Nach einem Jahrzehnt der Ratlosigkeit gab sich die DP diese Woche endlich ein Programm: Xavier Bettel

Der volksnahe Liberale

d'Lëtzebuerger Land vom 01.02.2013

Während der vergangenen 30 Jahre war die DP eine einzige Legislaturperiode lang in der Regierung. Seit neun Jahren marschiert sie wieder durch die Wüste. Das zehrt an der Substanz einer Partei, die an den Erfolg glaubt und daran, dass jeder seines eigenen Glückes Schmied sei.

Nun machen sich die Liberalen Hoffnung, dass bei den Kammerwahlen Mitte nächsten Jahres ihr Unglück ein Ende haben könnte. Denn der rote Backsteinsaal des Bonneweger Kulturzentrums war am Dienstagabend bis auf den letzten Platz gefüllt, als ein außerordentlicher Parteitag denjenigen wählen sollte, der sie endlich ins gelobte Land führen soll. Da waren auch jene Geschäftsleute, Zweigstellenleiter und Studienräte erschienen, die an der seit einem Jahrzehnt versuchten Erneuerung der Partei zu verzweifeln drohten, die geklagt hatten, dass die DP ihre Identität verliere, dass sie zu ihren besten Zeiten nicht wegen ihres Programms, sondern wegen ihrer prominenten Kandidaten gewählt worden sei. So legten 96,5 Prozent der versammelten Parteimitglieder, die auch alle Kongressdelegierte waren, das Schicksal der DP in die Hände von ­Xavier Bettel, dem neuen Shootingstar der Luxemburger Politik, und kürten ihn ohne Gegenkandidaten zum neuen Parteivorsitzenden.

Bei dieser Gelegenheit ließ Xavier Bettel auch die Wahl seines „neuen Teams“ ratifizieren. Sein Stellvertreter, der Erste Vizepräsident, wurde der Europaabgeordnete Charles Goerens. Er übernimmt das Amt von dem Steinseler Kommunalpolitiker Guy Daleiden. Der nächste Woche 61-jährige Goe­rens ist nach Bettel der populärste DP-Politiker, aber nicht gerade ein Symbol von Verjüngung und Erneuerung. Denn er war schon vor 20 Jahren Parteipräsident, bis ihn die von ihm „inner circle“ genannte DP-Führung nach der Wahlniederlage von 1994 gestürzt hatte. Nach der Niederlage von 2009 war er ins Straßburger Exil zurückgekehrt. Nun muss er die Versöhnung der erneuerten DP mit ihrer alten Garde symbolisieren. Am Dienstag verwehrte er sich gegen Behauptungen, er versuche „ein Comeback“.

Abgesehen von Goerens bringt Bettel vor allem seine eigene Mannschaft vom Knuedler an die Spitze der Parteiexekutive. Die Vizepräsidenten Simone Beissel und Frank Colabianchi wurden ersetzt durch die Anwältin Claudia Monti und die Mondorfer Bürgermeisterin und Ex-Abgeordnete Maggy Nagel. Bettel gehört zu Montis Anwaltskanzlei, Nagel ist als Gemeindebeamtin seine Untergebene. Der Unternehmensberater Patrick Goldschmidt, der den langjährigen Kassenwart Kik Schneider ersetzt, ist Stadtrat am Knuedler. Von der Spitze der Parteiexekutive bleibt nur Generalsekretär Fernand Etgen im Amt, der Nord-Abgeordnete und Bürgermeister von Feulen. Der Sekundarschullehrer und Hesperinger Gemeinderat Claude Lamberty gibt das Amt des Vizegeneralsekretärs auf, um für den Wahlkampf 2014 verantwortlich zu werden.

Das politische Kapital des nächsten Monat 40-jährigen Bettel ist sein noch immer jugendlicher Charme mit hohem Unterhaltungswert. Schon 1999 war er ins Parlament nachgerückt, als seine Partei im Zentrumsbezirk einen Sitz hinzugewonnen hatte und ihre Bestgewählten zu Regierungsämtern aufgestiegen waren. Seither ist er Berufspolitiker, ein Stand, für den er damals als Rechtsanwalt, Vorsitzender der Parteijugend und Stadtrat die für Luxemburger Verhältnisse besten Voraussetzungen mitbrachte.

Als die DP-Führung nach dem „Erdbeben vom 13. Juni“ 2004 und dem Verlust von fünf Parlamentssitzen die Verjüngung versuchte, musste sie feststellen, dass von ihrer gesamten Parlamentsfraktion nur zwei Abgeordnete unter 50 Jahren das politische Erdbeben überlebt hatten: Xavier Bettel und Claude Meisch. Der Vorsitzende der Jungliberalen, Bettel, stand bei den älteren Semestern der Partei im Verdacht, Anhänger einer Spaßpartei wie Guido Westerwelle zu sein, der gerade die deutsche Schwesterpartei zu ruinieren schien. Also entschied man sich für den stellvertretenden Vorsitzenden der Jungliberalen, den biedereren Bankangestellten und Juwelierssohn Meisch, der es in Differdingen zum jüngsten Bürgermeister des Landes gebracht hatte. Zusammen mit einer anderen Kommunalpolitikerin, Agnès Durdu aus Winkringen, sollte er die Partei erneuern. Er organisierte „Hothouse Days“ und „Coaching“ aus dem Management-Ratgeber, während der zweite Vizepräsident und dann Nachfolger von Durdu, Georges Gudenburg, die CSV eine „Besatzungsmacht“ schimpfte.

So kamen und gingen die Hoffnungsträger, die Grethen, Rippinger und Goerens lösten sich lustlos an der Spitze der Fraktion ab, während die alte Garde weiter hinter den Kulissen komplottierte oder schmollte. Bald fügte man einen grünen Punkt ins Parteilogo, und ein ratloser Meisch erklärte die DP 2007 zu „liberalen Grünen“, dann machte man Familienpolitik für die Mittelschichten und gegen die Grenzpendler. Bei den Kammer- und Europawahlen 2009 organsierten viele der Alten ihren eigenen Wahlkampf, und der ehemalige Gesundheitsminister Carlo Wagner nannte die verzweifelte personelle Erneuerung eine „total Topegkeet“. Vielleicht war das ein verlorenes Jahrzehnt für die Partei.

Nicht so für Xavier Bettel. Als Stadtschöffe sammelte der begnadete Selbstdarstellungskünstler rund um die Uhr Sympathien, schüttelte die Hände von Legionen, spielte für Funk und Fernsehen den gut gelaunten Anwalt der Jugend. Während seine erneuerte und damit in der Wirtschaftskrise für unerfahren gehaltene Partei 2009 noch einmal die Wahlen verlor, wurde er Erster im Zentrumsbezirk, weit vor den Parteinotabeln Brasseur, Polfer, Helminger, Flesch...

Also gab die Partei dem Wählerwillen nach und machte Bettel zum Vorsitzenden der zerstrittenen Parlamentsfraktion. Dabei genießt er in der Partei den Ruf, alles andere als ein Organisationstalent zu sein und sich für die meisten politischen Dossiers gar nicht zu interessieren. Nach zwei Jahren gab er den Posten wieder ab.

Denn bei den Gemeindewahlen 2011 schaffte Bettel seinen endgültigen Durchbruch. Er bekam 514 Stimmen mehr als Bürgermeister Paul Helminger, dem der Wunsch nach einem würdevollen Abgang abgeschlagen wurde. Mit Unterstützung von Ex-Bürgermeisterin Lydie Polfer, die Helminger schon 2004 in die Wüste schicken wollte, ließ Bettel Helminger binnen 24 Stunden auflaufen. Parteipräsident Claude Meisch übernahm von Bettel den Fraktionsvorsitz und kündigte an, dass Bettel ihn dafür als Parteivorsitzenden ersetzen werde.

Zur Zeit der Gemeindewahlen im Herbst 2011 setzte auch der beispiellose Höhenflug von Xavier Bettel in den Popularitätsumfragen ein. Im Laufe des vergangenen Jahrs gelang ihm das, was bisher noch keinem anderen Politiker gelungen war: Laut den im Auftrag von Tageblatt und Luxemburger Wort befragten Wahlberechtigten ist er nunmehr populärer als Premier Jean-Claude Juncker. Das Luxemburger Wort, das ihn in seinen Umfragen während Jahren ignorierte hatte, stellte ihn in einem Leitartikel plötzlich mit dem DP-Premier der linksliberalen Koalition von 1974 gleich.

Während seiner zwei Ansprachen innerhalb von zwei Stunden zeigte Bettel am Dienstag, dass er nicht für politische Inhalte steht, sondern für eine Methode oder wenigstens für einen Auftritt. Jene händeschüttelnde und unverbindliche, an Trot­tuars­politik grenzende Volksnähe, die sein Mentor Lydie Polfer als Bürgermeisterin zur Perfek­tion gebracht hatte. Bald meinte der neue Parteivorsitzende, dass er „kein Steuerexperte“ sei, bald, dass er „kein Bildungsexperte“ sei, dafür aber über gesunden Menschenverstand verfüge. Damit sprach er all seinen Wählern aus dem Herzen, die sich mit gesundem Menschenverstand darüber hinwegtrösten, dass sie auch für nichts Experten sind. Und wie gut er damit in die DP passt, deren Ideologie die Ideologiefeindlichkeit ist, erklärte Claude Meisch, der meinte, den Liberalen sei Pragmatismus wichtiger als Prinzipien.

Am ausführlichsten beschäftigte sich Bettel mit dem Sozialstaat, anekdotisch, aber dezidiert liberal: mit den Arbeitern, denen die Sicherheit ihres Arbeitsplatzes wichtiger sei als eine Indextranche; den sozialpolitischen Wahlkampfgeschenken; dem vielen Geld, das in die Sozialpolitik fließe, um die Armut nicht zu bekämpfen, sondern Bedürftige in Abhängigkeit von Sozialtransfers zu halten. Doch über politische Inhalte zu reden, schien Bettel nicht wirklich zu interessieren, wo er doch viel lieber über sich selbst redete: darüber, wie er auf die Leute zugehe, ihnen zuhöre, erreichbar für sie sei. „Ich kann nicht anders. Ich bin so. Spontan.“

Ob Bettel die DP tatsächlich aus der Wüste führen kann, wird davon abhängen, ob es ihm nächstes Jahr gelingen wird, die Partei an seinem persönlichen Erfolg teilhaben zu lassen. Laut Meinungsumfragen ist ihm das sogar im eigenen Wahlbezirk bisher nur ansatzweise gelungen.

Romain Hilgert
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