Selektive Sozialpolitik

Eine halbe Milliarde für die Mammerent

d'Lëtzebuerger Land du 07.01.2010

Während der Haushaltsdebatten vor einem Monat im Parlament erkundigte sich mehr als ein Abgeordneter danach, was die Regierung mit dem Satz auf Seite 95 ihres Koalitionsabkommens gemeint hatte: „Au niveau des transferts sociaux, l’objectif à moyen terme sera de freiner la croissance des dépenses en y introduisant davantage de sélectivité sociale.“ Aber bestenfalls erhielten die Fragesteller die Antwort, dass es an der Tripartite von 2010 sei, sich der Auslegung anzunehmen. Was ihr nicht sonderlich schwer fallen dürfte, da sich schon die Tripartite von 2006 mit dem Thema beschäftigte, nur dass die selektive Sozialpolitik damals „Kampf den Automatismen“ hieß.

Dabei hatten schon Deputierte quer durch alle Parteien schmunzelnd einen Vorschlag parat, wo die selektive Sozialpolitik beginnen könnte: bei der Mammerent. Aber aus Rücksicht auf den Premier, den Koali­tions­partner oder die ältere weibliche Wählerschaft verbreiteten sie ihn nur hinter vorgehaltener Hand.

Als 2001 Parteien und Gewerkschaften am Rententisch eine nach der anderen munter eine Runde Rentenaufbesserungen schmeißen durften, hatte die CSV sich plötzlich mit ihrem bloß gegen die Rentenmauer und den 700 000-Einwohnerstaat grollenden Premier ins Abseits manövriert. Also beschloss Jean-Claude Juncker, selbst in den Rententopf zu greifen und jenen Rentnerinnen ein kleines Wahlgeschenk zu machen, die zwar nie in ihrem Leben Beträge gezahlt hatten, aber dafür seit Generationen zusammen mit Geistlichen, Ordensschwestern und Bauern zu den verlässlichsten CSV-Wählern gehören: den Hausfrauen. Auf diese Weise sollte auch der ADR das Wasser abgegraben werden, welche heftig den rechten, von der Modernisierung der CSV enttäuschten Rand der christlich-sozialen Wählerschaft umwarb.

Die Mammerent soll jenen Müttern zugute kommen, die das taten, was ihnen die CSV-Familienpolitiker während Jahrzehnten ans Herz legten: sich um Kinder, Küche, Kirche zu kümmern, statt einem Broterwerb nachzugehen. Sie wird Müttern gewährt, die über 60 Jahre alt sind oder eine Rente beziehen, auf der sie keine Babyjahre angerechnet bekommen. Sie beträgt monatlich 86,54 Euro pro Kind. Davon werden 2,7 Prozent für die Krankenversicherung und 1,4 Prozent für die Pflegeversicherung abgerechnet. Nach dem heiligen Prinzip konservativer Familienpolitiker von der „horizontalen Umverteilung“ ist die Mammerent unabhängig von Einkommens- und Vermögenslage der Bezieherinnen, also das genaue Gegenteil selektiver Sozialpolitik.

Doch bevor die Mammerent als „Forfait d’éducation“ oder „Erziehungspauschale“ am 28. Juni 2002 Gesetz werden konnte, gab es zwei Probleme zu lösen, die bis heute nachwirken: Um nicht kurz vor den Wahlen eine Gruppe unzufriedener Wählerinnen zu schaffen, die sich als „Härtefälle“ betrachteten, wurde der Kreis der Bezugsberechtigten wiederholt ausgeweitet. So kamen im ersten Jahr, 2003, zu den rund 12 000 Hausfrauen, welche die Mammerent bezogen, noch einmal über 18 000 Rentnerinnen hinzu. Weshalb sich die Kosten auf die ansehnliche Summe von anfänglich fast 85 Millionen Euro und derzeit über 75 Millionen Euro belaufen.

Zwar heißt es im Informationsmaterial des Sozialministeriums, dass die Mammerent vor allem eine nach der Vergangenheit hin gerichtete Maßnahme sei. Denn mit der Zunahme der Frauenerwerbstätigkeit nehme die Zahl der Hausfrauen und damit auch der Mammerenten ab, sie würden nach und nach durch die Anrechnung der Babyjahre bei der Altersversicherung ersetzt. Doch in Wirklichkeit musste der Kreis der Bezugsberechtigten noch einmal erweitert werden.

Aus Kostengründen hatte die Regierung lange darauf bestanden, dass die Mammerent nicht „exportiert“ werden dürfe. Denn Voraussetzung ist, dass die Frauen in Luxemburg wohnten und auch bei der Geburt oder Adoption ihrer Kinder dort lebten. Die Familienministerin konnte allerdings Landsleuten eine Ausnahme gewähren, die bei der Geburt ihres Kindes aus beruflichen oder anderen Gründen im Ausland weilten.

Doch die Europäische Kommission sah die Residenzklausel anders, und so musste die Regierung einen Änderungsantrag zum Pensionsreparaturgesetz vom 19. Dezember 2008 nachreichen, damit die Mammerent auch auf außerhalb des Landes lebende Rentnerinnen ausgeweitet wurde, die unter ein internationales Sozialversicherungsabkommen fallen. Zum Ausgleich für die dadurch entstehenden Kosten hatte der Staatsrat vergebens vorgeschlagen, das Mindestalter zum Bezug der Mammerent von 60 auf 65 Jahre zu erhöhen.

Laut den Jahresberichten der Inspection générale de la sécurité sociale ist jedenfalls von einem Rückgang der Zahl der Mammerent­nerinnen nichts zu merken:

2003 30 277 Bezieherinnen2004 35 610 Bezieherinnen2005 36 270 Bezieherinnen2006 36 227 Bezieherinnen2007 36 295 Bezieherinnen2008 36 409 Bezieherinnen.

Bei der Einführung der Mammerent hatten sich all die anderen Parteien erfolgreich dagegen gewehrt, dass ausgerechnet jene Politiker, die vor der Rentenmauer warnten, die Rentenreserven zusätzlich anzapfen wollten, um ein Geschenk an ihre Wählerschaft zu finanzieren. So dass beschlossen wurde, die Mammerent über den Fonds national de solidarité aus der Staatskasse zu bezahlen.

Anfangs half noch ein buchhalterischer Trick, der darin bestand, dass der Staat die Beiträge, die er zwischen 1988 und 2000 den Arbeiter- und Privatbeamtenpensionskassen für die Finanzierung der Babyjahre zahlte, als „Vorschuss“ für die Mammerent ansah. Deshalb kostete die Mammerent den Staat anfänglich rund 45 Millionen Euro. Doch bereits 2005 musste die Privatbeamtenpensionskasse 6,2 Millionen Euro zurückerstattet bekommen, die jährlichen Kosten für die Staatskasse stiegen auf 74 Millionen und mehr.

Also nahm Premier- und Finanzminister Jean-Claude Juncker einen neuen Anlauf, um die Staatskasse zu entlasten und die Mammerent ohne Rücksicht auf die Rentenmauer den Pen­sions­kas­sen aufzubürden. Das Koali­tionsabkommen von 2004 hatte auch noch einen Mamme­renten-Zusatz für Bezugsberechtigte, deren Einkommen unter dem Mindestlohn liegen, versprochen. Um so den Einwand zu entkräften, dass die Direktorengattin mit der Mammerent den Kosmetiksalon bezahlt.

Aber vor allem hatte es 2004 zum Entsetzen der LSAP-Basis im Koalitionsabkommen geheißen: „Le coût du forfait d’éducation sera désormais pris en charge par le régime général d’assurance pension, à l’exception de celui qui se rapporte aux forfaits d’éducation versés au bénéficiaires de pension d’un régime spécial de pension du secteur public, qui restera à charge de l’État.“ Nach dem erneuten Widerstand gegen diese Pläne wurde stattdessen mit dem Tripartitegesetz von 2006 den Pen­sionskassen die Finanzierung der Babyjahre aufgebürdet – aber das macht nicht einmal zehn Prozent der Mammerent aus. Und im Wahlprogramm der CSV von 2009 und folglich auch im aktuellen Koalitionsabkommen geht keine Rede mehr von der Mammerent. So als wolle die CSV in diesen sozialpolitisch unsicheren Zeiten keine schlafenden Hunde wecken.

Einzige Kostendämpfung blieb die Entscheidung, ab Oktober 2005 die Mammerent nicht mehr an die Index­entwicklung anzupassen. Laut Jahresberichten der Inspection générale de la sécurité sociale beliefen sich die Gesamtkosen der Mammerent trotzdem auf:

2003 84,9 Millionen Euro2004 83,8 Millionen Euro2005 75,9 Millionen Euro2006 75,0 Millionen Euro2007 75,8 Millionen Euro2008 76,1 Millionen Euro.

Binnen einem halben Dutzend Jahren kostete das von der CSV ohne Rücksicht auf Einkommens- und Vermögenslage mit der viel zitierten „Gießkanne“ an ihre treuen Wählerinnen verteilte Wahlgeschenk die Steuerzahler also fast eine halbe Milliarde Euro, inzwischen ist es bereits mehr. Kein Wunder, dass manche Abgeordnete heimtückisch vorschlagen, die selektive Sozialpolitik bei der Mammerent zu beginnen.

Romain Hilgert
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