Luxemburgensia

Im Inneren von Allem wühlen

d'Lëtzebuerger Land du 01.12.2023

Sind Lebensgeschichten vielleicht nicht mehr als Stillleben, die irgendwann mal „ins Rutschen geraten“? Mit Das Geräusch der Stillleben knüpft Guy Helmingers Erzählband nicht nur mit seinem Titel nahtlos an den mit dem Servaispreis ausgezeichneten Roman Lärm an. Auch semantisch wird hier erneut verdeutlicht, dass Helmingers Bücher sich weitaus weniger um das Stendhalsche Kredo scheren, laut dem die Literatur die Wirklichkeit entlang der sprichwörtlichen Straße einfangen soll, als dass sie unermüdlich die Kluft darstellt zwischen der Realität und der Art, wie wir sie entstellen, missinterpretieren oder gar misshandeln, sei es weil wir sie so, wie sie halt ist, nicht wahrnehmen wollen oder weil wir der ungefilterten Wahrnehmung nicht mehr fähig sind – und es wohl auch nie waren.

Drogenabhängige sehen Engel und Kameras in Sonnenblumen. Ein Pärchen wird von den widersprüchlichen und irgendwann bedrohlichen Lebensgeschichten zweier Nachbarn aus dem Haus, das es gerade erst erworben hat, vertrieben. Ein Schriftsteller muss nach einem Kölner Karneval und den Walfer Büchertagen in die Notaufnahme (bei der Kombination beider Events durchaus verständlich) – und weiß angesichts der zahllosen Bizarrerien, die er dort erlebt, irgendwann nicht mehr, ob er nicht „Opfer eines bösen Vergnügens“ und unfreiwilliger Darsteller in einem schlechten „Medizinerstück“ geworden ist. In Das Geräusch der Stillleben tun die Menschen oft das, was ihnen am liebsten ist und sie am besten können – sie lügen sich in die eigene Tasche, binden sich und den anderen einen Bären auf, erzählen Halbwahrheiten und Ammenmärchen, die ihnen die Welt bedeuten.

Und trotzdem gibt es in diesen Geschichten über vermeintliche Wirklichkeitsentstellungen immer wieder Sequenzen, in denen ebendiese fast poetische, verquere Lesart der Realität einen Gegenentwurf zum drögen Alltag darstellt: In der Story „Kurzke“ erhalten drei Freunde den Eindruck, ihren Freund Ronni von Leukämie zu heilen, weil sie sich Mutproben in einer kollektiven, von der enigmatischen titelgebenden Figur inszenierten Traumwelt stellen; im „Briddel-Effekt“ wird die Welt eines Mathematiklehrers durch eine philosophische Abhandlung, die stets am gleichen Tag und zur gleichen Zeit irgendwo aus einem Regal fällt, auf den Kopf gestellt und in „Unter Garzweiler“ wird das wegen eines Tagebau umgesiedelte Garzweiler zum metaphysischen Ort, in dem eine Figur die Zeit in ihrer Synchronizität erlebt.

Was Helminger gekonnt beschreibt sind Momente des Entgleisens. Das Geräusch der Stillleben fängt diese Erdrutsche der Intimität mal humorvoll, mal einfühlsam, mal zynisch ein: Ein Lehrer lässt sich krankschreiben, um einer Onlineromanze nachzulaufen, die ihm ein erstes nichtdigitales Stelldichein in einem kroatischen Ethno-Hotel vorschlägt. Draga, deren Profilfoto einer kroatischen Popsängerin verdächtig ähnelt, taucht dort vielleicht nicht auf, nach zu viel Sliwowitz während eines äußerst befremdlichen Literaturfestivals träumt Nico Frell aber von einem wenig konsensuellen Geschlechtsakt mit einem Bären – falls es denn wirklich ein Traum war. Wie der Vater der Hauptfigur von Paul Lynchs am Sonntag mit dem Booker Prize ausgezeichneten Prophet Song wird Nico Frells Vater mit dem eigenen Vergessen konfrontiert – und in einer Welt, die der eigene Kopf selbst auslöscht, bleibt ihm nur die Überzeugung, dass auf seinen Sohn Verlass sei.

Die Gefahr, dass ein Schriftsteller irgendwann in Selbstpastiche verfällt, weil er sich zu lange an seinen Themenfelder abgearbeitet hat oder seine Spracheinfälle irgendwann zu routiniert einsetzt, steigt mit der Anzahl veröffentlichter Werke. Dass diese Art Redundanz einem trotz Anflüge des Selbstplagiats Anerkennung in sehr hohen Kreisen bescheren kann, hat Patrick Modiano mit seinem Literaturnobelpreis für das ewig gleiche Buch, dessen gefühlt hundertste Variation er dieser Tage mit La Danseuse veröffentlicht hat und an dem er seit La place de l’Étoile schreibt, erfolgreich bewiesen.

Das Geräusch der Stillleben ist so sehr mit Helmingerismen versehrt, dass man den geschätzt siebzehn eingefleischten Luxemburgensia-Leser*innen, die das Land zählt, fast ein Guy-Helminger-Bingo vorschlagen möchte. Köln (wahlweise auch der 1. FC)? Check. Empathie mit biertrinkender Unterschicht und (teilweise) kriminellen Underdogs? Check. Saufgelage? Check. Gewalttätige Figuren? Check. Postmodernes Spiel mit der autoreferenziellen Figur des Autors? Check. Und schlussendlich die Wirklichkeit, die immer wieder durch die gestörte Wahrnehmung der Figuren in ferne Distanz rückt oder durch das Korrektiv einer zweiten, luzideren Figur in einem epistemischen Zwiespalt schwebt: Bingo.

Trotz all jener werkinterner Redundanzen, die sich vielleicht noch schmerzhafter bemerkbar machen weil der Autor, seitdem er dem deutschen Verlagswesen definitiv den Rücken gekehrt zu haben scheint, in einem Amélie Nothomb nicht unähnlichen Veröffentlichungswahn den allgemein recht ruhigen Luxemburgensia-Markt mit einem Werk pro Jahr überschwemmt, funktioniert Das Geräusch der Stillleben als Erzählband meist recht gut.

Dies liegt nicht nur daran, dass Helmingers Stories eine existenzielle Strahlkraft haben, die seinen letzten beiden Romanen abhandenkam, sondern auch an der Kohärenz einer Fiktionswelt, die sich bruchstückhaft entwickelt und ein wenig an Nora Wageners letzten Erzählband Was habe ich verpasst erinnert, in dem wie auch bei Helminger die Nebenfigur der einen auch mal zur Hauptfigur der darauffolgenden Kurzgeschichte wurde, sodass sich ein semantisches Netzwerk bildete, das den Rahmen der jeweiligen Geschichte sprengte.

Auch wenn einige Stories eher wirken, als hätte Helminger sie hauptsächlich in den Band aufgenommen, um die Schicksale der verschiedenen Figuren weiter zu verflechten, führt dieser Wiedererkennungseffekt nicht nur dazu, die Erzählwelt kohärenter zu gestalten und den Eindruck zu vermitteln, die einzelnen Figuren wären Teil, ein wenig wie bei Thorsten Nagelschmidts Arbeit, einer größeren Fiktionswelt, die im Band nur umrissen wird – er mündet auch in Momente, in denen dieser oft rein anekdotische Wiedererkennungsmoment die Empathie verstärkt: So funktioniert die Wiederbegegnung mit einer Figur, die wir in „Unter Garzweiler“ kennenlernten, gegen Ende des Bandes umso besser, weil sich in der Ellipse zwischen den beiden Stories die Tragik eines gescheiterten Lebens auftut.

Es sind diese Momente, die über einige sprachliche Schwachstellen hinwegtrösten. Von einem doppelten Servais-Preisträger darf man sich bessere Sprachbilder erwarten als die ewigen Bezüge zwischen der Natur und dem Menschen (Augen, die „dunkel wie das Innere der Sonnenblumen“ aussehen) oder dem Wetter und der Metaphysik („als sei das Leben nichts als eine Schneeflocke, sich auflösend im Fall hinab zu einem kroatischen Sandstrand“).

Das Geräusch der Stillleben, von Guy Helminger, 2023 capybarabooks, 352 Seiten, 25 Euro

Don John
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