ZUFALLSGESPRÄCH MIT DEM MANN IN DER EISENBAHN

Whodunit

d'Lëtzebuerger Land vom 11.10.2024

„Ech kann et à ce jour net verstoen.“ Wunderte sich Premierminister Luc Frieden über die Veruntreuung bei der Caritas (4.9.24). Im Frühjahr verschwanden 61 Millionen Euro in 125 Überweisungen und 8 200 Transfers.

Am 22. Juli meldete die Staatsanwaltschaft eine Beschuldigte: „Elle a été arrêtée sur mandat du juge d’instruction et placée sous contrôle judiciaire après son inculpation.“ Die Justiz schenkte der Beschuldigten Vertrauen. Sie ersparte ihr die Untersuchungshaft.

Bei einem white-collar crime ist das üblich. Je höher die unterschlagene Summe ist. Weil die Verdächtigen aus bürgerlichen Verhältnissen stammen. Verdächtige von blue-collar crimes stammen aus der Arbeiterklasse. Ihnen droht weit häufiger die Untersuchungshaft.

Rasch sprach sich herum, dass es sich bei der Verdächtigen um die Finanzdirektorin der Caritas handelte. Sie ist bisher die einzige Beschuldigte. „All Virement, deen huet misse gemaach ginn, huet missen eng double Signature hunn.“ Diese Prozeduren, „déi sinn all respektéiert ginn“. Betonte Verwaltungsrätin Nathalie Frisch (RTL, 4.10.24). Wer lieferte die 125 zweiten Unterschriften? Leichtgläubige Kollegen? Fahrlässige Kollegen? Komplizen?

Binnen Wochen räumten sie die Bankkonten der Caritas leer. Den Kundenberatern der Caritas in den Banken musste auffallen, dass das Geld für die laufenden Zahlungen ausging. Kundenberater sind selten tollkühn. Sie sichern sich gerne bei Vorgesetzten ab.

Banken haben Computerprogramme gegen „blanchiment“. Die melden, wenn Konten binnen kurzer Zeit mit redundanten Zahlungsanweisungen an die gleichen Auslandsadressen geleert werden.

Die Banken hassen die Compliance. Sie kostet. Sie nervt die Kunden. Eine Steueroase braucht Regeltreue für ihr Ansehen. Und Kulanz für das Tagesgeschäft.

So wurden 28 Millionen Euro entwendet. Das genügte nicht. Die Finanzdirektorin nahm Kreditlinien bei der  Sparkasse und der Banque Générale auf. Dafür verpfändete sie künftige Zahlungen des Staats.

Die Finanzdirektorin telefonierte mit Generaldirektor Marc Crochet: „‚Mir mussen eng Kreditlinn siche goen‘. An ech hu gesot: ‚Da maacht dat!‘“ Erzählte der Generaldirektor. Er erzählte nicht, ob er das Einverständnis des Verwaltungsrats verlangte. Er zeigte Mitgefühl: „E Mënsch ka krank sinn, e Mënsch ka benotzt ginn, [...] wann e kranke Mënsch esou eppes mécht“ (Radio 100,7, 22.7.24).

Die Banken hüten Zahlungsprozeduren und Unterschriftsberechtigungen der Firmenkunden. Sie gewährten die Kreditlinien ohne Einverständnis des Verwaltungsrats. Obwohl „esouguer op där leschter nëmmen eng Ënnerschrëft vun engem Direkter drop war“. So Verwaltungsrätin Nathalie Frisch.

Eine Kreditlinie über Millionen bewilligt nicht die Zweigstellenangestellte. Ein Bankangestellter sichert sich bei seiner Vorgesetzten ab. Und diese vielleicht bei ihrem Vorgesetzten. Die Caritas hatte einen guten Ruf: ihre Nähe zum Bistum, zur CSV, zur Regierung. Hierzulande ist immer jemand ein alter Schulfreund.

Schon am 6. August wusste die Staatsanwaltschaft von einem „lien avec le procédé communément appelé ‚fraude/arnaque au président‘“. Die mutmaßliche Täterin sei ein Opfer. Sie sei auf eine gefälschte Identität hereingefallen. Das war mehr als eine Unschuldsvermutung: Die Ermittlungen begannen mit einem Freispruch. Die Ermittlungsbehörden wollten die Finanzdirektorin zur Mitarbeit gewinnen. Um einen Rest der 61 Millionen zu finden.

So wird der Betrug zur Tat ohne Täter. 2019 entdeckte die Justiz, dass der staatliche Sicherheitsapparat die Bomben der Achtzigerjahre legte. Aber sie fand keine Täter. Vielleicht wächst auf diese Weise einmal Gras über die Caritas und die Regeltreue der Banken.

Romain Hilgert
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