ZUFALLSGESPRÄCH MIT DEM MANN IN DER EISENBAHN

Profis der Anpassung

d'Lëtzebuerger Land vom 28.05.2021

Ex-Minister Felix Braz klagt gegen seine ehrenvolle Entlassung vor anderthalb Jahren und sein befristetes Wartegehalt. Aus fast allen Parteien wird ihm Verständnis entgegengebracht. Die einen wollen einem ehemaligen Kollegen ihre Sympathie bekunden. Die anderen wollen seine grüne Partei der Doppelmoral überführen. Alle bewegt der Korporatismus.

„Ech sinn deen éischten mee secher nett dee Läschten“, hatte Braz über Twitter verbreitet. LSAP-Präsident Yves Cruchten pflichtete bei: „Dem @felix_braz säi Fall verdäitlecht gutt datt eis Gesetzer net adaptéiert sinn.“ CSV-Fraktionssprecherin Martine Hansen hielt auf RTL eine Gesetzesänderung „relativ séier“ für nötig.

Minister, Abgeordnete, Parteifunktionäre identifizieren sich mit Braz’ Schicksal. Sie fürchten, auch einmal aktuelle oder künftige Ämter, Gehälter und Spesen zu verlieren. Martine Hansen meinte, „datt mer do kloer Reegele brauchen an och, fir déi Leit ofzesécheren“. Jene Absicherung, die die CSV ihrem Parteipräsidenten nicht gegönnt hatte. Der Politikerberuf erscheint plötzlich unzumutbar prekär. Selbst jenen, die Arbeitslosengeld und Revis eine soziale Hängematte nennen.

Der Politikerberuf ist ein neuer. Lange Zeit war das Amt eines Abgeordneten oder Bürgermeisters ein Nebenamt. Diäten waren ein Nebeneinkommen. Volksvertreter, die auf Diäten angewiesen gewesen wären, saßen kaum im Parlament. Wer Minister wurde, musste den Brotberuf vorübergehend verlassen. Danach nahm er seine alte Beschäftigung wieder auf oder trat in den Ruhestand.

Dann begannen gestandene Abgeordnete, die ihrer Wiederwahl sicher waren, ihren Beruf aufzugeben. Sie machten nur noch Politik, nicht selten als „députés-maires“. 1968 gewährte das Parlament gewählten Beamten ein Ruhegehalt und eine Arbeitsplatzgarantie. 1988 und 1990 führte es den Congé politique ein. Es erhöhte seine Diäten und die Entschädigungen für Bürgermeister. Es richtete die Ministergehälter an Managergehältern aus. Nun ließ es sich von der Politik leben.

Nachwuchspolitiker ohne Berufserfahrung wurden gleich nach dem Ende des Studiums Parteifunktionäre. Die Lehrjahre im Hinterzimmer des politischen Geschäfts halfen, Abgeordnete, Bürgermeister oder Minister zu werden. Mit dem Anstieg der Zuschüsse, die sich die Parteien im Parlament gewährten, stieg die Zahl der Parteifunktionäre.

Im Gesetzesvorschlag 3422 über den politischen Urlaub warnte François Colling (CSV) 1990 davor, „de faire de la fonction de député une activité professionnelle et non plus un mandat représentatif. Il faut en effet que les députés ne constituent pas une classe politique hermétique“ (S. 11).

Das Aufkommen der Berufspolitiker ändert die stellvertretende Demokratie. Apparatschiks, die nie oder nur kurz etwas Anderes gesehen haben als Parteisekretariate und Parlaments-ausschüsse, verfallen dem parlamentarischen Kretinismus: Sie halten das Kammerplenum oder ihr Ministerium für die Wirklichkeit und die Welt für eine Illusion.

Politiker, die vom Staat bezahlt werden, um Politik zu machen, werden statt Wählervertreter Staatsbeamte. Sie verinnerlichen die Staatsräson. Die hat Eigeninteressen gegenüber der Gesellschaft.

Die seit den Achtzigerjahren entstandenen Parteien sind kleine Kaderparteien. Sie hängen am Tropf der staatlichen Parteienfinanzierung. Wer Politik hauptberuflich betreibt, empfindet die Wähler als störend. Er wird zum Technokraten. Er hält Akzeptanz für Demokratie.

Berufspolitiker haben über die Parteien hinweg gemeinsame Interessen an ihren Arbeits- und Einkommensbedingungen. Ihre politischen Differenzen verblassen. Wer allzu viel herummäkelt, läuft Gefahr, bei den nächsten Wahlen nicht mehr auf der Kandidatenliste zu stehen. Wer von der Politik lebt, muss bei jeder Wahl um die Existenz seiner Familie bangen. Angst macht angepasst. Das ist der Zweck des Berufspolitikertums.

Romain Hilgert
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