Ein 17-Jähriger wurde zu einem Jahr Gefängnisstrafe in Schrassig verurteilt. Der Fall wirft Fragen zu den Grenzen des Jugendschutzes und zum Umgang mit Intensivtätern auf

Blackbox Jugendschutz

d'Lëtzebuerger Land vom 14.08.2020

Man könne das Urteil nicht herausgeben, da es darin um einen Minderjährigen gehe, lautete die kurze Antwort der Justiz-Pressestelle. Das Land hatte eine anonymisierte Kopie eines Urteils der zwölften Strafkammer angefragt, weil es bei einem Prozess nicht zugegen war, bei dem es um keine gewöhnliche Strafsache ging: Am 30. Juli hatten Strafrichter darüber entschieden, ob ein 17-Jähriger, der im geschlossenen Heim in Dreiborn mehrfach Aufseher und Betreuer angegriffen und verletzt haben soll, zu Recht im Erwachsenenvollzug eingesperrt ist. 

Die Praxis der Luxemburger Jugendgerichte, Minderjährige im Schrassiger Gefängnis zu inhaftieren, obwohl es dort keine adäquate Infrastruktur für sie gibt, wird seit Jahrzehnten international als schwerer Verstoß gegen Kinderrechte angeprangert. Eigentlich hätte der Bau der Unité de securité sowie eine (bereits 2003 diskutierte) Reform des Jugendschutzes sie endgültig beenden sollen. Die Jugendrichter allerdings äußerten Zweifel, ob die Unisec, die für erzieherische Interventionen von einigen Monaten gedacht ist, für jugendliche Wiederholungstäter ausreicht.

Von Dreiborn nach Schrassig Der 17-Jährige soll ein Intensivtäter sein. So steht es in einer Mitteilung der Generalstaatsanwaltschaft vom 24. Januar 2020: Am selben Tag hatte das Jugendgericht den Minderjährigen von Dreiborn in den Strafvollzug nach Schrassig überstellen lassen – als „außerordentliche“, aber „unausweichlich“ gewordene Maßnahme. Sein „sehr aggressives Betragen“ habe es unmöglich gemacht, ihn weiter in der Unisec zu betreuen; der Jugendliche kooperierte nicht und hatte ohnehin einiges auf dem Kerbholz: Wegen „zahlreicher Fluchtversuche“ und mehrerer „schwerwiegender Straftaten, darunter Vergewaltigung“ war er in die Unisec eingewiesen worden, wo er mit 13 Monaten ungewöhnlich lange blieb. Zuvor hatte der Minderjährige Station in Erziehungsheimen, in der Jugendpsychiatrie sowie in einer spezialisierten Einrichtung für jugendliche Gewalttäter im belgischen Verviers gemacht. Weil sein Verhalten sich nicht besserte und nachdem er zum fünften Mal Aufseher, darunter den Leiter der Unisec, angegriffen hatte, wurde er ins Schrassiger Gefängnis verlegt.

Das Kommunikee hatte unter Kinderrechtlern und Gerichtsreporter/innen für Erstaunen gesorgt. Es sei „ungewöhnlich, dass sich die Staatsanwaltschaft öffentlich so ausführlich zu einem Minderjährigen äußert“, sagen Journalist/innen, die regelmäßig im Justizpalast Prozesse beobachten. Der Verstoß versetzte das Justizministerium in nervöse Alarmbereitschaft; einen Tag später war mit Renate Winter die ehemalige Vorsitzende des Kinderrechtsausschusses der Vereinten Nationen in Luxemburg zu Gast.

Dieser Fall also stand Ende Juli im Gerichtskalender; verspätet, denn wegen dem Coronavirus hatten die Richter nicht früher tagen können. Aber nicht beim Jugendgericht, das normalerweise für Kinder und Jugendliche zuständig ist: Der 17-Jährige musste sich vor der zwölften Strafkammer verantworten – vor einem Erwachsenenstrafgericht. Artikel 32 des 1992-er-Jugendschutzgesetzes erlaubt, straffällige Minderjährige nach Erwachsenenstrafrecht zu verurteilen, im Ausnahmefall. „Ich habe in meiner Zeit als Gerichtsreporterin vielleicht einen weiteren Fall erlebt“, sagt Fabienne Armborst, Gerichtsreporterin bei Le Quotidien. Eine Mitarbeiterin des Contrôle externe des lieux privatifs hat in zehn Jahren Kontrolltätigkeit lediglich „zwei so Fälle gesehen“. Das Jugendschutzgesetz erlaubt dem Jugendgericht allerdings auch, bei mit Gefängnis belegten Straftaten, die vorm 25. Lebensjahr begangen wurden, über die Volljährigkeit hinaus Erziehungsmaßnahmen zu verhängen.

Jugendgericht gibt Fall ab Belgien (respektive die Französische Gemeinschaft Wallonie-Brüssel), auf dessen (mehrfach überarbeitetes) Jugendschutzgesetz von 1965 Luxemburgs Jugendschutzrecht zurückgeht, gibt für ein Desaississement strenge Kriterien vor: Dort muss ein/e Jugendliche/r mindestens einmal zu einer Haftstrafe verdonnert respektive geschlossen untergebracht worden sein und es müssen ihm/ihr schwere Straftaten vorgeworfen werden, wie Mord, oder Vergewaltigung oder schwere Körperverletzung. Letztere zählt aber nur dann, wenn die Verletzung zu einer „unheilbaren Krankheit“ oder zur „permanenten Berufsunfähigkeit“ geführt hat. Die Hürden sind deshalb so hoch, um den Jugendschutzgedanken nicht zu konterkarieren: Weil Delinquenz im Jugendalter häufiger vorkommt, Kinder und Jugendliche besonders schützenswert sind, weil sie sich je nach sozialen und familiärem Umfeld unterschiedlich gut entwickeln (können), sie durch Phasen der Selbstfindung gehen und Regeln erst noch lernen, soll die Erwachsenenjustiz nur dann einspringen, wenn es gar nicht anders geht.

Die Angriffe gegen die Ordnungskräfte und den Direktor, die dem 17-Jährigen zu Last gelegt werden (Faustschläge gegen den Kopf, Rücken und Brust, Fußtritte, Bespucken) führten zu zwei Tagen Krankenschein. Laura May, Anwältin des Jugendlichen, betonte gegenüber dem Land, sich zunächst gegen eine Überstellung ans normale Strafgericht ausgesprochen zu haben. Doch die Argumente der Richter ähnelten offenbar denen, die die Staatsanwaltschaft für eine Unterbringung in Schrassig angeführt hatte: Weil der 17-Jährige wiederholt mit teils erheblichen Straftaten aufgefallen ist, gab das Jugendgericht das Verfahren ans Erwachsenenstrafgericht ab. 

Ob das wirklich die richterliche Begründung für den Desaississement war, bleibt indes unklar: Das Urteil der Strafkammer, das dem Land, nachdem es sich wegen der Ablehnung beschwert hatte, doch zugestellt wurde, geht nicht auf die Vorentscheidung des Jugendgerichts ein, sondern allein auf die Körperverletzungen. Anwältin May darf und will aufgrund ihres Berufsgeheimnisses nichts Näheres zum Fall sagen. Die Entscheidung des Jugendgerichts falle unter die „procédure secrète“, lässt der Pressesprecher wissen und schickt „der Klarheit halber“ den entsprechenden Artikel 32 des Jugendschutzgesetzes mit.

Die Zurückhaltung entspricht EU-Standards: Für Kinder und Jugendliche gilt ein erhöhter Schutz der Privatsphäre, um Vorverurteilungen und Stigmatisierungen zu verhindern, die sich negativ auf ihren Lebenslauf auswirken könnten. Deshalb finden Jugendgerichtsverfahren in der Regel hinter verschlossenen Türen statt, deshalb dürfen Journalisten über Jugendkriminalität bis auf wenige Ausnahmen nur in anonymisierter Form schreiben. Das bedeutet aber auch: Für Medien, die den Rechtsstaat kontrollieren sollen, ist es schwierig, sich ein unabhängiges Bild über den Verlauf und die Argumentationen eines Jugendgerichtsprozesses zu machen.

(In-)Diskretionen Es war die Generalstaatsanwaltschaft selbst gewesen, die den Fall im Januar ein erstes Mal ins öffentliche Blickfeld gerückt hatte. „Un mineur incarcéré à Schrassig pour des faits de viol et de vols avec violences“, hatte RTL am Tag nach der Erklärung der Staatsanwaltschaft getitelt. Die Vergewaltigungsvorwürfe waren jedoch nicht Gegenstand des Prozesses vor der Strafkammer Ende Juli. Sie seien „auf der Ebene des Jugendrichters“ behandelt worden – und „dies in der Optik, um weiter mit dem Minderjährigen zu arbeiten“, teilt die Pressestelle auf Nachfrage mit. Ein Prozess wegen Vergewaltigung vorm Strafgericht sei nicht mehr geplant.

Land-Informationen nach war es dieselbe Pressestelle der Justiz, die die Journalisten auf den Prozess am 23. Juli erst gestoßen hatte: Im Sitzungskalender war das Verfahren wohl eingetragen; aber aus den aus Datenschutzgründen bewusst spärlich gehaltenen Informationen zu den Verfahren erschließt sich meist nicht, welche Bedeutung einem Prozess zukommt. „Körperverletzungen werden beinahe täglich verhandelt“, erklärt RTL-Gerichtsreporter Eric Ewald. Wären sie nicht darauf hingewiesen worden, hätten die Journalisten nicht gewusst, dass an dem Tag ein jugendlicher Intensivtäter vor Gericht stand.

Der Hinweis der Pressestelle ist vor dem Hintergrund der sonst strengen Abschottung der Jugendjustiz nicht ohne Brisanz: Er führte nämlich dazu, dass die Medien ausführlich über den Fall berichteten, so ausführlich, dass der Kinderrechtsbeauftragte René Schlechter hinterher tadelte: „Ich finde es unglücklich, wenn so Fälle öffentlich breitgetreten werden“. Man habe über die „grenzwertige“ Berichterstattung intern diskutiert, sich dann aber gegen eine Stellungnahme entschieden, „weil der Name des Jugendlichen nicht genannt wurde und weil wir nicht noch mehr Aufmerksamkeit auf ihn lenken wollten“, so Schlechter, der sich bereits über das Kommunikee der Staatsanwaltschaft im Januar gewundert hatte: „Es sieht fast so aus, als wäre hier eine Schiene gefahren worden, um bewusst Öffentlichkeit zu schaffen“.

Politik mit anderen Mitteln? Die umstrittene Jugendschutzreform geht in die entscheidende Phase. Justizministerin Sam Tanson (Déi Gréng) hatte, nachdem ein erster Anlauf ihres Vorgängers Felix Braz heftig kritisiert worden war und dann zurückgezogen wurde, Renate Winter, ehemalige Richterin und Kritikerin der Praxis, straffällig gewordene Minderjährige in Erwachsenengefängnisse einzusperren, als Beraterin an Bord geholt. In den Gesprächen flammte der alte Streit erneut auf: Während Kinderrechtsverbände und Jugendhilfeträger das Einsperren Minderjähriger in Schrassig ein für allemal beendet sehen wollen, plädieren Jugendrichter und Staatsanwälte dafür, eine Hintertür offenzuhalten. Ihr Argument: Es fehlen passende Strukturen für junge Intensivtäter. Tatsächlich legt der Fall des 17-Jährigen nahe, dass die Unisec, obwohl mit psychologischem und erzieherischem Personal ausgestattet und mit Mauern und Maschendraht abgesichert, für sie nicht geeignet ist; darüber hinaus scheint der Jugendschutzgedanke hier an inhärente Grenzen zu stoßen.

Darum wäre eine genaue Analyse so wichtig (die Verteidigung hat noch nicht entschieden, ob sie in Berufung geht): Was ist im Leben des Jungen geschehen, dass zahlreiche Interventionen, Therapieversuche und Erziehungshilfen scheiterten, Erzieher, Psychiater und schließlich sogar Richter nicht mehr weiterwussten? Ist die von den Strafrichtern gesprochene einjährige Haft, davon sechs Monate auf Bewährung, in einem Erwachsenengefängnis vertretbar? Was hat es mit dem Psychiatrieaufenthalt auf sich? Ist der Jugendliche schuldfähig (laut Wort hat er die Körperverletzungen gestanden)? Offenbar liegt ein (der ärztlichen Schweigepflicht unterliegendes) psychiatrisches Gutachten vor, das seine Schuldfähigkeit bestätigt. Um vorzeitig aus der Haft entlassen zu werden, muss der Jugendliche, so lautet die Auflage, seine Aggressionen psychiatrisch behandeln lassen: Wie steht es um seine psychiatrische Versorgung in Schrassig, wenn nicht mehr die über die Unisec vermittelten Jugendpsychiater zuständig sind? Einen gesunden Jugendlichen in eine Psychiatrie zu setzen, oder umgekehrt einen psychisch kranken Jugendlichen in eine Strafanstalt einzusperren, verstößt gegen elementare Menschen- und Patientenrechte.

Neben dem Gericht und der Verteidigung gibt es noch den Kinderrechtsbeauftragten sowie die Kontrolleure der Contrôle externe des lieux privatifs, die das ungewöhnliche Verfahren beanstanden könnten. Dort verfolgt man den Fall genau. Der Kinderrechtsbeauftragte will das Urteil des Strafgerichts weiterhin nicht kommentieren. Dazu wisse er zu wenig über die Hintergründe, so René Schlechter. Einen Kontrollbesuch zu den Haftbedingungen hat er dem Jugendlichen bisher nicht abgestattet.

Ines Kurschat
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