Wer am Gesundheitswesen etwas ändern will, braucht ein glasklares politisches Konzept und sehr viel Stehvermögen

Ohne Plan

Gesundheits-ministerin Paulette Lenert, ehe sie ihrer Partei erklärte,  „ech si prett“
Photo: Olivier Halmes
d'Lëtzebuerger Land du 27.01.2023

„Planwirtschaft“ herrsche im Gesundheitswesen, beschwerten sich LCGB-Präsident Patrick Dury und Generalsekretär Christophe Knebeler vor zwei Wochen im Wort. „Die hat vor 50 Jahren schon nicht funktioniert und seit den 1980-er Jahren ausgedient.“ Etwas weiter hinten in dem Artikel klagten sie, Covid-Seuche und Ukraine-Krieg hätten „vorausschauendes Planen generell schwierig“ gemacht.

Wie die beiden Gewerkschaftsfunktionäre in diesen seltsamen Widerspruch gerieten, wurde nicht klar. Irgendwie scheint ihnen alles nicht schnell genug zu gehen und sie finden, es werde zuviel geredet. Letztere Beobachtung ist nicht ganz falsch. Und der Begriff „Plan“ hat tatsächlich Konjunktur. Gesundheitsministerin Paulette Lenert, seit Freitag vergangener Woche tatsächlich designierte Spitzenkandidatin der LSAP zu den Kammerwahlen, verspricht als letzten großen Wurf einen „Plan national Santé“. Ihm soll zu entnehmen sein, was bis zum Jahr 2030 am „System“ unternommen werden soll.

Gesundheitsplan Dass das ein ernstzunehmendes Vorhaben ist, darf leider bezweifelt werden. Zum einen, weil die LSAP mit einem „Gesundheitsplan“ seit ihrem Wahlprogramm von 2004 hausieren geht. Mal soll er für Kohärenz bei der Prävention von Krankheiten sorgen, mal für Änderungen an vielen Stellen im Gesundheitswesen. Der medienbewusste Gesundheits- und Sozialminister Mars Di Bartolomeo machte daraus eine Bewegung, richtete jedes Jahr eine Gesundheitskonferenz aus und erzählte, der Plan sei kein Papier, das geschrieben werde, sondern ein work in progress, der eigentlich nie ende. Im Koalitionsvertrag der aktuellen Regierung wird der Plan auch erwähnt. Er soll der „rote Faden“ für die Prävention sein. Dass Paulette Lenert daraus einen Plan für alles bis 2030 machen will, dürfte auch damit zu tun haben, dass Di Bartolomeo, seit 2018 Präsident des parlamentarischen Gesundheitsausschusses, sie politisch berät.

Zweifel an Lenerts Plan-Versprechen sind aber auch angebracht, seit sie vergangenen Sommer mit 30 Powerpoint-Dias ein vorläufiges Resümmee zum Gesondheetsdësch zog. Damit habe sie gezeigt, wo sie hinwill, erklärte sie im Oktober (d’Land, 21.10.2021). Doch die zwölf „strategischen Achsen“ im Dia-Vortrag der Ministerin zählen alles Mögliche auf. Von der Prävention und der Verbesserung der Kommunikation an die Öffentlichkeit, über die Digitalisierung und die Innovationsförderung, bis hin zum schon viel zitierten virage ambulatoire und „Anpassungen“ des Finanzierungsrahmens. Sofern Lenert nicht noch einen ganz anderen Plan vorlegt, hat sie keinen. Jedenfalls kein klares politisches Konzept. Das wäre aber nötig, wenn die Gesundheitsversorgung den sozialdemokratischen Prämissen vom universellen und gleichberechtigten Zugang zu hochwertigen Leistungen genügen soll. Es müsste ein Konzept mit sehr klaren Zielen sein, und auf dem Weg dahin wäre enormes politisches Durchhaltevermögen gefragt.

Bewiesen wurde es schon lange nicht mehr. 1975 war das der Fall, als nach langen Auseinandersetzungen das öffentliche Centre hospitalier de Luxembourg (CHL) mit festangestellten Ärzt/innen geschaffen wurde. Zuletzt 1992 bei der großen Krankenkassenreform, auf der bis heute die sozialdemokratischen Prinzipien der Gesundheitsversorgung basieren. Doch seit gut zwei Jahrzehnten tendiert die Versorgung überall in Europa mehr und mehr Richtung Markt, auch Richtung EU-Binnenmarkt. Wer sich dem politisch stellen und in einem kleinen Land wie Luxemburg die noch recht hochwertige und umfassende Versorgung absichern will, muss genau wissen, wie. Muss die Frage beantworten, wieviel Staat und wieviel Markt es geben soll, und wo.

Die Spitäler Es ist nicht falsch, die Betrachtung bei den Spitälern anzufangen. Weil sie eine so große Rolle in der Versorgung spielen, mit 700 000 Krankenhaustagen pro Jahr, 60 000 Operationen und einer Million Passagen in Polikliniken und Notaufnahmen. Und weil sie eine Menge Geld kosten: 1,1 Milliarden Euro im Jahr 2021, das waren 47 Prozent der Ausgaben der CNS. Die Spitäler sind der einzige Gesundheitssektor der reguliert, weil staatlich geplant ist. Sein Kollektivvertrag ist der wahrscheinlich vorteilhafteste im Land. Die Gehälter sind parastaatlich, die 38-Stunden-Woche ist schon lange Realität. Gleichzeitig sind die Spitäler der Bereich, in dem Lobbyinteressen sich besonders stark äußern, die des OGBL und die des Ärzteverbands AMMD vor allem. Und was die Spitäler wo anbieten, interessiert die jeweils lokale Politik.

Allem Anschein nach verstand Paulette Lenert nicht gleich, dass es keine gute Idee wäre, „leichtere Aktivitäten“, sogar kleine chirurgische Eingriffe, einfach so aus den Spitälern in Ärztehäuser auszulagern, wie die AMMD sich das wünschte und im Wahlkampf 2018 intensiv dafür geworben hatte. Lenert hatte lange mit Corona-Management zu tun, und ihr Vorgänger Étienne Schneider hatte die Tür für Auslagerungen schon einen Spaltbreit geöffnet. Vergangenes Jahr trat sie auf die Bremse und gestand Auslagerungen nur in „Krankenhaus-Antennen“ zu. Die AMMD war entrüstet.

„Tout partout“ Doch Auslagern oder nicht ist nicht die primäre Frage. Sondern die, den Spitalsektor besser zu organisieren. In der vergangenen Legislaturperiode hatte die Politik das besser im Blick. Im Koalitionsvertrag 2013 stand noch, es müsse Schluss sein mit dem „tout partout“. Nicht jedes Krankenhaus sollte weiterhin alles anbieten – das war einer der wesentlichsten Konsense aus der Amtszeit Mars Di Bartolomeos. Doch als unter dessen Nachfolgerin Lydia Mutsch ein neues Spitalgesetz entstand, wurde darauf verzichtet, Normen für Krankenhausabteilungen festzulegen. Aus „Kompetenzzentren“, in denen besonders diffizile Eingriffe in bestimmten Häusern gebündelt worden wären, wie Di Bartolomeo das noch in seiner Gesundheitsreform von 2010 verankern konnte, wurden zuerst „virtuelle“ Zentren, in denen Fachleute von Spital zu Spital wechseln sollten, schließlich „Kompetenznetzwerke“. Bis heute gibt es kein einziges. Die Konkurrenz unter den Kliniken besteht fort.

Das ist nicht nur schlecht für die Versorgung der Patientn. Es ist auch ein Hindernis für Spitzenmedizin. Und für die Mediziner-Ausbildung, falls die an der Uni Luxemburg über die ersten drei Jahre zum Bachelor hinaus erweitert werden soll und dazu weitere Spezialisierungen im „dritten Zyklus“ kämen, neben Allgemeinmedizin, Neurologie und Onkologie.

Die ungute Konkurrenzlage ist aber auch Ausdruck der ungeklärten Frage, welche Klinikmedizin es in Luxemburg eigentlich geben soll, wie sie organisiert sein soll. Seit am 18. November 1975 der DP-Abgeordnete Robert Prussen, ein Arzt, als parlamentarischer Berichterstatter das CHL-Gesetz verteidigte, wurde kein leidenschaftlicheres politisches Plädoyer für eine öffentliche und mit festangestellten Ärzt/innen funktionierende Klinikmedizin gehalten. Was nicht heißt, dass Prussen Unrecht hatte. Im Gegenteil: Zumindest in den Kompetenzzentren oder -netzwerken dürfte kein Weg am Salariat vorbeiführen.

750 000 Euro Den Gedanken politisch zu Ende zu führen, hätte viele Konsequenzen. Das CHL mit seinem Salariat ist nicht üppig finanziert. Was unter anderem daran liegt, dass alle Ärzt/innen, ganz gleich ob Freiberufler, wie die meisten, oder Angestellte, dieselben Tarife laut Gebührenordnung verrechnen müssen. Gerade so, als herrsche in Luxemburg überall Privatmedizin; dass die AMMD auf diese Regel immer bestanden hat, verwundert deshalb nicht. Doch im komplexen Krankenhausbetrieb gibt es mehr ärztliche Tätigkeiten zu entgelten als den reinen Behandlungsakt am Patienten. Multdisziplinäre Zusammenarbeit etwa ist ein Dienst für die öffentliche Gesundheit, wird aber nicht bezahlt. Dagegen ist, was bezahlt wird, häufig ungerecht bezahlt. So kann es kommen, dass laut Generalinspektion der Sozialversicherung die Radiologie (Stand 2021) nicht nur weiterhin die bestbezahlte Facharztdisziplin ist. Die Honorarmasse von im Schnitt rund 750 000 Euro pro Jahr und pro Arzt lag außerdem fast 15 Prozent höher als 2017 und doppelt so hoch wie der Durchschnitt über alle Disziplinen. Auf Rang zwei der Statistik folgt die Kardiologie mit mehr als 500 000 Euro.

Wohlgemerkt, handelt es sich dabei um Honorare vor eventuellen Praxiskosten. Aber die Frage stellt sich, wieso bestimmte Disziplinen derart gut honoriert werden und andere viel schlechter. Ein Teil der Antwort lautet, weil so viel Arbeit anfällt. Der andere, weil es der Ärzteverband so will. Traditionell ist ihm die undankbare Arbeit überlassen, die Verdienstmöglichkeiten seiner Mitglieder zu steuern. Kein Minister greift da ein. Die CNS auch nicht. Die AMMD wiederum will nicht riskieren, dass große Änderungen an der Gebührenordnung zu Austritten wütenderÄrzt/innen führen. Das Problem ist aber unter anderem jenes, dass das Tarifgebäude Anreize dafür schafft, im Spital zu arbeiten oder nicht. Als vergangenen Herbst im Centre hospitalier du Nord alle Kardiologen ihre Dienstleisterverträge kündigten, geschah das nicht nur wegen der hohen Arbeitsbelastung durch Bereitschaftsdiente. Sondern auch, weil die Honorarregeln gerade in dieser Disziplin gute Einkünfte auch im Cabinet erlauben. Auch vor diesem Hintergrund beeilten die Gesundheitsministerin und die Regierung sich, die Bereitschaftsdienste zu entgelten. So unvermeidlich das einerseits war, so bedauerlich ist andererseits, dass es Tradition hat, Probleme im System mit Geld zu lösen.

Die Gesundheitspolitik müsste zuallererst dafür sorgen, dass die Klinikmedizin funktioniert. Dass alle Spitäler organisatorisch rundlaufen können. Es ist nicht so, dass niemand das verstünde. Doch es ist kompliziert und hochpolitisch. Das zeigte sich zum Beispiel 2017, als Lydia Mutsch mit ihrem Entwurf zum neuen Spitalgesetz versuchte, die Klinikärzt/innen den Spitälern als Betrieb zu unterstellen. Die AMMD stilisierte das zu einem Angriff auf Therapie- und Verschreibungsfreiheit, in Wirklichkeit ging es ihr um das Abwenden von Kontrolle. Im parlamentarischen Gesundheitsausschuss wurde Mutschs Gesetzentwurf umgeschrieben. Eine besondere Rolle spielten dabei DP und CSV.

Sinn hätte in Luxemburg ein einziges großes öffentliches Krankenhaus, vielleicht mit regionalen Ablegern. Und um dieses herum ein gut strukturierter außerklinischer Sektor. Denn dass Klinikärzt/innen sowohl die Spitalmedizin als auch die außerklinische abdecken, sei es in Praxisräumen in Kliniken, wie am CHL Oder bei Schuman, oder in ihren Cabinets, stimmt. Das verursacht viel Arbeit und ist ein Aspekt des Ärztemangels. Weil er besteht, ist Luxemburg unter den OECD-Staaten einer mit besonders hohem Anteil an Pflegepersonal in den Kliniken. Dass dem so ist, verschafft dem OGBL eine starke Position. Dass der Krankenhauskollektivvertrag so gut ist, liegt nicht nur am Nachvollzug der Gehälterregeln im öffentlichen Dienst. Sondern auch daran, dass das Pflegepersonal Verdienstmöglichkeiten und Arbeitsbedingungen der Ärzt/innen genau beobachtet, und umgekehrt. LSAP-Minister neigen dann manchmal dem OGBL zu. Wie 2017 der damalige Sozialminister Romain Schneider, als er der Gewerkschaft einen Hinweis gab, wie viel sie für die Neubewertung der Karierren der Gesundheitsberufler in den Spitälern verlangen konnte, weil das vom Globalbudget über alle Spitäler zu verkraften sei. Die Gehälter machten einen Sprung nach oben. Was vielleicht dem Aufstieg der für das Syndikat Gesundheits- und Sozialwesen zuständigen Nora Back zum Gewerkschaftsvorsitz half. Und den Ärzteverband zu Forderungen ermutigte, die er im Wahlkampf 2018 machte.

Tarife und Pauschalen Die aktuelle Gesundheitsministerin und mit ihr der Sozialminister scheinen in diese so komplexe Situation unter anderem mit Tarifen eingreifen zu wollen. Die Generalinspektion der Sozialversicherung bereitet seit fünf Jahren ein „Fallpauschalen-System“ vor, das eines Tages die Klinikbudgets ersetzen könnte. Vielleicht sogar nach dem Vollkostenprinzip auch die Arzthonorare einschlösse – wogegen die AMMD sich aber wehren dürfte. Ziemlich beschlossene Sache ist dagegen schon, dass die aus den Spitälern ausgelagerten Aktivitäten mit Pauschalen bezahlt werden sollen. Behielten die Spitäler solche Aktivitäten dann noch bei sich, gälten dafür dieselben Pauschalen. Mit den Pauschalen zöge eine Preislogik ins System ein. Derselbe Preis für alle für dieselbe Leistung pro Diagnose.

Geschieht das, ist das riskant. Wer mit dem Preis nicht auskommt, fliegt vom Markt. Die Versorgung muss dadurch nicht besser werden. Riskant ist es aber auch, weil die Gesundheitsministerin „Gesundheits-Gesellschaften“ den Weg bereiten will. Seien das Ärztegesellschaften oder solche anderer Berufe. Die Frage stellt sich nicht nur, was diese Gesellschaften der Versorgung brächten. Wie der Gesetzentwurf aktuell beschaffen ist, will die Ministerin Gesellschaften aus dem EU-Ausland nicht abverlangen, dass ihre Teilhaber medizinische oder andere Gesundheitsberufe haben sollen. Das gebe das EU-Recht nicht her. Träte dieses Modell in Kraft, hätte das Folgen. Es würde Unternehmen aus dem Ausland die Tür öffnen. Der Luxemburger Markt ist seit Jahren attraktiv, nur ist er bisher weitgehend verschlossen und existiert damit nicht wirklich. Zu vermuten ist, dass ausländische Akteure besser organisiert sind und trainierter im Denken in „Tarifen“ und „Pauschalen“ als alle hierzulande.

Keiner da Könnte das den Patient/innen am Ende egal sein? Vielleicht. Doch Märkte reizen unter anderem dazu an, Low-cost- und Premium-Segmente zu bilden. Wer da regulierend eingreifen will, um für Qualität zu sorgen, käme kaum nach mit Regulieren. Zumal in Luxemburg, wo bisher gar nicht bekannt ist, welche Qualität an welcher Stelle im Gesundheitswesen erbracht wird. Das System wirklich zu ändern, ist vielleicht bis 2030 möglich. Aber nur mit einer geradezu generalstabsmäßigen Vorbereitung und mit einer Person an der Spitze, die allen Widerständen und Lobbyeinflüssen zum Trotz durchzieht, was sie will. Weder so ein Plan noch so eine Person – egal bei welcher Partei – sind in Sicht.

Peter Feist
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