LEITARTIKEL

Eine breite Konsultation

d'Lëtzebuerger Land vom 01.12.2023

Es gebe „keine 156 Möglichkeiten“ zur Absicherung des Rentensystems, sagte Martine Deprez am Dienstag dem Radio 100,7 in ihrem ersten größeren Interview als neue CSV-Sozialministerin. Sie hat recht: Zunächst mal gibt es nur eine. Die Jahresendzulage zu den Renten wird abgeschafft, die Anpassung bestehender Renten an die Reallohnentwicklung wird um mindestens die Hälfte gekürzt. So steht es im Pensionsreformgesetz der letzten CSV-LSAP-Regierung, das die Abgeordnetenkammer Ende 2012 verabschiedet hatte. Die beiden Maßnahmen würden ergriffen, falls die Einnahmen aus den drei Mal acht Prozent Beitragssatz nicht mehr zur Deckung der laufenden Rentenausgaben reichen. Die Generalinspektion der Sozialversicherung (IGSS) schätzte im April 2022, dass es 2027 so weit sein könnte.

Sicher ist das nicht. 2012 nahm sie an, dass es 2018 der Fall wäre. 2016 lautete ihre Prognose: 2023. Jedes Mal war das Wachstum der Beschäftigung und damit der Beitragszahler am Ende höher als gedacht. So dass es den beiden DP-LSAP-Grüne-Regierungen erspart blieb, an Jahresendzulage und Rentenanpassung rühren zu müssen. Die neue Regierung will offenbar nicht abwarten, ob die Konjunktur sie rettet. Sie scheint sogar weitergehen zu wollen, als den Beitragssatz für ein paar Jahre mehr zu erhalten: Die IGSS hatte vor anderthalb Jahren errechnet, entfiele die Jahresendzulage und würde die Rentenanpassung um 75 Prozent gekürzt, wäre anschließend Ruhe bis 2032. Dagegen kündigt der Koalitionsvertrag von CSV und DP eine „breite Konsultation der Zivilgesellschaft“ an, die einen „Konsens“ über die „langfristige Absicherung“ der Renten finden soll.

Was die Regierung damit genau anstrebt, sei noch nicht ausdiskutiert, erklärte die Sozialministerin im Radio. Vielleicht ist das so, denn im Wahlkampf hatten CSV und DP kaum mehr angekündigt, als die Entwicklung der Rentenkasse im Auge zu behalten. Oder die Regierung weiß schon, was sie will, möchte es aber erst nach den Europawahlen sagen. Wenn sie sich tatsächlich von dem leiten lässt, was Premier Luc Frieden vergangene Woche in seiner Regierungserklärung beschrieben hat – „dass nur gesunde Betriebe gute Arbeitsplätze schaffen und uns die Mittel für eine starke und wirksame Sozialpolitik geben“ –, dann wäre es folgerichtig, nicht nur dafür zu sorgen, dass der Beitragssatz bis in die nächste Legislaturperiode bleiben kann, wie er ist. Sondern dass das über Jahrzehnte klappt. Bei der Handelskammer gibt es dafür Ideen. Erst vor drei Wochen erinnerte sie wieder daran, welch wichtiger Vorteil im Standortwettbewerb die niedrigen Lohnnebenkosten seien. Was der Grund dafür ist, dass niedrige Sécu-Beiträge so sakrosant sind.

Anzunehmen ist, dass der Anstoß für die „langfristige Absicherung“ von Luc Frieden selbst stammt. Dass eine Rentendebatte alles andere als konfliktfrei verläuft, weiß er natürlich. Die Union des entreprises dürfte mit demselben Nachdruck wie vor zwölf Jahren gegen Beitragserhöhungen eintreten, die Gewerkschaften gegen Leistungsabbau, wenn es nicht zugleich mehr Geld für die Rentenkasse gäbe. Mit der LSAP in der Opposition wird der OGBL freier agieren können. Der LCGB könnte sich dem nicht entziehen. Die CGFP auch nicht, denn bis auf wenige Ausnahmen gelten die Renten-Regeln des Privatsektors auch im öffentlichen Dienst. LSAP und Grüne schließlich dürften von der Oppositionsbank aus ihre Wahlkampfideen von „alternativen Finanzierungsquellen“ für die Renten wiederholen, etwa eine „Robotersteuer“.

Doch Konflikt wäre nicht schlimm. Schon 2012 waren die Positionen so verschieden, dass die am Ende festgehaltene Reform sich politisch als der bestmögliche Kompromiss verkaufen ließ. Die „breite Konsultation“ könnte ähnlich ausgehen. Und vielleicht ist der wichtigste Grund für die Berufung der Mathematikerin und früheren IGSS-Rentenexpertin Martine Deprez in die Regierung sogar der, dass sie als sympathische Quereinsteigerin, aber Frau vom Fach der Nation erklären soll, was zu den Renten getan werden müsste. Ähnlich wie Paulette Lenert die Covid-Politik erläutert hatte. Der Premier könnte sich im Hintergrund halten und nur bei Bedarf sagen müssen, wie er als früherer Handelskammer-Prasident eigentlich über die Renten denkt.

Peter Feist
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