Deutschland und die Europawahlen

Stabil und wehrhaft

d'Lëtzebuerger Land vom 07.03.2014

Wehret dem Extremismus! Mit diesem Slogan konterten in Deutschland vor allem Politikerinnen und Politiker der so genannten Volksparteien vergangene Woche eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Die höchsten Richter hatten die Drei-Prozent-Hürde, die bisher in Deutschland für Europawahlen galt, als null und nichtig erklärt. Bei der kommenden Wahl Ende Mai wird es nun auch in Deutschland keine Sperrklausel mehr geben. Es zählt dann jede Stimme bei der Verteilung der Sitze im Europaparlament. Das mit gutem Grund, denn bei der letzten Europawahl im Jahr 2009 stimmte jeder zehnte Wähler in Deutschland für eine Partei, die an der damaligen Fünf-Prozent-Hürde scheiterte.

Für die etablierten Parteien ist dies jedoch bereits zu viel Demokratie. Sie fürchten, dass kleine und vor allem extremistische Parteien Sitze im Europaparlament einnehmen und damit um ihre Pfründe. Kleine Parteien, so die Argumentation, hielten die parlamentarische Routine auf, und extremistische Parteien werden mit dem Verweis auf die eigene Geschichte und ihre Euro-Skepsis in die Schranken gewiesen.

Dabei braucht es gar keine Hürde. Allein die Größe Deutschlands zeigt, wie hoch die Hürde dennoch bleibt, um einen Sitz im Europaparlament zu bekommen: Am 25. Mai werden rund 62 Millionen Menschen in Deutschland wahlberechtigt sein und über die Verteilung der 96 Sitze entscheiden. Somit braucht es rund 650 000 Stimmen oder etwas mehr als ein Prozent der Wählerstimmen, um einen Sitz im Parlament zu erzielen. Nimmt man das Ergebnis der Bundestagswahl vom September letzten Jahres als aktuelle Basis oder Prognose, so schafften dies neben CDU/CSU, SPD, Linke und Grüne lediglich FDP, Piraten und AfD. Die rechtsextremistische NPD – auch als größere unter den kleinen Parteien – vereinte lediglich etwas mehr als 560 000 Stimmen auf sich. NPD, Republikaner, Pro Deutschland und DVU, die vier Parteien am rechten Rand kamen insgesamt auf knapp 730 000 Stimmen.

Dies sind allerdings theoretische Betrachtungen. Denn rechnet man die Wahlbeteiligung ein, so könnten bereits etwas mehr als 280 000 Stimmen einen Sitz wahlweise in Brüssel oder Straßburg bringen. Doch sind Europawahlen keine Bundestagswahlen. Die Bereitschaft der Wähler bei der europäischen Abstimmung so genannte Protestparteien zu wählen oder eine Denkzettel-Stimme abzugeben ist weitaus größer als bei einer Bundestagswahl. Bei der Wahl 1989 zogen die Republikaner mit sechs Vertretern ins Brüssel-Straßburger Parlament ein.

Das Europaparlament braucht Kompetenz und Profil. Dies bedingt ein einheitliches Wahlrecht. Bislang darf jedes EU-Mitglied die weiteren Modalitäten für die Wahl selbst festlegen. Weder ist das Mindestalter für das aktive und passive Wahlrecht einheitlich geregelt, noch gibt es gemeinsame Regeln für die Sperrklauseln. In Österreich dürfen 16-Jährige abstimmen, in den übrigen Unions-Staaten liegt das Wahlalter bei 18. Neben Deutschland verzichten auch Großbritannien, Luxemburg und Spanien sowie zehn weitere Länder auf eine Sperrklausel. In acht Mitgliedsstaaten gibt es bei der Wahl am 25. Mai eine Fünf-Prozent-Barriere. In Frankreich muss diese Klausel zudem noch in jedem der acht nationalen Wahlkreise erreicht werden – in einem davon sind die französischen Übersee-Gebiete zusammengefasst. Auch die repräsentative Gerechtigkeit des Unionsparlaments muss gestärkt werden. Nach der nächsten Wahl werden 854 000 Deutsche durch einen Parlamentarier vertreten. In Malta spricht ein Abgeordneter für 69 500 Bürger. Wenn es eine europäische Wahl ist, dürfen Wahlkreisgrenzen nicht an nationalen Grenzen enden.

Die Begründung der Karlsruher Richter für die Abschaffung der Sperrklausel hatte allerdings einen faden Beigeschmack: Sie kippten die Hürde nicht aufgrund der stabilen und wehrhaften europäischen Demokratie, die sich viele Meinungen und politische Ansichten erlauben kann, sondern weil sie das Europaparlament eher als Debattierclub sehen denn als Ort der politischen Willensbildung. Das ist genau die Crux des Europaparlaments. Es wird nicht ernst genommen. Nicht von den höchsten deutschen Richtern, nicht von den Wählerinnen und Wählern in der EU. Lag die Wahlbeteiligung bei der ersten Europawahl 1979 noch bei 63 Prozent, so waren es 2009 nur noch 43 Prozent – oder etwas mehr als 28 Prozent in Tschechien und Slowenien sowie lediglich 21 Prozent in Litauen und 19,6 Prozent in der Slowakei. Auch bei der Wahl im Mai wird sich die Begeisterung für die europäische Sache in Grenzen halten. Anschließend werden sich 751 Abgeordnete konstituieren, die mit Verve für eine stabile und wehrhafte Demokratie eintreten. Völlig unbegründet. Denn in seiner jetzigen Ausgestaltung ist die europäische Parlamentsdemokratie nicht bedroht – nicht einmal von den Parteien, die die Europäische Union am liebsten abschaffen möchten.

Martin Theobald
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