LEITARTIKEL

Das soziale Europa

d'Lëtzebuerger Land vom 14.05.2021

Als am Wochenende in Porto der EU-Sozialgipfel zu Ende war, gab es fast nur positive Echos. António Costa, Premier von Portugal, das derzeit die Ratspräsidentschaft innehat, sprach sogar von einem „historischen Moment“: Die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten hätten mit Gewerkschaften und Unternehmerverbänden eine Einigung gefunden, die „beispiellos“ sei.

Das kann man so sehen, muss aber bedenken, wo die EU-Sozialpolitik herkommt und was das überhaupt ist. Porto schloss gewissermaßen an den Göteborger Gipfel vor vier Jahren an. Damals wurde eine „Europäische Säule für Sozialrechte“ ausgerufen. Sie enthält 20 Grundprinzipien, vor allem für Chancengleichheit im Beruf, faire Bezahlung und gute Arbeitsbedingungen. In Porto wurden zwei Erklärungen verabschiedet. In einer rufen Gewerkschaften und Unternehmerverbände zur Umsetzung jenes Aktionsplans auf, den der Luxemburger EU-Kommissar für Soziales und Arbeit, Nicolas Schmit, im März vorgelegt hat: EU-weit soll bis 2030 die Beschäftigungsquote mindestens 78 Prozent betragen. 60 Prozent der Berufstätigen sollen jedes Jahr einen Fortbildungskurs belegen, die Zahl der von Armut und sozialer Ausgrenzung Bedrohten soll um mindestens 15 Millionen sinken.

Die zweite Erklärung nahmen die Staats- und Regierungschefs an. Im Wesentlichen bestätigt sie den Aktionsplan, enthält aber keine verbindlichen Ziele. Premier Xavier Bettel sagte nach Gipfelende einer Korrespondentin des Radio 100,7, die Deklaration sei eine „Ermutigung“. Luxemburg erfülle „viele“ Ziele in Nicolas Schmits Aktionsplans schon. Was 2030 sein werde, könne er nicht sagen: „Ich bin nur bis 2023 Premier.“

Solche Aussagen stehen in genau jener Logik, nach der in der EU Sozialpolitik seit Langem verstanden wird: „Benchmark-Vergleiche“ zwischen den Mitgliedstaaten, Austausch über „Best practices“, aber kaum Verbindliches. Man muss Jahrzehnte zurückschauen, um andere Ansätze zu finden. In der „Montanunion“ Ceca blieb die Sozialpolitik bei den sechs Gründerstaaten. Starkes Wirtschaftswachstum in den zwei Jahrzehnten nach Kriegsende machte Soziales auch in der EWG zu keinem gemeinschaftlichen Anliegen. Das änderte sich in den Siebzigern: Der gesellschaftliche Aufruhr nach ’68 und die wachsende gewerkschaftliche Militanz zum Ende der trente glorieuses ließen die Sozialpolitik zum Politikfeld für sich werden: Ein föderalistischer Wohlfahrtsstaat nach sozialdemokratischem Muster, über den nach einem Tripartite-Modell verhandelt worden wäre, sollte den sozialen und politischen Frieden retten.

Dazu kam es aus verschiedenen Gründen nicht. So dass in der EG schon in den Achtzigerjahren Schluss war mit einem Verständnis von Sozialpolitik als staatenübergreifender Regelung der Beziehungen zwischen „Sozialpartnern“; wobei, wenn diese sich nicht hätten einig werden können, der Nationalstaat legislativ tätig geworden wäre. Mehr und mehr erwiesen die EG und später die EU sich als Wirtschaftsprojekt, was die Ceca schon war. Sozialpolitik blieb Sache der Mitgliedstaaten. Doch seit dem Maastricht-Vertrag 1992 und später der Währungsunion ohne politische Union kann sich Sozialpolitik nur leisten, wer die Mittel dazu hat. Seit dem Beitritt der osteuropäischen Länder ist die EU so heterogen geworden, dass gemeinsame soziale Anliegen kaum mehrheitsfähig sind. Die nach der Finanzkrise erlassenen Regeln zur Haushaltsdisziplinierung verstehen nur Insider. Die „europäische Integration“ erfolgt nach der Rationalität der Märkte. Themen wie Sicherheit am Arbeitsplatz und Chancengleichheit im Beruf stehen dazu nicht wirklich im Widerspruch.

Heute hat die zu einem Wirtschaftsimperium integrierte EU mit wachsenden Ungleichheiten zu kämpfen – sowohl zwischen Menschen als auch zwischen Staaten. Da „Soziales“ als Zuständigkeit innerhalb von Ländergrenzen politisch vor allem von Rechtspopulisten in Abgrenzung zu EU und Euro besetzt wird, ist das Risiko reell, dass die EU auseinanderbricht. Das „Soziale“ müsste in der allgemeinen Akkumulationskrise des Kapitalismus neu erfunden werden. Neun von zehn EU-Bürger/innen scheinen sich das in Umfragen zu wünschen. Was wie eine letzte Chance aussieht.

Peter Feist
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