Wer Ja sagt zur Europäischen Union, darf (ein bisschen) mitbestimmen

Sind wir Europa?

d'Lëtzebuerger Land du 13.01.2011

Charles Goerens mag es sachlich und unaufgeregt. „Es ist ein guter Kompromiss“, sagt der ehemalige Außenminister und heutige Deputierte für die Liberalen im Straßburger Europaparlament, und er meint die europäische Bürgerinitiative, die er und die Kollegen Europaabgeordneten noch rechtzeitig vor der Weihnachtspause verabschiedet haben.

Es war ein Versprechen des Lissabonner Vertrags von 2009: Mit der Europäischen Bürgerinitiative sollen EU-Bürgerinnen und Bürger ein Instrument an die Hand bekommen, von ihnen selbst als wichtig erachtete Themen vorbringen zu können. Wer wahlberechtigter EU-Bürger ist und eine Million Unterschriften für sein Anliegen sammelt, kann die Kommission auffordern, ein EU-Gesetz zu ändern.

Einen „wichtigen Schritt auf dem Weg zu einem demokratischeren Europa“ nannte der Grüne Claude Turmes die Neuerung. Der zuständige EU-Kommissar Maroš Sefcovic sprach überschwänglich gar vom „weltweit ersten Instrument transna-tionaler direkter Demokratie“.

Weniger euphorisch klingen die, die davon profitieren sollen, europäische Verbände, Nichtregierungsorganisationen und Privatpersonen. Die finale Vorschrift, die das Europaparlament am 15. Dezember verabschiedet hat, sei zwar „viel einfacher“ als der ursprüngliche Kommissionsvorschlag. Das Verfahren sei trotzdem noch immer „unnötig bürokratisch und beschwerlich“, kritisierte Carsten Berg, Sprecher von der Kampagne für eine Europäische Bürgerinitiative (ECI), einem bunten Bündnis von 120 Nichtregierungsorganisationen und Einzelpersonen aus ganz Europa.

In der Kritik: Zwar müssen die Unterschriften nur noch aus einem Viertel, statt wie es die Kommission und der Europäische Rat (auch Luxemburg) verlangt hatten, einem Drittel aller EU-Mitgliedstaaten kommen. Die Mindestquote für die beteiligten Länder berechnet sich aus der Anzahl der Parlamentssitze multipliziert mit dem Faktor 750. Für Deutschland wären demnach rund 75 000 Unterschriften zu sammeln. „In Luxemburg sind es 4 500. Das ist nicht viel“, findet Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn (LSAP). Sein Amtsvorgänger, Charles Goerens, sieht das genauso: Im Zeitalter von Facebook und Twitter könne die Mobilisierung recht zügig gehen.

Dass die virtuelle Vernetzung über Ländergrenzen hinweg machbar ist, zeigt die Aktion www.oneseat.eu, die auf die schwedische Europaabgeordnete Cecilia Malmström zurückgeht. Über 1,2 Millionen Europäer haben im Internet ihren Aufruf unterschrieben, den kostspieligen Zweitsitz des Europaparlaments in Straßburg zu streichen. Allerdings startete die Kampagne schon Ende 2006 – und sie dauert bis heute. Laut EU-Vorschrift müssen die Unterschriften aber binnen einem Jahr gesammelt sein, sonst verfällt ihre Gültigkeit. Damit seien große, gut vernetzte, finanzstarke Organisationen im Vorteil, die sich eine intensive Öffentlichkeitsarbeit leisten können, so die Kritik von ECI. Asselborn hält dagegen: „Auch kleinere NGOs müssten es fertigbringen, die erforderlichen Unterschriften zu sammeln.“

Die ECI bemängelt zudem, dass es den Ländern überlassen bleibt, sicherzustellen, dass die Unterschriften rechtmäßig zustande gekommen sind und niemand doppelt gezählt wurde. Ein Drittel der EU-Staaten hat bereits angekündigt, ihren Bürgern den Zugang so unkompliziert wie möglich zu machen. Außer der Unterschrift wollen sie die Wohnadresse und den Beruf erfragen und dies dann stichprobenartig überprüfen. Die anderen zwei Drittel der EU-Länder setzen die Hürden höher: Österreich etwa, dessen Regierung von vornherein skeptisch gegenüber einem EU-Volksbegehren war, will Unterstützungserklärungen nur anerkennen, wenn eine Personalausweisnummer vorliegt. Dabei hatte der EU-Datenschutzbeauftragte, Peter Hustinx, in seinem Gutachten zur Kommissionsvorlage ausdrücklich angemahnt, den Zugang zur Initiative möglichst unkompliziert zu gestalten. In Luxemburg werde man wahrscheinlich den Weg der Matrikelnummer gehen, teilte Asselborn dem Land mit. Die Regierung hat ein interministerielles Komitee eingesetzt, das die prozeduralen Fragen klären soll.

Aber auch ein einfacher Zugang kann nicht darüber hinwegtäuschen: Ein Instrument für direkte Demokratie ist das Volksbegehren nicht, und das Demokratiedefizit im Brüsseler Gefüge wird es auch nicht lösen. Dafür geht es nicht weit genug. Sind sämtliche Bedingungen erfüllt, alle Unterschriften termingerecht gesammelt, muss die Kommission binnen vier Monaten Stellung beziehen. Dank der Grünen müssen die Initiatoren des Bürgerbegehrens von Parlament und Kommission angehört werden, was ihrem Anliegen eine ­zusätzliche Öffentlichkeit verschaffen dürfte. Das Initiativrecht bleibt aber bei der Kommission. Lehnt sie es ab, ein Gesetz vorzuschlagen, muss sie dies begründen. Das war’s dann schon: das Volksbegehren als eine „Initiative zur Initiative“, wie es das Rechtsgutachten der Federation for European Progressive Studies nüchtern zusammenfasst.

Noch dazu mit nicht allzu großen Erfolgsaussichten: In anderen Ländern mit ähnlichen Bürgerbegehren, wie beispielsweise in Italien, wurden von 105 Initiativen gerade einmal durch acht ein Gesetzesverfahren eingeleitet, in Spanien liegt die Erfolgsrate noch niedriger: Aus 32 Initiativen waren es fünf. Die meisten scheiterten an formalen Einwänden. Der Verfassungsrechtler Victor Cuesta vom Internationalen Institut für Rechtssoziologie in Spanien spricht daher von einer „historischen Wirkungslosigkeit“.

Mit dem Schweizer Volksentscheid, den Gegner einer Volksabstimmung gerne als Negativbeispiel für direkte Demokratie anführen, hat die europäische Bürgerinitiative also nichts gemein. Dass in ganz Europa einmal Schweizer Zustände herrschen werden, ist ohnehin ziemlich unwahrscheinlich. „Wir haben in Luxemburg keine Tradition mit europäischen Referenden“, sagt Jean Asselborn. Der Sozialist, der die EU-Initiative „eine gute Sache findet“, warnt davor, die Initiative oder Referenden als „Wundermittel“ anzupreisen, die alle Probleme Europas lösen könnten. „Dabei kann schnell das Gegenteil von dem herauskommen, was wir ursprünglich wollten.“ Wen der Außenminister genau mit „Wir“ meint, lässt er offen, aber mit seinen Befürchtungen steht er nicht allein: Der Schreck der ablehnenden Volksbefragungen über die Europäischen Verfassung steckt den meisten EU-Regierungschefs noch in den Knochen.

Um Fundamentalkritik am europäischen Konstrukt gar nicht erst zuzulassen, wurde der Rahmen daher bewusst restriktiv formuliert: Eine Ini-tiative ist überhaupt nur zulässig, wenn sie sich innerhalb des europäischen Rechts bewegt – und wenn sie nicht darauf abzielt, EU-Vertragsrecht zu ändern. Damit kommt etwa die Forderung von Attac, eine europaweite Finanztransaktionssteuer einzuführen, als Bürgerbegehren nicht in Frage: In Steuerrechtsfragen ebenso wie in wichtigen sozialpolitischen Fragen hat die Kommission keine Zuständigkeit. Asselborns Lesart, ein Volksbegehren über einen EU-weiten Mindestlohn sei möglich, ist rechtlich zumindest nicht ganz eindeutig.

Was ganz sicher nicht passieren wird, ist das Schreckensszenario, das Asselborns Parteikollege Robert Goebbels an die Wand malt. Er begründete seine Enthaltung bei der Abstimmung damit, „que les initiatives dites citoyennes serviront essentiellement les forces politiques extrémistes qui se saisiront de ces instruments pour faire campagne pour le rétablissement de la peine de mort, contre la construction de minarets, contre l’islami­sation rampante de l’Europe et d’autres sujets populistes“.

Nicht nur, dass Goebbels sich damit gegen die Linie der eigenen Partei stellt (Asselborn: „Wir haben als Partei und als Regierung die Initiative immer unterstützt.“), offenbar ist der selbst erklärte „Partisan der repräsentativen Demokratie“ zudem schlecht informiert, oder er verbreitet wissentlich Falschinformationen: Laut Lissabonvertrag ist ein Bürgerbegehren nur im Rahmen bestehenden EU-Rechts zulässig. Als „missbräuchlich“ gelten demnach Vorschläge, die dem Geist der europäischen Verträge und damit auch der europäischen Menschenrechtskonvention zuwiderlaufen. Eine Volksabstimmung für die Einführung der Todesstrafe oder gegen Minarette ist damit ausgeschlossen. Kniffeliger wäre es, würde die Kommission aufgefordert, endgültige EU-Außengrenzen zu ziehen: Die EU ist in Erweiterungsfragen zuständig – und eine Million Unterschriften gegen einen Beitritt der Türkei dürften schnell gesammelt sein.

Aber vielleicht sorgt Goebbels sich aus einem anderen Grund vor Mitbestimmung der Bürger: Das erste europäische Volksbegehren, das der Kommission im Dezember überreicht wurde, kommt von Greenpeace. Mehr als 1,2 Millionen EU-Bürger haben die Forderung der Umweltorganisation sowie der Bürgerbewegung Avaaz unterzeichnet, Brüssel möge die Zulassung von gentechnisch veränder­ten Pflanzen aussetzen. Goebbels, ein Gentechnik-Befürworter, hat wiederholt die überwiegend kritische Haltung der luxemburgischen Bevölkerung in punkto Gentechnologie attackiert und die Argumente der Gentechnik-Gegner in offenen Briefen als „Genetik der Dummheit“ diffamiert.

Wie es scheint, braucht sich Goebbels derzeit (noch) keine Sorgen zu machen: Die Vorschrift für die Europäische Bürgerinitiative tritt erst am 1. Januar 2012 in Kraft. Bis dahin haben die EU-Staaten Zeit, die Bedingungen für die Unterschriftensammlung festzulegen. Für Greenpeace ist das keine gute Nachricht: Weil die Umweltorganisation ihre Unterschriften vor dem Inkrafttreten der Vorschrift gesammelt hat, hat die Kommission angedeutet, die Initiative womöglich nicht anzuerkennen. EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso soll die Unterschriftensammlung intern bereits als nicht konform bezeichnet haben. Zur Greenpeace-Überreichung schickte Barroso seinen Kommissar für Gesundheit, John Dalli, vor. Eine gelungene Eigenwerbung für mehr Bürgernähe sieht anders aus.

Ines Kurschat
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