Quo vadis, Tram? Wie der Abschnitt in der Avenue de la Porte-Neuve zum politischen Hindernis des Ausbaus werden könnte

Immer schön weiter

Nächster Halt, Stäreplaz
Photo: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land du 08.12.2023

Als die grüne Oppositionschefin Sam Tanson die Tram-Thematik bei ihrer Antrittsrede im Parlament ansprach, gab es von der DP-Abgeordneten Simone Beissel einen bras d’honneur. (Es sei ihr entwutscht, weil sie sich so geärgert habe, erklärt sie dem Land. Sie habe sich später bei Frau Tanson entschuldigt.) Davor hatte Tanson mit einem Lächeln in Richtung DP gestichelt und sich darüber gefreut, dass auch die Liberalen nun erkannt haben, dass die Straßenbahn ein „formidabler Erfolg“ sei, ihr im neuen Koalitionsabkommen dennoch weniger Platz eingeräumt wurde als dem Eurovision Song Contest. Vielleicht müsste die neue Mobilitätsministerin Yuriko Backes (DP) noch parteiintern mit der Bürgermeisterin Lydie Polfer verhandeln, ob die Tram die Avenue Porte-Neuve entlang und auch zum CHL fahren dürfe, sagte Tanson. Xavier Bettel und Lydie Polfer hörten zu und nickten. Immerhin hingen die Entwicklung der Hauptstadt, und der Gemeinden Bartringen und Strassen von diesen Entwicklungen ab, ergänzte die grüne Abgeordnete.

An der Baustelle an der Rue des Scillas in Howald wird auch bei Minustemperaturen und Schnee weitergearbeitet. Dem Plan nach sollten im Frühjahr nächsten Jahres die Haltestellen bis Cloche d’Or angefahren werden können; 2025 soll die Linie zum Flughafen fertig sein. Die Ziele der Mobilitätspolitik hat der grüne Ex-Mobilitätsminister François Bausch im Plan national mobilité 2035 (PNM) klar definiert. So soll, neben der Cloche d’Or-Flughafen-Linie, die Straßenbahn ebenfalls durch Neubauviertel fahren und weitere Umsteigeknoten eingliedern: Hollerich hin zum neuen pôle d‘échange Westen; die Route d’Arlon hinunter zum Bouillon; die Route d’Esch hoch nach Esch, Belval und Beles und die zweite Linie in die Viertel Laangfur und Kuebebierg in Kirchberg (über den Boulevard Konrad Adenauer). Weiter heißt es im PNM, dass diese Ziele nur zustande kommen könnten, wenn der Ausbau von 1,5 bis zwei Kilometer pro Jahr auf zwei bis drei Kilometer beschleunigt wird. Die neue Regierung bekennt sich im Koalitionsabkommen zum PNM. Zur Tram heißt es, sie würde sich engagieren „weitere Linien auszubauen“, auch, was die Schnell-Tram angeht. Geplant ist dahingehend bisher die Verbindung nach Esch. Präziser geht es im Abkommen nicht zu.

Den Gesetzentwurf zur Finanzierung des Ausbaus nach Hollerich (lediglich bis zur Route d’Esch, also über das Gelände von Paul Wurth und Heintz van Landewyck) und zum Kirchberg bis nach Laangfur, hat François Bausch im Sommer im Parlament hinterlegt. Er sieht 90 Millionen Euro staatliche Unterstützung sowie 45 Millionen Euro von der Hauptstadt vor. Diese Teilabschnitte sollen Ende 2027, Anfang 2028 in Betrieb genommen werden.

All das übernimmt nun die neue Mobilitätstministerin Yuriko Backes (DP), neben den nicht unkomplizierten Ressorts öffentliche Bauten, Verteidigung und Gleichstellung. Sie gibt sich bedeckt und antwortet per Mail, sie habe vor, die jetzigen Baustellen so schnell wie möglich abzuschließen. Sie arbeite „in der Kontinuität der Arbeit, die bisher geleistet wurde“, und wolle den Erfolg der Tram „mit der gleichen Diszipliniertheit und urbanistischen Qualität wie bisher weiterführen“. Auch die Schnell-Tram nach Esch sei für sie prioritär. Sie wolle sich so schnell wie möglich mit Lydie Polfer zusammensetzen, wahrscheinlich zu Beginn des nächsten Jahres, um die Verlängerung zum CHL und den Abschnitt über die Avenue Porte-Neuve zu besprechen und einen politischen Zeitplan zu fixieren, wann welche weiteren Ausbaustufen aus dem PNM zustande kommen. Die Machbarkeitsstudien seien für diese Abschnitte noch nicht abgeschlossen, heißt es aus dem Mobilitätsministerium. 

Dass die DP die Tram als Verkehrsmittel vorantreibt, ist eine eher rezente Entwicklung. Ende 1994 wurde von den Grünen in der Hauptstadt bereits eine „Hybridbahn“ (BTB) geplant. Die damalige und heutige Bürgermeisterin Lydie Polfer (DP) ließ fünf Jahre später in einer ihrer öffentlichkeitswirksamsten Aktionen vier Busse aneinanderketten und sie von einem Abschleppwagen vom Bahnhof in die Oberstadt ziehen – all das, um zu beweisen, dass eine Straßenbahn die Stauprobleme der Stadt nicht lösen wird. Groß war auch die Ablehnung von Polfers Nachfolger, Paul Helminger (DP), der sich sicher war, dass die Tram in der Avenue de la Liberté zu Spitzenstunden „die Nachfrage“ nicht stemmen könnte, und das als Argument gegen die BTB benutzte (Voix du Luxembourg, 19.12.2001).
Dabei war die Tram keine revolutionäre Idee. In Luxemburg-Stadt verkehrten ab 1875 Straßenbahnen, erst mit Pferden, dann ab 1908 elektrisch. 1964 fuhr die letzte in Richtung Beggen, Busse und Autos nahmen in den folgenden Jahrzehnten mehr Platz in der Innenstadt ein. Ein halbes Jahrhundert nach der letzten Fahrt wurde die Neueinführung einer Tram 2014 im Parlament angenommen, seit dem 10. Dezember 2017 fährt die Straßenbahn. Fundamental infrage gestellt wird das Verkehrsmittel heute, im Gegensatz zu den 90-er und Nullerjahren, von keiner Partei mehr. Immerhin bringt sie täglich mehr als 90 000 Menschen vom Lyzeum in Bonneweg in die Luxexpo. 

Der Knackpunkt liegt für die Grünen allgemein, wie neben Sam Tansons Rede auch eine parlamentarische Frage des Abgeordneten Meris Sehovic vergangene Woche bewiesen, in dem neuen Abschnitt, der am Altersheim Pescatore entlang durch die Avenue-Porte-Neuve fahren und am Boulevard Royal nach rechts abbiegen soll. Hiergegen hatte sich bereits im Sommerloch 2022 Widerstand geregt. Natur & Ëmwelt hatte sich damals an den Mobilitätsminister Bausch gewandt, weil in den Machbarkeitsstudien angedeutet worden war, dass der Stadtpark für die Tram angeschnitten und einige sehr alte Bäume gefällt werden müssten; auch die Vereinigung der Freunde der Festungsgeschichte hatte sich eingeschaltet, Festungsbauten unter Straßenniveau könnten in Gefahr sein. Ein weiteres Problem stelle der rechte Winkel, den die Straßenbahn beim Boulevard Royal nehmen müsste, dar, erklärte die Hauptstadt-DP. Das grundsätzlichere Problem, dass in der Neipuertsgaass dem Auto Platz weggenommen werden müsste, wurde vom städtischen Schöffenrat weniger reflektiert. Derzeit ist die Straße vierspurig. 

Heute wird nicht mehr über die Bäume gesprochen. François Bausch sagt, die Studien zeigten, man bräuchte die Bäume nicht zu fällen. (Bis Redaktionsschluss konnte das Land keine Einsicht in die Studien bekommen.) Für ihn macht eine Linie über die Route d’Arlon und eine Anbindung des CHL an den Kirchberg nur Sinn, wenn man über die Porte-Neuve zum Kirchberg gelangen kann.Das habe sowohl Zeit als auch Infrastrukturgründe. „Wenn zu viele Trams auf der gleichen Trasse verkehren, muss die Taktung weniger werden“, erklärt er. Das beeinträchtige die Qualität. Es ginge darum, ein richtiges Netzwerk auszubauen, sonst stünden die Bahnen sich bald im Weg. Deshalb bräuchte es im Stadtkern eine Ausweichstrecke. Außerdem könne man Menschen aus dem Westen des Landes, die in Bussen zum neuen Knotenpunkt am CHL ankommen werden, nicht zumuten, zwei Mal umzusteigen: am CHL und noch einmal am Hamilius. Das sei eine „Schikane“ und ein Verlust für das Netzwerk. Der Bebauungsplan (PAP) der Stäreplaz hinge an der Entscheidung um die Neipuertsgaass, eine Entscheidung könne nicht ewig verschleppt werden. Er wolle keine Polemik gegen die Bürgermeisterin regen, sagt er – echauffiert sich dann wie jemand, der nichts mehr zu verlieren hat: „Wenn Lydie Polfer noch sechs Jahre so weiter macht, ist die Stadt kaputt.“ 

Lydie Polfer begrüßt in ihrem Büro am Knuedler, die Karte der Stadt hängt hinter ihr wie eine Verheißung. Sie versteht die Angriffe der Grünen nicht, die Zusammenarbeit sei immer gut gewesen, die Entscheidungen seien gemeinsam getroffen worden. Sie erinnert sich daran, wie sie mit Sam Tanson die Farben des Trams ausgesucht hat, die schönen Stühle: „Mir hunn den allerschéinsten Tram.“ Sie wolle „über Fakten“ reden. Die sanfte Mobilität findet sie super – allerdings müsse man die Stadt nach wie vor für den Autoverkehr zugänglich halten. „Sehen Sie sich morgens die beiden Straßen an, die den Individualverkehr noch in die Stadt hineinfahren lassen, die sind voll.“ Thema Avenue Porte-Neuve: Bedeutet es für sie keine Einbuße an Qualität, wenn die Menschen aus dem Umland öfter umsteigen müssen? Lydie Polfer zuckt mit den Schultern und hebt ihre Arme. Das sei dann eben so. Was die Route d’Esch angeht, müsse man schauen, was konkret machbar sei, das könne aber klappen.

Die Kämpfe sind die gleichen wie in anderen europäischen Städten, wo Tram-Befürworter, ebenso wie Fahrradfahrer, gegen andere Einwohner kämpfen, die sich in ihrem Recht aufs Auto eingeschränkt fühlen. Klassisches Nimby, dem man sich als Politiker aussetzen wollen muss. In Wiesbaden, einer ziemlich kleinen Stadt, scheiterte vor drei Jahren ein großes Tram-Projekt, obwohl die dortigen Einwohner ein vergleichsweise ebenso großes Stauproblem haben. Straßburg hingegen wird als Tram-Paradebeispiel gewertet; dort haben die Planer alle vorherigen Verkehrsstraßen in Fußgängerzonen umgewandelt, als sie die Straßenbahn gebaut haben. Luxemburg investiert mehr als andere Staaten in die Infrastruktur, umso erstaunlicher ist es, wie langsam der fundamentale Mentalitätswechsel in manchen Teilen der Politik ist.

Im Gegensatz zu Lydie Polfer ist Yuriko Backes ein vergleichsweise neues Gesicht bei den Liberalen. Ob sie genug politisches Verhandlungsvermögen unter Beweis stellen kann, um im bisherigen Tempo mit dem Netzwerkausbau des Trams fortzufahren und im Umgang mit der ewigen Bürgermeisterin, muss sich zeigen. Lydie Polfer schaut der Zusammenarbeit jedenfalls „mehr als positiv“ entgegen. 

Luxtram wollte sich auf Anfrage des Land übrigens nicht im Zeitrahmen der Recherche positionieren. Die Firma hütet sich vielleicht auch davor, Stellung zu beziehen in einer Debatte, in der ihre Hauptaktionäre, Staat und Gemeinde, offensichtlich nicht immer an einem Strang ziehen – und wartet lieber die ersten Schachzüge der neuen Mobilitätstministerin ab.

Sarah Pepin
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