Jean-Claude Juncker

Öffentlichkeit schaffen

d'Lëtzebuerger Land vom 23.12.2010

„EU-Finanzchef Juncker geht auf Merkel los“, hatte die deutsche Bild-Zeitung am 9.12. gepoltert, und die Financial Times Deutschland gab sich am selben Tag entsetzt: „Juncker beleidigt Merkel“. Der Luxemburger Premier hatte sich gegenüber der Hamburger Wochenzeitung Die Zeit beschwert: „Deutschland denkt da ein bisschen simpel“, und Bundeskanzlerin Angela Merkel vorgeworfen, auf „eine sehr uneuropäische Art europäische Geschäfte zu erledigen“, weil sie seinen Vorschlag abgelehnt hatte, gemeinsame europäische Anleihen auszugeben (d’Land, 17.12.).
Dass Juncker als Sprecher der Euro-Gruppe darauf angewiesen scheint, mit einem Gastkommentar in einer Tageszeitung und zusammen mit dem Finanzminister des nicht gerade für Stabilität bekannten Italien seinen Vorschlägen zur Beendigung der Schuldenkrise Gehör zu verschaffen, war schon überraschend. Und seine öffentliche Polemik mit der christdemokratischen Regierungschefin aus dem großen Nachbarland sorgte auch hierzulande für Aufsehen, wo er im Ruf steht, kaum eine überregionale Veranstaltung der Christlich Demokratischen ­Union Deutschlands auszulassen. Selbst die nicht gerade für ihre Höflichkeit und Diplomatie bekannte ADR ließ sich die Gelegenheit nicht entgehen, in einer Presseerklärung über „die Konsequenzen von Herrn Junckers Verbalentgleisungen gegenüber Frau Merkel und der deutschen Regierung“ zu klagen und „mehr Höflichkeit und Diplomatie von unseren Regierungsvertretern“ zu verlangen.
Doch anders als die psychologisierende ADR, die Juncker „Dauerfrust“ und „sprichwörtlich schlechte Laune“ vorwirft, sind manche seiner Regierungskollegen überzeugt, dass ihr Pre­mier schon Wahlkampf macht. Dass er einen neuen Anlauf nimmt, um vielleicht doch noch Präsident des Europäischen Rats zu werden. Bei dem Treffen der Staats- und Regierungschefs der Europäi­schen ­Union vor einem Jahr war seine als Krönung einer politischen Laufbahn geplante Kandidatur am Widerstand der französischen und an der mangelnden Unterstützung der deutschen Regierung gescheitert.
Stattdessen war der ehemalige belgische Premier Herman van Rompuy zum ersten Präsidenten des Euro­päischen Rats gewählt worden Er trat sein durch den Vertrag von Lissabon neu geschaffenes Amt am 1. Dezember 2009 an. Laut Vertrag ist die Amtszeit auf zweieinhalb Jahre begrenzt; van Rompuys Mandat läuft am 31. Mai 2012 ab. Es darf einmal verlängert werden, doch ist nicht sicher, dass sich der dann fast 65-jährige amtierende Präsident um seine eigene Nachfolge bemühen wird.
Wann der neue Präsident gewählt wird, ist noch nicht abzusehen. Wahrscheinlich ist, dass dies während des Europäischen Rats im Dezember nächsten Jahres geschieht, da der anschließende Rat erst nach dem Ende von van Rompuys Amtszeit stattfinden könnte. Das Datum hat insofern eine Bedeutung, als wenige Tage vor dem Ende dieser Amtszeit, am 22. April und 6. Mai 2012, in zwei Wahlgängen der neue französische Präsident gewählt und damit über das politische Schicksal von Junckers größtem Gegner, Nicolas Sarkozy, entschieden wird.
Es wäre also keineswegs verfrüht, den Wahlkampf zu beginnen. Um so mehr, als sich Jean-Claude Juncker dazu eine neue Strategie ausdenken müsste. Denn in einer Art politischem Nachruf hatte die Welt am Sonntag vor zwei Wochen geschätzt: „Aber seit Anfang dieses Jahres ist Juncker draußen. Merkel und Sarkozy, die sich eigentlich misstrauen, hatten irgendwann vereinbart, die Dinge unter sich zu regeln.“ Und die Frankfurter Allgemeine Zeitung erklärte das am 15.12. so: „Juncker hat seine spezielle Nischenfunktion – die des Scharniers zwischen Berlin und Paris – nicht zuletzt deshalb verloren, weil sich die Kräfteverhältnisse in der EU verschoben haben. Deutschland und Frank­reich stehen einander nicht mehr als Antagonisten gegenüber, die ab und an der Vermittlung des gemeinsamen Nachbarn bedürfen. Eher stehen sie gemeinsam gegen den Rest der EU – in erster Linie gegen die ‚Kleinen’.“
Wenn er aber keine Chancen mehr hat, als ehemaliger Held von Dublin der Kandidat eines diskreten deutsch-französischen Kompromisses zu werden, könnte der Luxemburger Premier versuchen, sich mit spektakulären Initiativen und Polemiken – , wie derzeit um die Euro-Bonds – Öffentlichkeit zu schaffen. Denn der ehemalige deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt fragte Anfang des Monats spöttisch in einem Interview mit dem Handelsblatt: „Wie heißt der Präsident des Europäischen Rates? Van Rompuy? Er hat eine sogenannte Außenministerin, eine britische Dame, deren Namen man nicht wirklich kennen muss. Ähnliches gilt für das Europäische Parlament. Die einzige Figur, die hervorragt, ist der Präsident der Europäischen Zentralbank Jean-Claude Trichet.“ Das Zeug dazu hätte laut Schmidt aber auch Jean-Claude Juncker.
Dass der CSV-Premier keine Lust hat, wie manche seiner Vorgänger bis über 70 Jahre Regierungschef zu bleiben, hatte er bereits vor einem Jahr mit seiner gescheiterten Absetzbewegung gezeigt. Mit allen innenpolitischen Folgen.

Romain Hilgert
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