Luxemburg hat keine einheitlichen Brandschutzvorschriften. Und während die Hauptstadt-Feuerwehr Styropor als Dämmstoff nur ausnahmsweise zulässt, promotet die Regierung es als „nachhaltig“

Wenn Styropor Standard ist

d'Lëtzebuerger Land vom 07.07.2017

Wie auch andere seiner Kolleginnen und Kollegen in der Regierung hat Wohnungsbauminister Marc Hansen (DP) in den Vorwahlkampfmodus geschaltet. Vergangene Woche gab er dem Magazin Paperjam ein langes Interview und erklärte, um das Angebot an Wohnungen zu steigern, „muss man auch über die Verdichtung in der Höhe sprechen“, also: höher bauen. Nach dem verheerenden Brand in dem 24-stöckigen Londoner Grenfell Tower, bei dem am 14. Juni 79 Menschen ihr Leben verloren, stellt sich die Frage, ob der Brandschutz hierzulande weit genug reicht, wenn man höher bauen will. Zumal in London die an der Hochhausfassade erst vor einem Jahr angebrachte neue Wärmedämmung als „Brandbeschleuniger“ wirkte.

Dazu gibt es gute Nachrichten, aber auch schlechte. Eine gute lautet: In Luxemburg-Stadt, wo die allermeisten Hochhäuser im Land stehen, hat die Berufsfeuerwehr strenge Regeln aufgestellt. Solche Gebäude müssen einen separaten „Feuerwehrlift“ besitzen, den die Rettungskräfte im Brandfall benutzen. Die Treppenhäuser müssen so gestaltet sein, dass Menschen schnell evakuiert werden können. Die Flure in den Etagen müssen mit Überdruck belüftet werden, weil das die Ausbreitung eines Feuers dämpft. Fällt ein Hochhausbau unter die Kommodo-Gesetzgebung für établissements classées, gelten zusätzliche Vorschriften, die Feuerwehr und Gewerbeinspektion ITM gemeinsam aufgestellt haben.

Hinzu kommt: In der Hauptstadt ist die Benutzung von Styropor als Dämmstoff weitgehend untersagt. „Für Einfamilienhäuer ist sie zulässig“, sagt Alain Klein, Leiter der Brandpräventionsabteilung bei der Stater Berufsfeuerwehr, „für Apartmentgebäude dagegen nicht.“ Laut EU-Klassifikation sei Styropor „normal brennbar“, was der Klasse E entspeche. „Wir verlangen schon für niedrigere Gebäude mindestens die Klasse D“, erklärt der Brandpräventionsspezialist. „Die vielen Brände, vor allem im Ausland, haben gezeigt, dass es an einer Styroporfassade zu einem Flammenüberschlag von Etage zu Etage kommen kann. Dann kann das Feuer über alle Stockwerke rasch nach oben gehen.“

Vor ungefähr fünf Jahren war Styropor in Deutschland in die Schlagzeilen geraten und hielt sich dort lange. Im Herbst 2011 filmten Reporter des Norddeutschen Rundfunks einen Brandtest in Braunschweig: 16 Zentimeter dicke Dämmplatten aus Styropor bildeten gemeinsam mit Armierung, Putz und Anstrich ein „Wärmedämmverbundsystem“. So ein Verbund ist besser als Klasse E. Er erreicht sogar die Klasse B („schwer entflammbar“), weil dem Styropor ein „Flammhemmer“ beigemischt ist. Bei dem Braunschweiger Test hätte das Verbundsystem den Flammen 20 Minuten lang standhalten müssen. Doch es fing so schnell Feuer, dass der Versuch nach acht Minuten abgebrochen wurde und die Feuerwehr den Brand löschen musste. Der Film 45 Min – Wahnsinn Wärmedämmung steht im Internet.

Die schlechte Nachricht aus Luxemburg lautet: Es gibt keine wirklich landesweit einheitlichen Brandschutzvorschriften, es sei denn, ein Bau fällt unter unter die Kommodo-Gesetzgebung für établissements classés. In allen anderen Fällen ist Brandschutz allein Sache der Gemeinden. Was sie zulassen und was nicht, entscheiden die Bürgermeister als „Baupolizei“ auf der Grundlage ihrer kommunalen Bauverordnungen.

Von vornherein schlecht ist diese Konstellation nicht. Und wenngleich die Beruffspompjeeën der Hauptstadt die kompetentesten in Sachen Präven-
tion sind, wurden auch 300 freiwillige Feuerwehrleute darin geschult. Werden sie auch gefragt? Obwohl im Kommunalplanungsgesetz von 2004 der Artikel 39 festlegt, jede kommunale Bauverordnung „contient des prescriptions relatives (...) à la protection contre l’incendie des constructions, logements et installations“, ist dem nicht überall so. Selbst in Differdingen, immerhin drittgrößte Stadt im Land, kommen im Règlement des batisses Worte wie incendie oder feu überhaupt nicht vor und es wird nichts darüber gesagt, ob und in welchen Fällen der Bürgermeister, ehe er eine Baugenehmigung erteilt, ein Gutachten der Feuerwehr einholt. Zum Glück ist der Differdinger Feuerwehrkommandant Mitglied der kommunalen Bautenkommission und lege, wenn Bauvorhaben diskutiert werden, auf informellem Weg „säi Pefferkär bäi“, wie die Gemeinde auf Anfrage des Land mitteilt. Bisher habe das „immer gut geklappt“.

Dass fehlende Brandschutzvorschriften „Fassadenbrände“ auch in Luxemburg nicht gerade unwahrscheinlicher werden lassen, liegt auf der Hand. Wobei nicht nur von Hochhäusern zu sprechen wäre. Zwei Tage vor dem Londoner Hochhausbrand brannte in Bettendorf der Neubau der Maison relais. Nur weil die so neu ist, dass sie noch nicht in Betrieb genommen wurde, war sie menschenleer. Die Spillschoul gleich nebenan aber musste der Rauchentwicklung wegen evakuiert werden. Das Feuer wütete so stark, dass die Ettelbrücker Feuerwehr mehrmals zum Löschen ausrücken musste.

L’Essentiel zitierte zwei Wochen später Marc Mamer, den Präsidenten des Feuerwehrverbands, mit den Worten: „Es kann schon einmal vorkommen, dass ein Brand über Tage lodert“ (lessentiel.lu am 26.06.2017), und schrieb, Mamer habe damit das Feuer in Bettendorf gemeint und noch gesagt, dass „moderne Isolierungen den Luxemburger Brandschützern durchaus Probleme bereiten“. Brannte in Bettendorf Styropor? Die Ettelbrücker Feuerwehr verspricht auf Nachfrage, zu „prüfen, ob wir diese Information rausgeben können“, und meldet sich nicht zurück. Der Präsident des Feuerwehrverbands ist ebenfalls nicht zu erreichen. Gegenüber L’Essentiel hatte er noch „einheitliche Brandschutzvorschriften, die für ganz Luxemburg gelten“, gefordert.

In der Zwischenzeit aber gibt es nicht nur keine einheitlichen Brandschutzvorschriften. Styropor wird von der Regierung als „nachhaltiger“ Baustoff promotet. Vergangenes Jahr richteten Wirtschafts-, Wohnungsbau-, Umwelt- und Finanzministerium die Beihilfen zur Sanierung von Wohngebäuden neu aus und führten Lenoz ein, das Lëtzebuerger Nohaltegkeetszertifikat fir Wunngebäier. Lenoz zertifiziert das Erreichen von Nachhaltigkeitspunkten. Ermittelt werden dafür auch die Baumaterialien, die für ein Projekt vorgesehen sind. Ein Link von der Lenoz-Rubrik auf der Webseite des Wohnungsbauministeriums führt zur „Lenoz-Datenbank“. Der derzeit gültigen Version, die vom 28. September 2016 datiert, ist zu entnehmen: Geht es um Wärmedämmstoffe, gibt es Nachhaltigkeitspunkte nicht nur für Steinwolle oder Mineralwolle, sondern auch für „XPS“ und „EPS“. Das sind Wärmedämmverbundsysteme auf Styropor-Basis. Die Umwelt-Produktdeklaration für diese Systeme hat der deutsche Industrieverband Hartschaum herausgegeben. Über EPS steht in der Deklaration, es sei „schwer entflammbar“.

Der Hauptstadt-Feuerwehr reicht das nicht. „Wir verlangen, dass jede einzelne Komponente eines Verbunds mindestens Klasse D erreicht, und das ist für Styropor nun mal nicht der Fall“, sagt Alain Klein. Außerdem hänge die „schwere Entflammbarkeit“ auch davon ab, wie die Wärmedämmverbundsysteme angebracht werden und wie Dämmstoff, Armierung, Putz und Anstrich zusammenwirken – wie beim Brandversuch in Braunschweig im Beisein von Fernsehreportern. Dass in der Praxis nicht garantiert sei, dass die Verbundsysteme „richtig angebracht“ werden, ist noch ein Grund, weshalb bei der Feuerwehr der Stadt Luxemburg auch EPS und XPS durchfallen, jedenfalls für höhere Gebäude. „Wenn Baubetriebe oder Architekten uns fragen, dann sagen wir ihnen, nehmt das nicht“, erklärt Alain Klein.

Dass die Regierung für einen Dämmstoff Nachhaltigkeitspunkte vergibt und ihn damit in jedem Fall empfiehlt, während er zumindest in der Hauptstadt nur in bestimmten Fällen eingesetzt werden darf, ist natürlich widersprüchlich. Brandexperte Klein erklärt sich das so, dass Dämmstoffe einerseits gut isolieren sollten, zweitens „ökologisch“ sein sollten, also möglichst wiederverwendbar oder recyclierbar, und drittens am besten nicht brennbar. „Die drei Ziele sind aber nicht immer miteinander zu vereinbaren“, meint er trocken. Bei Styropor kommt hinzu, dass es nicht nur ein guter Isolator ist, sondern auch leichter zu verarbeiten und leichter anzubringen als zum Beispiel Steinwolle, die höchstens glimmt. Und es ist rund 30 Prozent billiger als diese. „Für Einfamilienhäuser ist Styropor Standard“, weiß Alain Klein.

Auf welche Weise die politische Entscheidung fiel, für die Dämmverbundsysteme EPS und XPS Lenoz-Punkte zu vergeben, ist an dieser Stelle nicht nachvollziehbar. Das für Energiepolitik zuständige Wirtschaftsministerium zieht es vor, zu dieser Frage nichts zu sagen. Für die für Nachhaltigkeit ziemlich zuständige Umweltministerin Carole Dieschbourg (Grüne) erklärt ihr Pressesprecher per E-Mail, „wenngleich diese Verbundsysteme nicht negativ bewertet werden, wird eine [energetische] Sanierung mit Styropor wohl kaum genug Punkte bekommen, um über Lenoz gefördert zu werden“.

Vielleicht wurde am Ende sehr pragmatisch entschieden und den Ausschlag gab, dass Wohnungsmangel herrsche, viel gebaut werden müsse und die Baukosten ohnehin schon hoch genug seien. Was natürlich nur Vermutungen und Unterstellungen sind. Als kleinen Lichtblick in der Angelegenheit kann man die Auskunft aus dem Innenministerium werten, die Gemeinden hätten bis August 2018 Zeit, ihre Bauverordnungen um Brandschutzbestimmungen zu ergänzen. Das liege daran, dass das Kommunalplanungsgesetz seit 2004 mehrmals abgeändert wurde. Weil deshalb den Gemeinden immer neue Fristen gestellt wurden, ihre kommunalen Flächennutzungspläne (PAG) zu überarbeiten, rutschte die Deadline zur Ergänzung der Bauverordnungen mit nach hinten. Für „viele Gemeinden“, wie das Innenministerium einräumt. Bleibt zu hoffen, dass es in den nächsten 13 Monaten zu keinem Fassadenbrand mehr kommt.

Peter Feist
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