Virtuelle Unschlagbarkeit

EPO-Radl

d'Lëtzebuerger Land du 20.01.2011

Heute loben wir die virtuelle Unschlagbarkeit. Den Titel dieser kleinen Lobeshymne möchten wir schnell wieder zurechtbiegen. Natürlich heißt es nicht „EPO-Radl“, sondern „Leopard“. Man darf diese schöne Gattungsbezeichnung nicht anagrammatisch aufmischen. Sonst fällt unsere schöne Beweisführung flach. Weil auf einmal verborgene Bedeutungen ans Tageslicht kommen, die wir einfach nicht zur Kenntnis nehmen möchten. Bei „Leopard“ haben wir es mit etwas völlig Neuem zu tun, einem set neuf, also einem Ereignis, das unserem schönen Land Luxemburg ein erstaunliches Profil verpasst. Und dass sich keiner untersteht, set neuf von hinten nach vorne zu lesen!

Wir haben es hier nicht mehr mit trivialen Radrennfahrern zu tun, sondern mit strahlenden Herolden der überwundenen Wirtschaftskrise. Es geht vorwärts, die Räder surren, die Speichen blitzen! Angesagt ist das Ende der fatalen Knauserigkeit. Stellvertretend für uns alle fahren die Herrschaften wieder Mercedes und reisen zum Kuschelwochenende nach Crans Montana. Dort versammeln sich exklusiv die Guten, Reichen und Schönen. In unmittelbarer Nachbarschaft liegt übrigens Davos, wo jedes Jahr die Geldsäcke der Welt hinter schützenden Stacheldrahtverhauen ihre eigene Unverzichtbarkeit feiern.

Echt beruhigend ist, dass der edelste Leopard-Mäzene, Herr Flavio Becca, seine finanzielle Potenz einer schönen Karriere auf dem Real-estate-Parkett verdankt. Wer beim Stichwort Real estate nun zusammenzuckt und reflexartig an die Hypo Real Estate Bank denkt, jenes Epizentrum der gewaltigen Finanzkrise, der kann nur ein engstirniger Kleinkrämer sein. Es soll Menschen geben, die allen Ernstes behaupten, die bankrotte HRE habe sozusagen Doping auf allerhöchster Finanzebene propagiert. Ihnen sei gesagt: Allen anders lautenden Unkenrufen zum Trotz ist der Real-estate-Bereich genau jenes Finanzbollwerk, an dem die Weltwirtschaft genesen wird. Erfolgreiche Real-estate-Spekulanten sollten wir also nach Kräften bewundern und mit unserer Gunst verwöhnen. Herr Becca sollte gleich mal mit allen hohen Verdienstorden des Großherzogtums eingedeckt werden. Er dreht schließlich ganz schön energisch am Rad des Fortschritts.

Das alles sieht nicht eben nach staatlichen Sparmaßnahmen aus. Sollten wir uns nicht langsam fragen, ob die verordnete Austerität vielleicht ein reines Ammenmärchen ist? Eine Verirrung der Politik? In diesem Fall wäre das Leopard-Team auch noch eine zutiefst staatskritische, wenn nicht gar revolutionäre Vorhut. Die Herren führen vor, wie man mit Geld um sich schmeißt. Der Weg ist das Ziel.

Das Allerbeste an diesem Glamour-Märchen ist, dass die Schlecks und Cancellaras nach ihrer hollywoodreifen Selbstdarstellung eigentlich gar nicht mehr in die sportlichen Niederungen hinabsteigen müssen. Sie sind per se grandios, ihnen kann keiner, ganz einfach weil sie es überzeugend behaupten. Wir schlagen vor, das Leopard-Trek-Team zum weltweit ersten Weltmeisterclub ohne lästigen Nachweis vorhandener Qualitäten zu küren. Warum sollten die Herren Höllenqualen à la Tour de France auf sich nehmen? Sie haben es doch nicht nötig, sich mit kapriziösen Kettenrädern und imageschädigenden Trëllert-Episoden herumzuplagen. Es genügt vollends, wenn sie einmal pro Jahr in der Coque zur kollektiven Erscheinung antreten. Radrennen sind nur proletarischer Murks. Sowas darf man diesen Lichtgestalten nicht antun. Unsere Heimat ist süchtig nach Erscheinungen, ob in der Kathedrale oder auf Kirchberg. Vom virtuellen Glanz konnten wir immer schon gut leben.

Zudem sollten wir nicht übersehen, dass neuerdings ganze Sportredaktionen von den Nichtleistungen der Nichtgeprüften leben. Tag für Tag dürfen wir vollbepackte Zeitungsseiten mit den letzten Neuigkeiten von der virtuellen Front lesen. Die Journalisten informieren sich und uns hinter den Kulissen, vor den Kulissen, unter den Kulissen, über den Kulissen, seitlich der Kulissen über die unscheinbarsten Leopard-Regungen. Sobald einem der Goldjungen zufällig ein Knatterlüftchen entweicht, erreicht es bald darauf mit Donnerhall die Redaktionsstuben. Es wird nach allen Regeln der Kunst analysiert und seziert. Wieso knattert Schleck der Jüngere? Warum versagt bei Schleck dem Älteren der Schließmuskel? Wohin weht das Lüftchen? Aufwärts, abwärts oder geradeaus? Was schließen wir aus dem Knatterklang? Hören wir da eine geballte Ladung Energie heraus oder nur ein verhaltenes Aufbäumen? Man sieht, die Sportberichterstattung steht vor einem neuen Aufbruch. Es wird so extensiv über das Vorfeld berichtet, dass es am Ende gar nicht mehr zum Feld kommen muss. Das Vorfeld ist schon der Sieg.

Warum soll der Leopard zum Sprung ansetzen, wo doch jeder weiß, dass er unheimlich gut springen kann? Warum sollte er seine Sprungkraft auch noch niveaulos zu Markte tragen? „Leopard“, der virtuelle Gigant, ist das neue Markenzeichen unserer Heimat. Wenn wir nur wollten, könnten wir die ganze Welt in die Tasche stecken. Indem wir nicht wollen, beweisen wir unsere wahre Größe.

Guy Rewenig
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