gewalt und sexuelle Belästigung, oder Abhängigkeiten wie Alkoholmissbrauch, werden thematisiert. Doch wie sich überholte Rollenbilder subtil auf die Gesundheit auswirken, ist, wie es scheint, weniger Thema. Am 6. März nahm Guylaine Jordan-Melle, CFSL-Ausbilderin, an der Konferenz Frauen, Gesundheit und Arbeit des Europäischen Gewerkschaftsinstituts Etui teil. Dort diskutierten Expertinnen und Experten aus ganz Europa über frauen- und männerspezifische Ansätze beim Arbeitsschutz. Jordan-Melle erhofft sich „Impulse für Luxemburg“.

Andere EU-Länder organisieren seit vielen Jahren ihre Fortbildungen und Schutzstrategien entlang von Gender- und Diversity-Ansätzen. Dabei geht es um mehr, als um Ethno-Folklore oder simple Übersetzungsdienste für unterschiedliche Nationalitäten. In Österreich hat die Arbeitsinspektion das Gender-Mainstreaming (GM) in ihren Arbeitsschutz eingebaut: In einem Strategiepapier heißt es: „Die Arbeitsinspektion nimmt auf unterschiedliche Arbeitssituationen von weiblichen und männlichen Beschäftigten Bedacht, berücksichtigt geschlechtsspezifische Wirkungen von Arbeitsschutzmaßnahmen und bezieht diese in ihre Tätigkeit mit ein.“ So absolvieren Führungskräfte und Multiplikatoren der Arbeitsinspektorate spezielle GM-Implementierungsseminare. Da geht es nicht nur um arbeitsrechtliche Mutterschutz-Bestimmungen, sondern beispielsweise auch um Maßnahmen zur Unfallverhütung für Arbeitnehmer im Bau.

Zu den Missionen der ITM zählt unter anderem, den Arbeitsschutz zu verbessern, sowie Entwicklungen in der Arbeitswelt zu analysieren und die Strategien diesen anzupassen. Eine Reform ist im Gange. Dann bekommen vielleicht auch hierzulande andere Aspekte des Arbeitsschutzes mehr Aufmerksamkeit. Ende Februar sorgte der neue Chef der britischen Eisenbahngesellschaft, Mark Carne, mit einem Aufruf für Schlagzeilen: Die „Macho-Kultur“ müsse gebrochen werden, forderte er seine Angestellten auf. Carne stellte fest: Obwohl sich die Passagiersicherheit ständig verbessere, hinke die Eisenbahnindustrie in den Sicherheitsbemühungen anderer Branchen in Großbritannien – Barne war zuvor in der Ölindustrie tätig –hinterher. Die Reaktion der Gewerkschaften folgte prompt: Die kritische Sicherheitslage sei vor allem Folge der Personalkürzungen. Auf die Problematik einer Macho-Kultur bei der Bahn gingen sie mit keinem Wort ein.

Ines Kurschat
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