ZUFALLSGESPRÄCH MIT DEM MANN IN DER EISENBAHN

Tausend Tote

d'Lëtzebuerger Land vom 08.04.2022

Am 6. März zählte das Gesundheitsministerium den tausendsten Covid-Toten. Tausend sind so viele Tote wie das Land während des Kriegs in Konzentrationslagern, Gefängnissen, in der Umsiedlung, in der Resistenz und in alliierten Armeen zu beklagen hatte (Statistiques historiques, Luxemburg, 1990, S. 57). In der Klassik entsprachen tausend Totesopfer zehn Hekatomben.

Die tausend Toten verursachten kein Entsetzen. Sie fanden nicht einmal Beachtung. Kein Experte erklärte sie in einer Morgensendung. Dem von der Sterblichkeit lebenden Bistum waren tausend Tote kein Gedanke wert. Das öffentliche Interesse gilt den Infizierten. Sich anstecken kann jeder. Wer will sich schon mit Toten identifizieren? Die Presse unterscheidet zwischen Menschen, die „an“ und solche, die „mit“ Covid sterben. Die einen gelten als legitime Covid-Opfer. Die anderen hatten Pech.

Vier Tage vor dem tausendsten Toten forderte die ADR die Abschaffung aller Hygienevorschriften: einen „Lëtzebuerger Dag vun der Fräiheet“. Zwei Tage nach dem tausendsten Toten brachte Gesundheitsministerin Paulette Lenert einen Gesetzentwurf ein. Der Motivenbericht begann mit der Beschreibung der „situation épidémiologique“ (S. 1). Die tausend Toten blieben in der „situation épidémiologique“ unerwähnt. Die Gutachten von Berufskammern, Staatsrat und Collège médical erwähnen die tausend Toten nicht. Fünf Tage nach dem tausendsten Toten stimmten 60 von 60 Abgeordneten aller Parteien das Gesetz. Zu den Hygienevorschriften steht darin zwölf Mal „supprimé“ und fünf Mal „abrogé“.

Das neue Gesetz „ass der weesentlech besserer Situatioun an de Spideeler ze verdanken“. So die Erklärung von LSAP-Gesundheitsministerin Paulette Lenert bei der Abstimmung. Die Seuchenbekämpfung richtet sich nach der Auslastung der Krankenhäuser. Nicht nach der Zahl der Toten. „Déi Öffnunge kommen zum richtegen Zäitpunkt“, freute sich Berichterstatter Mars Di Bartolomeo. Sie seien „dee gréisste Schratt an d’Normalitéit“.

Die tausend Toten durften nicht wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden lasten. Sie hätten der Entsolidarisierung im Weg gestanden: „[L]e Gouvernement a pris la décision de mettre l’accent de sa politique sanitaire sur une approche plus ‚libérale‘ et ‚individualiste‘“, fiel der Handwerkerkammer in ihrem Gutachten auf (S. 2). Die Seuche wurde zur Grippe erklärt, das Sterben wieder zur Privatangelegenheit.

Die meisten der tausend Toten waren Alte und Kranke. Fast die Hälfte wohnte in Alters- und Pflegeheimen. Jeannot Waringos Bericht hatte zwischen den Zeilen geschätzt: Viele könnten noch am Leben sein. Wäre die Gewerbefreiheit der Pflegefirmen nicht wichtiger gewesen als die Impfung der Putzfrauen.

Die Handelskammer freut sich über das neue Gesetz. Sie „salue la levée des restrictions dans le cadre de la plupart des activités économiques“ (S. 2). Wie viele Alte und Kranke mussten bis dahin den Märtyrertod für die Güterabwägung zwischen Wirtschaft und Gesundheit sterben? Wie viele wurden letztes Jahr für die Meinungsfreiheit von Impfgegnern geopfert? In den Gaststätten und Konzertsälen dürfen die Überlebenden wieder tanzen, um den Tod zu vergessen.

Die Alten und Kranken waren nicht mehr in der „Rushhour des Lebens“. Sie waren wertlos: Sie hatten keine Arbeitskraft mehr feilzubieten. Sie bauten keine Ertragshäuser mehr, saßen nicht mehr an den Supermarktkassen, berieten keine Steuerflüchtlinge mehr. Sterben war sowieso ihr letzter Job.

Vor dem Tod sind nicht alle gleich. Edgar Morin strebte „idéalement au renversement du rapport de subordination individu-société, à l’affirmation de l’individu, au cosmopolitisme, c’est-à-dire à l’individu général, dans la cité universelle, c’est-à-dire en fin de compte à l’égalité individuelle devant la mort“ (L’Homme et la Mort dans l’Histoire, Paris, 1951, S. 44). Seit dem 6. März kamen über 40 Tote hinzu.

Romain Hilgert
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