Zufallsgespräch mit dem Mann in der Eisenbahn

Der parlamentarische Kretinismus

d'Lëtzebuerger Land du 14.08.2020

Seit bald einem Jahr zeigen das Parlament und das Nationale Geschichts- und Kunstmuseum eine Ausstellung über das allgemeine Wahlrecht. Darin wird, ebenso wie im Begleitbuch, vor einem rechten und einem linken Antiparlamentarismus gewarnt. Dieser Rückgriff auf die Totalitarismustheorie ist fadenscheinig.

Zum einen hängen sozialdemokratische und kommunistische Parteien seit ihren frühesten Tagen geradezu mitleiderregend der Verlagerung gesellschaftlicher Konflikte ins Parlament an. In den Siebzigerjahren konnten selbst trotzkistische und maoistische Gruppen es sich nicht verkneifen, bei Kammerwahlen zu kandidieren. Zum anderen bereicherte die linke Theorie das Verständnis der repräsentativen Demokratie um den wertvollen Begriff des parlamentarischen Kretinismus.

Nachdem er die Symptome erstmals in der Neuen Rheinischen Zeitung vom 7. Juni 1848 beschrieben hatte, prägte Karl Marx den Ausdruck Anfang 1852 in Der 18te Brumaire des Louis Napoleon. Er schrieb von einer „eigentümlichen Krankheit“, die „die Angesteckten in eine eingebildete Welt festbannt und ihnen allen Sinn, alle Erinnerung, alles Verständnis für die rauhe Außenwelt raubt“.

Friedrich Engels nannte die infizierten Abgeordneten am 27. Juli 1852 in der New-York Daily Tribune „poor, weak-minded men“. Denn sie „actually believed their paltry amendments, passed with two or three votes majority, would change the face of Europe“. Der parlamentarische Kretinismus „penetrates its unfortunate victims with the solemn conviction that the whole world, its history and future, are governed and determined by a majority of votes in that particular representative body which has the honor to count them among its members, and that all and everything going on outside the walls of their house […] is nothing compared with the incommensurable events hinging upon the important question, whatever it may be, just at that moment occupying the attention of their honorable house“.

Die Deputierten halten ihre Schatten, die sie im Flackern der falschen Kerzen auf den imitierten Säulen ihres Plenarsaals tanzen sehen, für die wirkliche Welt. Seit 1984 glauben sie, nicht eine Verfassung für das Land, sondern ein Land für die Verfassung zu entwerfen. Am Ende jedes Sitzungsjahrs veröffentlichen die Fraktionen und die Parlamentsverwaltung Listen von Hunderten von parlamentarischen Anfragen, Änderungs- und Entschließungsanträgen, deren Einfluss auf die Welt außerhalb des Plenums demjenigen homöopathischer Globuli entspricht. Oppositionsabgeordnete feiern es schon als einen Sieg, wenn eine ihrer Motionen mit knapperer Mehrheit als gewöhnlich verworfen wurde.

Hierzulande wird das Infektionsrisiko des parlamentarischen Kretinismus durch die mangelnde soziale Distanzierung erhöht. So entwickeln die fünf Dutzend Deputierten über Parteigrenzen hinweg einen kumpelhaften Zunftgeist. Er lässt politische Divergenzen wie Mummenschanz für die Galerie erscheinen. Womöglich nährt er den Antiparlamentarismus.

Romain Hilgert
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