Solvency II

Sturmwarnung

d'Lëtzebuerger Land du 24.07.2008

Die Alarmglocken geläutet und Sturmwarnung an den Sektor der Captive-Rückversicherungen gegeben hatten die Offiziellen der Luxemburger Versicherungsbranche bereits im März. Ursache: Aus Brüssel zieht ein Tief herauf, das droht, bleibende Schäden in der Versicherungslandschaft zu hinterlassen. Der Richtli­nienvorschlag über die Solvabilitäts- und Eigenkapitalanforderungen für Versicherungsgesellschaften, besser bekannt unter dem Kürzel Solvency II, nehme keine Rücksicht auf die Eigenarten der Captives, deshalb müssten diese sich endlich zu Wort melden und in die Debatte einmischen. So wurde der neue ACA-Präsident Marc Lauer, Foyer, anlässlich des Bran­chentreffens Luxembourg Rendezvous, in der Fachpresse zitiert. Auch die Captives sollten endlich vermehrt an den vom CEIOPS, dem Gremium der europäischen Versicherungsauf­se­her, organisierten Impaktstudien (QIS) teilnehmen. Das haben sie nun auch getan; um die 60 bis 70 Luxemburger Captives beteiligen sich an der bereits vierten Runde der QIS, deren Auswertung bis Ende August, Anfang September vorliegen soll.

Dabei zeigt sich aber schon jetzt: Die Solvency-II-Bestimmungen, die in ihrer aktuellen Form hauptsächlich die großen paneuropäisch agierenden Versicherer arrangiert (d’Land, 26. Oktober 2007), tatsächlich eine Reihe von Problemen für die eher kleinen Captives mit sich bringt. Das liegt an ihrem Geschäftsmodell. Die Captives, die seit der Rückversicherungsdirektive, die Ende 2007 rechtskräftig wurde, als Rückversicherer gelten, gehören Industrie oder Finanzkonzernen. Solchen Unternehmen, deren Hauptaktivität nichts mit Versicherungen zu tun hat, welche ihre Captive als firmeneigene Versicherungsgesellschaft nutzen. Entweder, weil sie hautberuflichen Versicherern zu viel zahlen müssen, damit diese ihre Risiken abdecken, oder weil die Captive als betriebsinternes  Risikomanagement-Instrument dient. Un­ter den rund 260 in Luxemburg beheimateten Captives findet man Konzerne wie den Lebensmittelhersteller Danone, den Pharmariesen Merck, den Uhrenbauer Swatch, etc. Die meisten Captives versichern wenig unterschiedliche Risiken ihres Besitzers, die sich selten materialisieren und deren finanziellen Folgen deswegen auch schwer zu bewerten sind. Dass es so viele Captives hier gibt – Luxemburg belegt in der EU Platz eins vor Irland –, liegt aber auch den provisions pour fluctuation de sinistralité, die hierzulande bereits seit 1984 möglich sind und den Gesellschaften erlauben, durch diese technischen Provisionen Steuern zu stunden. Mit Prämieneinnahmen von jährlich rund drei Milliarden Euro liegt der Steuerbeitrag der Captives bei um die 100 Millionen – eine kleine, aber erhaltenswerte Nische des Luxemburger Finanzsektors.

Die ersten Eindrücke von Branchenkennern nach QIS Nummer vier, gehen ein wenig auseinander. Durch die hohe Bewertung des Katastrophenrisikos im von der Kommission vorgeschlagenen Berechnungsmodell, drohen für manche Captives die Eigenkapitalanforderungen dramatisch anzusteigen. Für eine Gesellschaft, die bisher nur drei Millionen Euro zur Seite legen musste, habe die Simulation nun Anforderungen von 50 Millionen ergeben, so ein Insider. Kaum merklich hingegen der Unterschied zwischen neuem und altem System bei anderen Gesellschaften. Teuer wird es eben, weil das neue Berechnungssystem die Diversifikation von Risiken –  auch die geografische – belohnt, eine Schablone, die auf die Form der Captives überhaupt nicht passt. 

Problematisch sehen Captive-Manager auch den mit Solvency II verbundenen Arbeitsaufwand, den sie als kleine bis kleinste Gesellschaften für überdimensioniert halten, genauso wie die Informationspflich­ten, die ihnen auferlegt werden sollen. Viel, sehr viel müssten Versicherungsgesellschaften künftig über sich selbst verraten. Zu viel für die Captives, die als Einheit eines anderen Konzerns so gezwungen werde könnten, Teile der Geschäftstaktik der Muttergesellschaft preiszugeben. 

Das alles macht anderen Marktteilnehmer weniger Sorgen. Die provisions pour fluctuation de sinistralité näm­lich dürfen, das sieht der Direktivvorschlag vor, für die Zweck der Berechnung zum Eigenkapital hinzugezählt werden. Ein Captive, die seit Jahren Rückstellungen bildet, kann damit die durch Solvency II ansteigenden Kapitalansprüche problemlos abdecken, sagen sie. Sie stören sich eher an der Forderung des CEIOPS, die Gesellschaften sollten nicht mehr als fünf Prozent ihrer Aktiva bei einer Bank deponieren. Das ziehe für manche Captive theoretisch die Zusammenarbeit mit 20 verschiedenen Banken nach sich – auch dies aufgrund ihrer beschränkten Größe keine wirkliche Option. Damit sie künftig dies Anforderun­gen erfüllen könnten, müssten sich die Captives zusammenschließen, grö­ßer werden. Dem Sektor stehe eine Konsolidierung bevor, sagen Beobachter. Das würde auch erlauben, die Risiken zu diversifizieren.

Dass aus dem Direktivenvorschlag explizit hervorgeht, dass die oben genannten Rückstellungen zum Eigenkapital gerechnet werden, ist für Luxemburg ein gute Sache. Zum ersten, weil damit wohl definitiv etabliert ist: Dies ist keine unlautere Steuerpraxis Luxemburgs. Zum zweiten, weil es in Irland, dem einzig anderen nennenswerten EU-europäischen Standort für Captives, diese nicht gibt. Will heißen, irische Gesellschaften werden es schwerer haben, als luxemburgische, die neuen Kapitalanforderun­gen zu erfüllen. Das klappt allerdings auch nur bis ein Schadensfall auftritt und die Rückstellungen gebraucht werden. Ein ähnliches Problem stelle sich für neue Gesellschaften, ohne langjährigen Rückstellungen. Dazu, meinen einige Akteure, werde es fast unmöglich neuen Konzerne von der finanziellen Attraktivität einer Captive zu überzeugen. Wer die genauen Kosten kennen wolle, der müsse alle Parameter in den zwischen verschiedenen Risikokategorien festgelegten Korrelationsmatrizen einstellen können.

Weil dies keine besonders rosigen Aussichten für die Captives sind, hatten Luxemburg und Irland unter slowenischem Ratsvorsitz der Kommission folgende Vorschläge gemacht: Das MCR (minimal capital requirement) also der Pegel an Eigenkapital, der auf keinen Fall unterschritten werden, solle man auf einen festen Betrag fixieren. In der noch jungen Rückversicherungsdirektive war dieser Betrag für neue Captives auf eine Million Euro festgelegt worden, für andere Rückversicherer auf drei Millionen. Danach wird das MCR auf Basis der eingenommenen Prämien berechnet. Dieses vereinfachte Rechenmodell solle auch unter Solvency II für Captives weitergelten, hatten Luxemburger und Iren vorgeschlagen. Denn den europäischen Versicherungspass, der mit der Einbeziehung in Solvency II verbunden ist, will sich – trotz aller Schikanen – niemand entgehen lassen. Ansonsten riskiert man Gesellschaften aus Drittstaaten gleichgestellt zu werden. Weil die Kommission einsehe, dass die Cap­tives aus der EU verschwinden, wenn ihre Eigenarten nicht berücksichtigt werden, habe sie diese Vorschläge wohlwollend aufgenommen. Nun allerdings sieht es so aus, als ob sie zum Bauernopfer würden. 

Vor allem die großen Mitgliedstaaten, in denen die großen Versicherungskonzerne wie Generali, Allianz und Axa zuhause sind, haben ein Interesse daran, das Solvency-II-Paket so schnell wie möglich über den europäischen Instanzenweg zu bringen. Durch die Solvenzberechnung auf Konzernebene – nicht auf Ebene der Filialen in den verschiedenen Ländern, könnten diese, einigen Be­richten zufolge, ihre Eigenkapital­anforderungen um fast die Hälfte reduzieren. Was Geld für mehr Investitionen freimachen, ihnen aber auch erlauben würde (was Foyer und La Luxembourgeoise ärgert) ihre Produkte billiger anzubieten, als lokale, weniger diversifizierte Versicherer. Damit zusammen hängt auch die von der Kommission vorgeschlagenen Aufsicht auf Gruppenebene. Will heißen, vor allem die Aufsicht in der Heimat ist zuständig für die Aktivitäten eines Versicherers, über die nationalen Grenzen hinweg. Nun hat seit Anfang Juli der größte aller Mitgliedstaaten, die Grande Nation, den Ratsvorsitz inne. Und die Franzosen geben mächtig Gas. Finanzministerin Christine Lagarde sagte vergangene Woche dem zuständigen EU-Parlamentsausschuss, sie wolle unbedingt noch vor Ende 2008 eine Einigung im Rat der Finanzminister zustande bringen. 

Damit hat sich Lagarde einiges vorgenommen, denn bisher schalten mindestens zwölf Länder konsequent auf stur. Allesamt solche, deren Versicherungsmarkt von den Filialen ausländischer Großkonzerne dominiert wird. Sie haben Angst, dass ihre Versicherten im Falle einer Insolvenz bei den Entschädigungen hinter den Versicherten des Heimatlandes anstehen müssen. Es fehlt den europäischen Aufsichten das Vertrauen ineinander. Und wen wundert‘s? Den neuesten Kompromissvorschlag der französischen Präsidentschaft, der diese Woche in Brüssel auf technischer Ebene verhandelt wurde, nennen den Verhandlungen nahe stehenden Personen „inakzeptabel“. Um die Ängste der Gruppenaufsicht-Gegner zu beschwichtigen, schlug Frankreich vor, 35 Prozent der Kapitalanforderungen sollten in den lokalen Filialen bleiben, 65 Prozent im Land, das den Hauptsitz beherbergt. In Streitfällen zwischen zwei nationalen Versicherungsaufsichten soll CEIOPS nicht nur wie bisher geplant entscheiden – was Insider ohnehin für völlig impraktikabel halten, sondern unkooperative Aufsichten an den Pranger stellen. Nun stellt sich die Frage nach der Verhandlungstaktik der Unterhändler, deren Neutralität Kenner in Frage stellen. Denn der französische Kompromiss war so minimal, dass er niemals die Zustimmung aller Delegationen finden wird. Vor allem aber sind Sonderwünsche, die im vorherigen Kompromisspapier bereits akzeptiert waren  – wie die separaten Berechnungsregeln für Captives – ohne Erklärung der Franzosen aus dem aktuellen Verhandlungspapier wieder verschwunden. Was zur Vermutung führt, dieses solle später als Pfand für die Zustimmung zur Gruppenaufsicht dienen.

Besonders weil Luxemburg zu den Ländern gehört, die keinen Vorteil aus dem System zu erwarten haben. Nischen wie die Captives konnte sich das Land nur durch seine gute Reglementierung und anerkannte Aufsicht öffnen. Die vom Commissariat aux Assurances bei den Captives gesammelte Erfahrung in der Überwachung von Rückversicherern war mit Sicherheit eines der Argumente, das Swiss Re dazu bewog, nach Luxem­burg zu ziehen. Sind künftig ausschließlich die Heimataufsichten zu­ständig, wird es schwieriger werden, eine solche Standortpolitik zu betreiben. Deswegen müsste das Dossier eigentlich auf der Prioritätenliste der Regierung, gleich unter dem Eintrag „Zinsbesteuerung“ stehen. Christine Lagarde, und nicht nur sie, möchte nämlich, ist das Prinzip der Gruppenaufsicht erst einmal für die Versicherungen angenommen, dieses auf andere Bereichen der Finanzbranche ausdehnen. Die derzeitige Finanzkrise, gibt ihr dafür gute Argumente in die Hand. Nur für Luxemburg wäre dies das Katastrophenszenario schlechthin. Budgetminister Luc Frieden betont nur zu gern, die Finanzbranche im Allgemeinen und die Fondsbranche im Besonderen habe sich nur dank schneller Umsetzung von Direktiven, einem günstigen Gesetzesrahmen und einer „geschäftsfreundlichen“ Aufsicht so gut entwickeln können. Kommt die Gruppenaufsicht auch für Banken und andere Finanzdienstleister, gehen diese Vor­teile verloren. 

Michèle Sinner
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