TANZ

Aufbruch in eine neue Magie

d'Lëtzebuerger Land vom 08.12.2023

Die Darstellung von Frauenkörpern als fetischartige Puppen hat in der Medizin wie in der Kunstgeschichte Tradition. Im 18. Jahrhundert schuf Clemente Susini lebensgroße Wachspuppen, an denen Medizinstudent/innen Anatomie lernten. Was über Jahrhunderte auf männlichen erotischen Unterwerfungsfantasien des Bedrohlichen gründete, sollten spätestens die Surrealisten ins Absurde umdeuten. Als die weiblichen Dadaistinnen wie Hannah Höch (selbst-)bewusst das Ruder übernahmen, verfremdeten sie ihre eigenen Körper ins Unendliche.

Hans Bellmer wurde berühmt durch seine anarchistisch erotischen Inszenierungen. Er kostümierte in den 1930-er Jahren fetischartige Puppen, deutete die Frau als biomechanisches Wesen zwischen Überhöhung und Unterwerfung. Wegen seiner Darstellung geschundener Frauenkörper wurden ihm neurotische Störungen wie Sadomasochismus nachgesagt, während die Surrealist/innen rund um Éluard und Breton seine Kunst schätzten und seinen bebilderten Band La Poupée (1935) druckten. Die Gedichte seiner Partnerin, der Zeichnerin Unica Zürn, spiegeln hingegen Aggression gegenüber dem weiblichen Körper, ihre paranoide Schizophrenie sollte im Selbstmord enden.

Sarah Baltzinger ist fasziniert vom Potenzial des Unheimlichen rund um den weiblichen Körper als Marionette, Projektionsfläche und von seiner Fetischisierung. Ihre Choreografie Vénus Anatomique, die während einer Künstlerresidenz in Annonay entstanden ist, zeugt von einer intensiven theoretischen Auseinandersetzung mit der Thematik. Die choreografische Umsetzung ist verblüffend gelungen. In dem einstündigen Tanzstück hauchen fünf Tänzerinnen (Chiara Corbetta, Océane Robin, Marie Lévénez, Clara Lou Munié, Shynna Kalis) dem Venus-Mythos Leben ein. Baltzingers Choreografie lässt die Zuschauer/innen eintauchen in eine schaurige wie absurde Welt zwischen anatomischer Studie und feministischer Dystopie.

Die Autodidaktin Baltzinger, deren fotografische Collagen im Foyer des Grand Théâtre am Boden ausgestellt sind, präsentiert in ihrer einstündigen Choreografie eine „Venus-Fabrik“, die identische Körper produziert, dysfunktionale weibliche Modelle, die sich immer weiter ausbreiten. Ihre fast nackt performenden Tänzerinnen tragen Silikonbrüste (der Bildhauerin Manuela Benaïm) wie Schutzpanzer.

An bekannte kunstgeschichtliche Referenzen anknüpfend treibt Baltzinger die Idee der Uniformierung bis zum Äußersten und zeigt verrenkte, mechanische Körper aus Bausätzen, die mal verzweifelt, mal humorvoll versuchen, sich selbst zu reparieren.

Bereits der Auftakt, das erste Standbild, lässt erschaudern: die fünf Tänzerinnen stehen da wie eingefrorene Puppen. Lange blonde Haar(-schöpfe) baumeln von der Decke; die Silhouetten der Tänzerinnen werfen Schatten an die Wand.

Dann beginnen sie sich zu rühren, verrichten mechanische Bewegungen. Ihre Gelenke wirken zunächst verdreht, wie falsch zusammengesetzt ... Schwungvoll werden sie aus den ihnen zugeschriebenen Rollen ausbrechen, doch zunächst starren sie ins Publikum, ihre Gesichter eingefroren zu verzerrten Fratzen.

Eine Tänzerin erprobt sich selbst – und sackt immer wieder zusammen. Sie streift sich den Brustaufsatz ab und wirft diesen vor sich auf die Bühne. So liegt die Brust da, surreal wie ein Augapfel bei Buñuel.

Bald werden die anderen ihrem Beispiel folgen und die Brustaufsätze abwerfen, befreiend wie einst die 1968er-Bewegung ihre BHs verbrannte. Das ist – trotz der mitunter plakativen Befreiung – komisch. So wachsen einer Tänzerin Brüste auf dem Rücken. Sie brabbeln vor sich hin ... „Un peu d’amour“ hört man heraus, und: „Seinen Körper kontrollieren, aber es ist doch eine Frage der Ressourcen!“

Einige der Tänzerinnen verstecken sich in den herabhängenden Haaren, eine andere dreht fast durch und verdreht sich akrobatisch. – Die Blicke richten sich befremdet auf sie wie auf ein skurriles Forschungsobjekt.

Wie die Choreografie schlägt die harmonische Musik sukzessive um ins Befremdliche, Unheimliche, werden die Töne und Melodien verzerrt. Zum Klang scheppernder Kastagnetten wird eine der Tänzerinnen ihre zweite Haut unter Schreien zerfetzen; eine andere beobachtet den Ausbruch zwischen Erstaunen, Bewunderung und Skepsis, um ihr irgendwann im wahrsten Sinne des Wortes das Maul zu stopfen. Sie peitschen sich und schlagen mit den Hautfetzen auf den Boden ... Alsbald sammeln sie ihre Körperteile ein.

Eine blonde Tänzerin, die wie aus Botticellis Venus entsprungen wirkt, vollführt noch grazil ein paar Ballettschritte ... Bevor die Bühne zum Schlachtfeld wird, schwingen sich die Veni dynamisch an den Haaren, ziehen wütend daran oder schaukeln beschwingt im Kreis – und vollführen bis zum Schluss der einstündigen Choreografie Unerwartbares.

Im Vergleich zu der im vorletzten Jahr während einer Künstlerresidenz in Annonay erarbeiteten Choreografie über den Klimawandel (DJ Whimsy or what will the climate be like?) ist Baltzingers Choreografie weder kryptisch noch überfrachtet, sondern bildet von Anbeginn bis zum Ende ein geschlossenes Ganzes.

Inspiriert von Populärkultur und weiblichen Mythen verschiebt Sarah Baltzinger unseren Blick, offenbart unsere Zerbrechlichkeit und zerlegt minutiös das heteronormative, männlich dominierende Bild des Frauen-körpers – fernab von Zuschreibungen der Fruchtbarkeit. Eine kreative und furiose Choreografie!

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