Kurze Chronik der Spanischen Grippe in Luxemburg

„Loosst déi jong Leit liewen! Loosst déi al Leit stierwen!“

d'Lëtzebuerger Land vom 07.08.2020

„Loosst déi jong Leit liewen! Loosst déi al Leit stierwen“ sangen die Kinder, als sie am Vorabend des Sankt Blasius Festes 1919 in der Hauptstadt Luxemburg von Haus zu Haus zogen und mit dem Volkslied Léiwer Herrgottsblieschen um Süßigkeiten baten. Der Vers beschreibt die sanitäre Situation, in der sich das Großherzogtum Luxemburg im Februar 1919 befand, sehr treffend. Die dritte Welle der Spanischen Grippe, die Schätzungen des Medizinhistorikers Henri Kugener zu Folge insgesamt etwa 2 300 Menschen in Luxemburg das Leben kostete, hatte das Land fest im Griff. Mehr und mehr ältere Menschen starben, während die Kinder die Krankheit gut überstanden.

Zeitgenössische ärztliche Berichten und Zeitungsartikel erlauben es uns, den Verlauf der Spanischen Grippe und den Kampf gegen die Pandemie 1918/19 in Luxemburg nachzuzeichnen.

Die Grippe im Anmarsch

Über die Frage, ob der amerikanische Soldat Albert Gitchell, der sich am Morgen des 4. März 1918 in Camp Funston, Kansas über Fieber, Kopf- und Halsschmerzen beklagte, Patient 0 der Spanischen Grippe war, diskutieren Epidemiologen und Seuchenhistoriker seit Bekanntwerden der Krankheit. Diese Frage interessiert uns nur insofern, als das Auftreten der Krankheit 1918 in Zusammenhang mit dem Transport von deutschen Kriegstruppen stand, die sich in den Schützengräben der Westfront, wo sich die Krankheit seit Mitte April ausgebreitet hatte, angesteckt hatten. Im Bericht des medizinischen Sanitätsinspektors des Kantons Capellen und Arzts der Eisenbahngesellschaft Guillaume Luxembourg, Dr. Felix Arend, heißt es, dass die Seuche Ende Juni durch das „Militär resp. durch die über unsere Grenzen hinausfahrenden Eisenbahner eingeschleppt“ worden sei. In ihrer Lokalrubrik notierte die Obermoselzeitung lakonisch: „Hollerich, 10. Juli. Die sogenannte spanische Krankheit hat ihren Weg nun auch zu uns gefunden. Zahlreiche Fälle sind bereits ärztlicherseits festgestellt.“ Den
Namenszusatz „spanisch“ verdankte die Grippe der Erkrankung des spanischen Königs Alfons XIII. und seines Kabinetts Ende Mai des gleichen Jahres. Während die Medien der kriegsführenden Nationen Nachrichten zurückhielten, die die Moral ihrer Landsleute destabilisieren konnten, durfte die Presse des neutralen Spaniens vergleichsweise unzensiert über die neue Krankheit und über die Maßnahmen, die spanische Ärzte dagegen ergriffen, berichten.

Als erstes Luxemburger Todesopfer galt der „Arbeiter und Friseur“ Franz Feller aus
Neudorf, den die Obermoselzeitung als „Muster eines sorgsamen Hausvaters und Vater von fünf kleinen Kindern“ beschrieb. Feller starb am 5. August 1918 nach einer zweitägigen doppelseitigen Lungenentzündung.

Die drei Wellen

Die Spanische Grippe verbreitete sich in drei Wellen. Wie überall auf der Welt verlief die erste Welle im Frühsommer 1918 auch in Luxemburg relativ leicht und wurde wohl deshalb auch nicht im Bericht des medizinischen Kollegiums zur sanitären Lage Luxemburgs 1918 erwähnt. 1919 charakterisierte Sanitätsinspektor Arend die Grippe als „anfänglich gutartiger Natur“ und hielt fest, dass die meisten Betroffenen ihre Arbeit nach vier bis fünf Tagen wieder aufnehmen konnten. Im Kanton Clerf schien die Grippe, die vereinzelt und harmlos auftrat, im August erloschen zu sein. Allein der Sanitätsinspektor des Kantons Esch/Alzette, Dr. Pierre Metzler, beschrieb die frühsommerliche Epidemie bereits als sehr heftig. Das mag damit zusammenhängen, dass die Stadt Bettemburg als Eisenbahnknotenpunkt, der Luxemburg mit der Westfront verband und in der viele Zugführer wohnten, zum dicht besiedelten Kanton Esch/Alzette gehörte. Sanitätsinspektor Arend meinte im Nachhinein auch festgestellt zu haben, dass Orte mit militärischer Besatzung heftiger und länger von der Krankheit heimgesucht worden seien als Gegenden ohne Militärpräsenz.

Aufgrund der Unterschätzung der Gefahr, die von der Influenza ausging, traf ihre Rückkehr Luxemburg im August 1918 weitgehend unvorbereitet. Infolge der durch die Krankheit bedingten Komplikationen, zu denen „Entzündungen resp. Eiterungen der Lungen, des Herzens, der Gewebe, der Gelenke, der Nerven, des Gehirns, des Darmes, also fast aller Organe [gehörten und ] die häufig in einigen Tagen, manchmal blitzartig zum letalen Ende führten“, wurde sie, um es mit den Worten von Felix Arend auszudrücken, innerhalb eines Monats zum „Schreckgespenst“. In der Abgeordnetenkammer war die Krankheit kein Thema. Sie fand lediglich am 25. Oktober 1918 im Zusammenhang mit der krankheitsbedingten Lahmlegung des Friedensgerichts in Esch/Alzette Erwähnung. Bereits am 18. Oktober 1918 hatte das Tageblatt die Regierung aufgefordert, einzugreifen, um die „nicht Infektierten“ zu schützen: „Es steht viel, sehr viel auf dem Spiel und könnten sich Gleichgültigkeit und Bürokratismus bitter rächen. Es heißt rasch handeln.“ Die Grippe bedingten Krankmeldungen belasteten die ohnehin durch den Krieg geschwächte Wirtschaft. Am 23. Oktober 1918 berichtete das Luxemburger Wort, dass im Düdelinger Hüttenwerk nur noch drei von sechs Hochöfen in Betrieb seien. Arbeiterentlassungen seien jedoch nicht erfolgt.

Nach dem vorläufigen Abflauen der Grippe im Dezember 1918 überrollte die dritte Welle der Krankheit Luxemburg zwischen Februar und April 1919.

Spekulationen über den Krankheitserreger

Aufgrund seiner Winzigkeit war der Erreger der Spanischen Grippe unter den 1918 in der Bakteriologie gängigen optischen Mikroskopen nicht zu sehen. Erst das Anfang der 1930er-Jahren von den Deutschen Max Knoll und Ernst Ruska entwickelte Elektronenmikroskop ermöglichte die Sichtbarmachung von Viren. Der für die Spanische Grippe verantwortliche Influenza-A-Virus H1N1 wurde 1943 erstmals optisch erkannt. In den Sanitätsberichten und in der Presse tauchte der Begriff Virus dennoch immer wieder auf. Er wurde als Sammelbezeichnung für viele Arten von Krankheitsüberträgern gebraucht.

Die Erklärungen von Luxemburger Sanitätsinspektoren zu den Krankheitsursachen spiegeln den damaligen bakteriologischen Wissensstand wider. Der Sanitätsinspektor des Kantons Mersch, Dr. Victor Dasburg, meinte, dass man es mit „einer septischen Blutkrankheit, für deren Auftauchen wahrscheinlich das Kriegselend und die Verwesungen auf den Schlachtfeldern anzuschuldigen“ seien, zu tun habe. Dasburg vermutete also, dass es sich bei der Krankheit um eine Blutvergiftung handelte. Der für die Kantone Diekirch und Vianden zuständige Sanitätsinspektor Dr. Jean Boever war der Meinung, es handele sich „bei den Schwerkranken […] um eine Mischinfektion durch Influenzabakzillen mit Streptokoken, wodurch disseminierte Eiterherde in den Körperorganen entstanden, sehr oft mit letalem Ausgange.“ Seine Erklärung griff auf die seit der Russischen Grippe von 1892 gängige Theorie über das Haemophilus influenzae-Bakterium aus Nasen- und Rachenraum zurück, das man bei vielen Grippetoten entdeckte.

Der Luxemburger Schularzt Dr. Eugène Giver, der in seinem Sonderbericht über die Situation in den hauptstädtischen Grundschulen unterstrich, dass seine Äußerungen auf Beobachtungen fußten, befand, dass es sich um zwei unterschiedliche Infektionen handeln müsse. Die erste werde von einem „virus fixe“ übertragen, der sich auf die beim Sprechen, Niesen und Husten freigesetzten Tröpfchen „fixiere“ und sich dann in der Nase, im Rachen und in der Luftröhre festsetze. Die zweite Erkrankung, die er als „grippe nerveuse“ bezeichnete, und von der wir heute wissen, dass es sich um eine Hirnhautentzündung handelte, die häufig als Sekundärinfektion der Grippe beobachtet wurde, führte er auf einen frei in der Luft schwebenden Erreger zurück.

Der damalige Direktor des 1900 in Luxemburg per Gesetz gegründeten praktischen bakteriologischen Laboratoriums, Dr. August Praum, hatte an bakteriologischen Weiterbildungen am Robert Koch-Institut in Berlin und am Pariser Pasteur-Institut teilgenommen. Beide Institute gehörten 1918 zu den weltweit führenden Zentren für die Erforschung von Infektionskrankheiten. Die luxemburgische Presse berichtete über Forschungserfolge aus Paris. Am 1. November 1918 schrieb das Luxemburger Wort, das Pasteur-Institut habe ein Serum gegen die Komplikationen der Grippe in der Luftröhre und in der Lunge gefunden. Das Blatt bezog sich wahrscheinlich auf den Selbstversuch des Arztes René Dujarric de la Rivière. Dieser hatte sich das filtrierte Blut eines Influenza-Patienten von einem Kollegen injizieren lassen. Der Forscher erkrankte daraufhin, genas und reagierte anschließend negativ auf den filtrierten Auswurf eines Grippe-Kranken, den er sich in den Rachen pinselte. Aus diesem Experiment schloss er, dass ihn das eingespritzte Serum immunisiert hatte. Aus heutiger Perspektive wissen wir, dass er nicht durch das injizierte Blut erkrankt war, sondern dass er sich wahrscheinlich bei dem Kranken, dem er das Blut für sein Experiment entnommen hatte, über die Atemwege angesteckt hatte.

Der Verlauf der Krankheit

Der Bericht des Schularztes der Gemeinde Luxemburg liefert uns einen Einblick darüber, wie zeitgenössische Ärzte den Verlauf der Krankheit bei Erwachsenen und Kindern wahrnahmen. Als einzige Gemeinsamkeit stellte Giver fest, dass die Krankheit bei allen Betroffenen plötzlich und mit ungewohnter Heftigkeit ausbrach und die Opfer von einer tiefen Mattigkeit befallen wurden. Auf zwei bis drei Tage Krankheit folgte bei den Schulkindern eine ebenfalls zwei bis dreitägige Rekonvaleszenz. Insgesamt verlief die Krankheit sehr gutartig und harmlos: „D‘emblée, la grippe infantile prend le caractère mixte de catarrhale, nerveuse (et gastro-intestinale) avec céphalée, mal de gorge et toux (plus rarement de colique et de diarrhée).“ Komplikationen waren, wenn auch nicht absolut unbekannt, so doch zumindest sehr selten. Rückfälle stellte der Schularzt keine fest. Anders verhielt es sich bei den Erwachsenen, „où l’épidémie grippale à un moment donné, prenait des allures catastrophales et où il y a eu même de nombreux cas de mort foudroyante.“

Der Bericht des Ärztekollegiums bestätigte Givers Aussage: [La grippe] a été bien meurtrière, et elle a fait des ravages surtout parmi la classe ouvrière sur la brêche, et les adultes imprévoyants. Nous la retrouverons en 1919 avec un second retour offensif, très violent encore.“ Sanitätsinspektor Arend stellte fest, dass niemand vor der Krankheit geschützt sei. Er notierte, dass viele Einwohner des Kantons Capellen „zweimal, manche sogar dreimal [davon befallen worden seien]. Anfänglich [seien] ältere Leute sowie Kinder unter 12 Monaten verschont [geblieben], später jedoch [seien] auch diese und zwar nicht zu leicht davon ergriffen [worden]. Daß die Unterernährung beim tödlichen Ausgange eine gewisse Rolle [spiele, sei] nicht zu leugnen, doch [seien] Todesfälle bei den bestgenährten und den kräftigsten Leuten nicht allzu selten gewesen. Während der Genesung [spiele] die [kriegsbedingte] Unterernährung eine große Rolle indem viele, selbst leichte Fälle sich Wochen, ja Monate lang bis zur vollen Genesung“ hinzögen.

Die Eindämmung der Grippe

Am 9. August 1918 empfahl die Obermoselzeitung ein Hausmittel, das in einem Leserbrief, der in einem „englischen Blatt“ veröffentlicht worden war und den Verfasser 1912 in Schottland vor der damals dort grassierenden Grippe geschützt haben soll. Es bestand im „Schnupfen von Tabak, der mit großer Geschwindigkeit die heimtückischen Bazillen in der Entwicklung“ hemmen und vernichten sollte. Die Zeitung L’indépendendance luxembourgeoise berichtete am 14. März 1919, dass sich die Pariser Akademie der Wissenschaften mit Methylenblau als Grippemittel auseinandersetzte. Der Metzer Arzt Dr. Blum behauptete, er habe es in 250 Fällen erfolgreich eingesetzt. Blum bevorzugte die intravenöse Injektion. Die Einnahme des Medikaments über den Mund führe zu Verdauungsproblemen und die intramuskuläre Injektion sei häufig schmerzhaft, so der Arzt. Methylenblau wurde unter anderem als Malariamittel eingesetzt. Beiden Mitteln war gemeinsam, dass sie nichts gegen die Krankheit bewirkten.

Am 2. November 1918 veröffentlichte ein unbekannter Autor im Luxemburger Wort „Schutzmaßnahmen gegen die Grippe“. Die Ratschläge zum persönlichen Schutz von Kranken und Gesunden lauteten: „Beim Husten und Niesen halte dir ein Taschentuch vor den Mund. Beim Sprechen bleibe wenigstens einen halben Meter von deinem Gegenüber entfernt und dulde auch nicht, daß jemand beim Sprechen näher an dich heranrückt. In der Elektrischen oder auf der Plattform, im Theater u. s. w. unterhalte dich überhaupt nicht; lassen sich kurze Besprechungen im engen Raum nicht vermeiden, dann sprich nicht in deinen Nebenmann hinein, sondern an ihm vorbei und wenn er sich beim Sprechen beharrlich dir zukehrt, dann wende das Gesicht ab.“

Die Grippe betraf die Kommunen des Landes nicht gleichzeitig und nicht mit der gleichen Heftigkeit, so dass die Eindämmungsmaßnahmen unterschiedlich ausfielen. Die Sanitätsinspektoren ordneten das Verbot von Ansammlungen und das Schließen von Schul-, Tanz-, Konzert- resp. Versammlungssälen an. Die Volksversammlungen und Lampion-Umzüge, die vielerorts in Luxemburg im Zusammenhang mit dem Waffenstillstand vom 11. November 1918 stattfanden, trugen sicher ebenso zur Verbreitung der Krankheit bei wie die politischen Demonstrationen der unmittelbaren Nachkriegszeit. Insgesamt beklagte Sanitätsinspektor Arend, dass Verhütungsmaßregeln wie der Besuch von Tanz-, Konzert- und anderen Versammlungssälen vielfältig außer Acht gelassen worden seien. Die Schließung der Lokale konnte deshalb auf die Dauer nicht beibehalten werden. Das antiklerikale Tageblatt wunderte sich am 4. November 1918, warum der protestantische Tempel und die Synagoge „behördlicherseits“ wegen der Ansteckungsgefahr geschlossen worden seien, während die katholischen Kirchen unentwegt geöffnet bleiben. Der unbekannte Schreiber spottete: „Es wäre ja eine schöne Sache, wenn das Betreten letzterer gegen Krankheitserreger immunisieren würde.“

In dem vom Luxemburger Wort am 2. November 1918 veröffentlichten Schutzmaßnahmenkatalog hieß es weiter: „Besondere Gefahr entsteht, wenn viele Personen in demselben Raume lange Zeit zusammen bleiben oder gar schlafen müssen, wie in Schulen oder Kasernen. Beim Herrschen einer so weit verbreiteten Krankheit, wie es zurzeit die Grippe ist, kann der Unterricht nur dann aufrecht erhalten werden, wenn es möglich ist, die Schüler mindestens 1 Meter weit auseinander zu setzen. Es kommt dabei gar nicht darauf an, ob in der Klasse viele Schüler wegen Krankheit fehlen, weil der Verdacht besteht, daß gerade unter den Kindern leichte Fälle von Erkrankungen vorkommen. Dann muß damit gerechnet werden, daß unter den Kindern besonders viel Bazillenträger sind, die die Krankheitserreger verschleppen.“

Mancherorts erfolgte die Schließung der Schulen anfänglich auf die eigenmächtige Anordnung der Bürgermeister, wie der Sanitätsinspektor des Kantons Mersch, Dr. Dasburg, in seinem Bericht festhielt. Die Ortsvorsteher wurden in dem Fall von Schulinspektoren auf den korrekten Instanzenweg über die Sanitätsinspektoren hingewiesen. Mit der Schließung der Grundschulen im Anschluss an den Grippehöhepunkt Mitte Oktober 1918 bis Januar 1919 ging die Zahl der kindlichen Grippefälle in der Stadt Luxemburg drastisch zurück. Nach der Öffnung der Schulen kam es im Februar 1919 zu einer erneuten Welle, die Schätzungen des Schularztes Dr. Giver zufolge etwa
30 Prozent der Grundschüler betraf. Die Krankheit verebbte während der Osterferien, nachdem sich seit dem Herbst 1918 ungefähr 1 900 Schulkinder angesteckt hatten. Diese Zahl entsprach 80 Prozent der Grundschüler.

„Bei der großen Zahl der Erkrankten und bei dem in der weitaus überwiegenden Mehrzahl der Fälle leichten Verlauf der Krankheit ist es nicht möglich, alle Kranken ins Krankenhaus zu bringen“, schrieb der Autor des bereits erwähnten Artikels im Luxemburger Wort vom
2. November 1918. Aufgrund der Präzision seines Textes dürfen wir annehmen, dass er über medizinische Kenntnisse verfügte. Er wies darauf hin, dass Personen mit leichter Grippe ebenso ansteckend seien wie Schwerkranke mit Lungenentzündung. Da der Kranke mit Lungenentzündung aber häufiger huste und die „Teilnahme“ seiner Angehörigen und Freunde eher herausfordere, unterstrich der Schreiber, ins Krankenhaus gehöre nur, wer mit der Pflege zu tun habe und forderte Krankenbesuche zu verbieten. Wenn der Kranke zu schwach sei, um jedes Mal beim Husten ein Taschentuch vor den Mund zu halten, empfahl er, in Mundhöhe quer über das Bett ein Mundtuch zu spannen, an dem die Bakterien hängen blieben und „anklebten“. Dass er das Tränken des Tuches in einer Desinfektionslösung zum Schutze des Umfelds für unnötig hielt, hing vielleicht teilweise damit zusammen, dass es dem staatlichen Desinfektionsdienst 1918 beinahe unmöglich war, sich das damals übliche wasserlösliche Desinfektionsmittel Lysol zu beschaffen, wie der Direktor des bakteriologischen Laboratoriums in seinem Jahresbericht vom 31. Dezember 1918 festhielt. Praum unterstrich zwar, dass man auf die Reserven der vorherigen Jahre habe zurückgreifen können und die Desinfizierungsmaßnahmen nicht unter der Knappheit gelitten hätten, erwähnte aber auch, dass Ersatzmittel in den Einsatz gekommen seien. Ebenso wie der Leiter des Pasteur-Instituts Emile Roux befand Praum, dass die Desinfektion von Räumen für Patienten mit ansteckenden Krankheiten bis zu einem gewissen Grad überflüssig sei, wenn sie täglich mit Sägemehl gekehrt würden, das leicht mit einer Lösung von Kalkchlorid angefeuchtet wurde. Er empfahl dennoch, die Möbel sowie die Böden und die Holzverkleidungen der Räume von Zeit zu Zeit zusätzlich mit einer zweiprozentigen
Lysollösung oder mit einem Bleichmittel (Eau de Javel) zu reinigen. Die Wäsche der Kranken sei in gut verschlossenen Behältern oder zumindest in Säcken zu sammeln. Vor dem Waschen müsse sie für einige Stunden in eine zweiprozentige Kresollösung getaucht werden. Das Stroh der Matratzen sowie Gegenstände von geringem Wert sollten verbrannt, Besteck und Geschirr abgebrüht werden. Patienten mit Masern, Scharlach, Diphtherie, Grippe und Hirnhautentzündung seien durch ihre nasalen, bukkalen und pharyngalen Sekrete besonders ansteckend und müssten isoliert werden.

Die Bilanz der Grippe

Über die Anzahl der Infizierten und Todesopfer der Spanischen Grippe in Luxemburg gibt es keine offiziellen Statistiken. Die „neue“ Krankheit gehörte nicht zu den Seuchen, die auf Basis eines großherzoglichen Beschlusses vom 22. Juni 1902 und ministeriellen Verordnungen von 1902 und 1904 von der Bürokratie erfasst wurden. Informationen über die Krankheit konnten nur auf freiwilliger Basis zusammengetragen werden. Am 5. November 1918 veröffentlichte der Medizinal-Inspektor, Dr. August Weber, eine Anzeige im Luxemburger Wort, in der er die Eltern schulpflichtiger Kinder „höflichst“ bat, den betroffenen Schulleitungen über folgende Punkte Auskunft zu geben: „1. Zahl der schulpflichtigen Kinder. 2. Zahl der an Grippe erkrankten Kinder. 3. Zahl der Erwachsenen: Seit wann sind sie fieberfrei? 4. Zahl der tödlich verlaufenen Fälle. 5. Zahl der noch nicht erkrankten Kinder.“ Die Schulleitungen wurden aufgefordert, diese Angaben an ihn weiterzuleiten. Am 3. Oktober 1918 hatte die linksgerichtete Volkstribüne gehöhnt: „Um die ‚spanische‘ Krankheit zu vertreiben, lasse man sie von einer neu zu gründenden Gesellschaft ‚restlos‘ erfassen und darauf einen Höchstpreis dafür festsetzen. Nach den bisherigen Erfahrungen ist die Krankheit dann im Nu verschwunden.“

Die Berichte der kantonalen Sanitätsinspektoren geben teilweise Aufschluss über die Opferzahlen. Im Kanton Esch/Alzette waren die meisten Erkrankten zwischen 20 und 40 Jahre alt und die Mortalität betrug etwa 3 Prozent. Der Sanitätsinspektor des Kantons Clerf sprach lediglich von zahlreichen Opfern. In den Kantonen Diekirch und Vianden trat die Grippe in den Herbstmonaten „massenhaft“ auf und „nahm oft einen bösartigen Charakter an. Besonders die Jugend und Kinderwelt war [dort] stark beteiligt.“ Ab November flaute die Krankheit ab. Im Kanton Redingen verbreitete sich die Epidemie erst ab Oktober, und es kam innerhalb von vierzehn Tagen zu „Massenerkrankungen“. Der betroffene Sanitätsinspektor schätzte, dass mindestens drei Viertel aller Einwohner erkrankten. „Am schwersten angegriffen wurden junge Leute, besonders im Alter von 20—40 Jahren, während ältere Personen dort häufig ganz verschont blieben oder nur leicht erkrankten. Einen bösartigen Charakter hat aber die Krankheit während ihrer ganzen Dauer nie gezeigt.“ Todesfälle waren eher selten und auf die „so sehr gefürchtete[n] Grippe-Pneumonien“ zurückzuführen. Die Sanitätsinspektoren der Kantone Wiltz, Echternach und Grevenmacher erwähnten die Krankheit mit keinem Wort. In den Gemeinden des Kantons Remich waren die Sterbeziffern dem Sanitätsbericht nach höher als gewöhnlich.

In der Kranken-Messe der Muttergottes-Oktave von 1919 wurde der „ungezählten Opfer der Grippe“, die auf „Kirchhöfen zur Ruhe“ gebracht worden waren, gedacht. In einem an den Präsidenten der Krankenkassen der Arbed, Leo Metzler, gerichteten offenen Schreiben empörte sich der Schriftführer des Luxemburger Ärztesyndikats am 7. Juni 1919 darüber, dass die Krankenversicherungen des Arbed-Werkes Düdelingen und der Arbed-Gruben das Krankengeld von fünf Franken täglich auf
3,75 Franken heruntergesetzt hatten, um das Defizit, das ihnen durch die Grippe-Epidemie entstanden war, zu decken.

Nach ihrem Verebben 1919 verschwand die Spanische Grippe bis zum Ausbruch der Covid-19-Pandemie weitgehend aus dem kollektiven Gedächtnis der Luxemburger Gesellschaft. Wird nun die „neue“ Grippe 2020 zu dem sanitären Luxemburger Erinnerungsort werden, zu dem es die „alte“ Grippe nicht gebracht hat? Oder wird auch sie nach anfänglicher Aufregung in den Tiefen des Bewusstseins der Betroffenen verschwinden?

Marie-Paule Jungblut unterrichtet derzeit Public History am Historischen Institut der Universität Luxemburg und ist Maître de conférences am museologischen Institut der Universität Lüttich. 2004/05 kuratierte sie die internationale Wanderausstellung Sei sauber. Eine Geschichte der Hygiene und der öffentlichen Gesundheitsvorsorge in Europa.

Literatur

Allerlei. (1918). Volkstribüne.

Düdelingen, 23. Okt. (1918). Luxemburger Wort.

Esch, den 18. Oktober 1918. (1918). Tageblatt.

Giver. (1921). 1918. In Mémorial N° 93(1920). https://doi.org/10.1007/bf02985807

Grippe und Schulbesuch. (1918, November 5). Luxemburger Wort.

Hollerich, 10. Juli. (1918, Juli 12). Obermoselzeitung.

Kurze Meldungen. (1918, November 1). Luxemburger Wort.

Luxemburg. - Die Grippe. (1918, November 4). Tageblatt.

Neudorf, 5. Aug. (1918, August 6). Obermoselzeitung.

Rapports sur la situation sanitaire du Grand-Duché de Luxembourg pendant l’année 1918. (1920). In Mémorial N° 84 (1919) (S. 1–24). Luxembourg: Victor Buck.

Schutzmaßnahmen gegen die Grippe. (1918, November 2). Luxemburger Wort.

Stimmen aus der Leserwelt. (1919). Luxemburger Wort.

Spinney, L. (2018). 1918 Die Welt im Fieber. Wie die Spanische Grippe die Gesellschaft veränderte. München: Carl Hanser Verlag.

Thewes, G. (2004). 1918, die große Grippe in Luxemburg“. Ein Vortrag [von Dr. Henri Kugener] im hauptstädtischen Geschichtsmuseum. Luxemburger Wort.

Un remède contre la grippe. (1919). L’indépendance luxembourgeoise.

Wie schützt man sich gegen die Spanische Krankheit? (1918, August 9). Obermoselzeitung.

Zur Muttergottes-Oktave. (1919). Luxemburger Wort.

Marie-Paule Jungblut
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