Großbritannien

Der Ausstieg der Linken

d'Lëtzebuerger Land vom 18.01.2019

Es ist ein Paradoxon dieser Tage. Die politische Rechte positioniert sich gegen die Europäische Union. Daraus sollte sich im Umkehrschluss ableiten lassen, dass sich die Linke pro-europäisch gibt. Doch dem ist nicht so. Die Linke folgt beinahe blind dem europafeindlichen Kurs, so wie es Jeremy Corbyn, Chef der britischen Labour-Partei, diese Woche bei der Abstimmung über den Brexit vorgab. In den Tagen zuvor hatte der Oppositionsführer noch eine programmatische Rede zum Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU angekündigt. Ein Schritt, der lange überfällig war, angesichts der Unklarheit, die sowohl in London als auch in Brüssel über die Haltung der Labour-Partei zum Brexit herrscht. Immerhin stimmten am vergangenen Dienstag drei Labour-Abgeordnete für den Deal, den Premierministerin Theresa May mit der EU ausgehandelt hatte. 248 Abgeordnete waren dagegen. Doch was Labour eigentlich will, das konnte auch die Rede Corbyns nicht erklären. Sie verhallte. Die Zollunion soll bleiben und noch ein oder zwei andere Zugeständnisse an Brüssel. Doch raus aus der Union möchte Labour. Sagt deren Vorsitzender.

Seit der Wahl Jeremy Corbyns zum Chef von Labour erlebte die Arbeiterpartei einen ungeahnten Aufschwung. Sie verdreifachte nahezu ihre Mitgliederzahl. Etwa 540 000 Briten bekennen sich heute zu der linken Partei und machen sie zur größten politischen Vereinigung Westeuropas. Hinzugekommen sind vor allen Dingen junge Menschen, die Corbyn zwar verehren, aber in der Europa-Frage gänzlich anders denken. Fast drei Viertel der Labour-Mitglieder möchten mittels eines zweiten Referendums das Ergebnis der Volksabstimmung aus dem Juni 2016 zu Fall bringen. Diese Forderung vertritt die Parteibasis immer vehementer gegenüber den Partei-Oberen.

Doch Corbyn ist ein alter Gegner der EU. Auf dem Parteitag im September 2018 gelang ihm zwar in letzter Minute noch einen Kompromiss zwischen den gegensätzlichen Flügeln in der Partei aushandeln: Wenn der Brexit keine Mehrheit im Parlament findet, müsse es zu Neuwahlen kommen. Labour werde dann eine bessere Lösung für den Brexit finden. Nur falls das Unterhaus sich der Selbstauflösung verweigere, werde man über ein zweites Referendum nachdenken. Dieser Logik folgend muss Labour nun liefern. Der Deal wurde abgelehnt, der Misstrauensantrag gegen May scheiterte am Mittwoch, was schnelle Neuwahlen unmöglich macht. Neuverhandlungen zwischen London und Brüssel sind sehr unwahrscheinlich.

Und dennoch: Labour liefert nicht. Das liegt in erster Linie an der politischen Genese von Jeremy Corbyn. Er hat sich sein Weltbild in den 1960-er- und 1970-er-Jahren erworben. Als harter Linker ist für ihn die EU ein „Europa der Konzernbosse“. Das Mantra der harten Linken. Corbyn selbst sieht sich als Inter-nationalisten, dessen politisches Interesse sich aus der Empörung über wichtige Konstanten in der US-Außenpolitik speist. Seien es das Bündnis mit Israel, die jahrzehntelange Feindseligkeit gegenüber Kuba, aber auch die Unterstützung für die Militärdiktaturen Südamerikas zu Zeiten des Kalten Kriegs. Europa spielte in seiner politischen Wahrnehmung keine besondere Rolle. Nach seinem Einzug ins britische Unterhaus lehnte er jede Vertiefung hin zur heutigen EU – die Verträge von Maastricht, Amsterdam, Nizza, Lissabon – ab. Von der eigenen Parteibasis gedrängt, sprach er sich zwar 2016 für den Verbleib des Landes in der Union aus, engagierte sich aber im Vorfeld des Referendums selten – und wenn, dann ausgesprochen lustlos. Nun gilt es für Corbyn wie für Labour abzuwarten: Die Briten sollen den Schlamassel um den Brexit ausschließlich den regierenden Tories anlasten. Die Partei muss die nächste Wahl gewinnen, und dafür muss sie sich so lange wie möglich heraushalten.

Ob diese Strategie jedoch aufgeht, ist mehr als fraglich. Die Wahlumfragen sind nicht besonders ermutigend für Labour. Zu Wochenbeginn ermittelte das Meinungsportal YouGov 40 Prozent Zustimmung für die Tories und lediglich 34 Prozent für Labour. Das Zaudern der Partei, die Diskrepanz zwischen den Mitgliedern und der Parteiführung, die Gespaltenheit mindern die Chancen der Labour-Partei mehr, als Corbyn es zugeben möchte. Er kann mit seinem streng-linken Programm zwar Menschen binden, aber die Zustimmung zur Partei in der Bevölkerung nimmt ab.

Derweil gehen die Briten ihrem Lieblingssport nach: dem Wetten. Seit Dezember vergangenen Jahres setzten die Engländer beim Online-Wettanbieter Betfair umgerechnet rund 1,3 Millionen Euro auf die Brexit-Abstimmung von vergangenem Dienstag. Weitere knapp zwei Millionen auf den weiteren Verlauf des EU-Ausstiegs. Der Reiz daran ist: Niemand kann vor dem Spiel wissen, wie es enden wird. Doch genau das stellt die Buchmacher in Großbritannien vor ein Problem. „Es gibt keinen Präzedenzfall, es gibt keine Formel, die uns sagten könnte, wie hoch die Wahrscheinlichkeit liegt“, zitiert das Wall Street Journal einen Angestellten des Londoner Wettbüros Ladbrokes. Bereits 2016 lagen die Wettfirmen ziemlich daneben. Denn schon vor der damaligen Abstimmung zum Brexit gab es einen regelrechten Boom und Run auf die Wettschalter. Die Buchmacher waren sich sicher, dass die Mehrheit der Briten für den Verbleib in der EU stimmen würde. Doch dann kam bekanntlich alles anders.

Dennoch wird weiter gewettet. Bleiben die Wettbüros als die Wahrscheinlichkeitsdeuter für den weiteren Weg des Brexit. Laut oddschechers.com wettet nur jeder Fünfte Brite darauf, dass das Vereinigte Königreich wirklich planmäßig Ende März die EU verlässt. Die Chancen dafür, dass der Brexit noch zu stoppen ist, stehen bei 38 Prozent. 22 Prozent der Briten glauben, dass es zu einer zweiten Volksabstimmung kommen wird, so das Wettbüro William Hill. Für unverbesserliche Remainers gibt es einen weiteren Hoffnungsschimmer: Gleich hoch sei die Wahrscheinlichkeit, dass der Austritt bis Ende März einfach abgeblasen und die Anrufung des Artikels 50 der EU-Vertrags rückgängig gemacht wird.

Martin Theobald
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