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Auf der Jagd nach linken Wählern

d'Lëtzebuerger Land vom 15.04.2022

Emmanuel Macron und Marine Le Pen haben es geschafft: wie bei den letzten Präsidentschaftswahlen 2017 können sich die Franzosen in der Stichwahl erneut zwischen einer Rechtsextremistin und einem liberalen Pro-Europäer entscheiden. Wer es von den Beiden schafft, die frustrierte linke Wählerschaft zu mobilisieren, gewinnt die Wahl am 24. April. 7 714 574 – so viele Franzosen hielten Jean-Luc Mélenchon für einen gediegenen Thronfolger im Élysée-Palast. Der Kandidat der links-populistischen France Insoumise konnte in der ersten Wahlrunde am 10. April 22 Prozentpunkte sammeln und verpasste so den Einzug in die Stichwahl um Haaresbreite – am Ende fehlten ihm 1,2 Prozent.

Im Gegensatz zu 2017 besitzt Marine Le Pen Stimmenreserven bei Éric Zemmour (knapp zweieinhalb Millionen) und beim radikalen Teil der rechts-konservativen Partei Les Républicains (letzten Umfragen zufolge ein Viertel ihres Elektorats). Der eigentliche Jackpot liegt jedoch bei den rund 8 Millionen Wählerinnen des linken Spektrums, auf welche die Kandidatin des rechts-radikalen Rassemblement National durchaus Anspruch erheben kann.

Am Wahlabend letzten Sonntag wiederholte Jean-Luc Mélenchon direkt dreimal, dass keine einzige Stimme zu Marine Le Pen gehen dürfe. Am Mittwoch pointierte er seine Bitte erneut per Brief, um ganz sicher zu gehen, dass auch gar niemand von seinen Wählern auf die Idee käme, Marine Le Pen zu wählen. Ob seine Wählerschaft ihm gehorcht, ist jedoch zu bezweifeln.

Am Tag nach der ersten Wahlrunde hätten einer Umfrage des Meinungsforschungsinstitut Ipsos zufolge 30 Prozent der Wählerschaft von Jean-Luc Mélenchon in der Stichwahl für Marine Le Pen gestimmt. Der Wert verringerte sich in den letzten Tagen auf 18 Prozentpunkte, im Gegensatz zu 37 Prozent, die für Emmanuel Macron stimmen wollen. Nichtsdestotrotz scheint die Überschneidung der links-populistischen und rechts-populistischen Wählerschaft größer zu sein, als erwartet.

Auf den ersten Blick mag das überraschen, doch die Überlappung zeigt, wie in Frankreich Wahlkampf geführt wurde. Was Jean-Luc Mélenchon und Marine Le Pen vereint, ist ihre radikale Opposition zu Emmanuel Macron. Während der amtierende Präsident zum Beispiel das Rentenalter von 62 auf 65 Jahre anheben möchte, wollen seine beiden Gegenkandidaten es auf 60 Jahre heruntersetzen (für Marine Le Pen nur, wenn die Person mit 17 Jahren angefangen hat, zu arbeiten).

Eine Mélenchon-Wählerin, für die die Rentenreform, der Austritt aus der NATO oder die Lockerung der Corona-Maßnahmen wichtig sind, wird von Le Pens Wahlprogramm besser vertreten als von Macrons. Mélenchon hat vor der ersten Wahlrunde im linken Spektrum eine Anti-Macron-Welle begünstigt, auf der Marine Le Pen nun zu surfen versucht.

Am Dienstagmorgen zeigte sich die rechts-populistische Kandidatin im Radio France Inter verwundert über Mélenchons harte Verurteilung. Ihr zufolge betreibe der Kandidat von France Insoumise Wahlpolitik, um seine Position innerhalb linksgerichteter Parteien zu stärken. „Vor fünf Jahren war (Jean-Luc Mélenchon) gegenüber einem kandidierenden Emmanuel Macron härter als letzten Sonntag gegenüber einem amtierenden Emmanuel Macron. Er hat mehr an sich selbst als an die Franzosen gedacht“, kritisiert Marine Le Pen.

Im Juni finden in Frankreich Parlamentswahlen statt, in denen die Gauche aufholen möchte. Nachdem die France Insoumise am vergangenen Sonntag alle anderen linken Parteien haushoch geschlagen hatte, versucht Parteichef Mélenchon seine Führungsposition aufrecht zu erhalten. Anders als seine Rivalen Yannick Jadot und Anne Hidalgo, ruft er jedoch nicht explizit dazu auf, in der Stichwahl Emmanuel Macron zu wählen.

Der sogenannte „front républicain“, der 2002 und 2017 den Einzug der Le-Pen-Familie in den Élysée verhinderte, scheint an Wirkung zu verlieren. Dennoch versucht Emmanuel Macron die Franzosen immer noch mit der gleichen Strategie zu überzeugen. Immerhin sei er die demokratischere Alternative zu Le Pen. Objektiv betrachtet hat er selbstverständlich recht, doch bei linken Wählerinnen scheint der Glaube an die repräsentative Demokratie zu schwinden.

Bei Emmanuel Macrons Besuch in Straßburg am Dienstag waren die Einwohner weniger willkommenheißend, als von einer europäischen Hauptstadt zu erwarten gewesen wäre. 35,5 Prozent der Straßburger haben in der ersten Wahlrunde für Jean-Luc Mélenchon gestimmt, nur 30,2 Prozent für den pro-europäischen Staatschef. In der Region Grand-Est, die an Luxemburg grenzt, haben die Einwohner überwiegend die Rechtspopulistin Le Pen gewählt.

Vor der Straßburger Kathedrale wartet ein hundertköpfiges Sammelsurium an Macron-Gegnern auf den Präsidenten: Gelbwesten, Royalisten, Klimaaktivisten. Während seiner Rede wird er unterbrochen. Junge Mélenchon-Anhänger tragen T-Shirts mit der Aufschrift „Taxez les riches“ und buhen den Kandidaten aus. Danach werden sie von Sicherheitsbeamten aus der Menge gezerrt.

Emmanuel Macron geht schließlich auf die Provokationen ein: „Ja, Mélenchon, den habt ihr in der ersten Wahlrunde wählen können! Alle Franzosen vereinbaren sich gemeinsam demokratisch auf zwei Wahlprogramme. Und es stellt sich heraus, dass ihr die Wahl habt zwischen einem rechts-extremen Programm und unserem“, doziert der französische Staatschef.

Viele Franzosen empfinden Emmanuel Macron als arrogant, so auch die Klimaaktivistin Emma. Anders als ihre Freunde, wurde die 24-Jährige nicht aus der Menge gezogen, obwohl sie den Präsidenten mehrfach ausbuhte und ihn als „Criminel climatique“ beschimpfte. 2017 hat sie in der Stichwahl noch für ihn gestimmt, damit Marine Le Pen nicht an die Macht kommt. Heute ist sich die Mélenchon-Wählerin nicht mehr sicher, ob sie am 24. April wählen gehen soll: „Ganz ehrlich, nichts ist schlimmer als die Rechtsextremisten, doch dieses Mal wird die Wahl sehr schwierig für mich werden. Damals haben wir noch daran geglaubt, dass Emmanuel Macron eine ambitionierte Klimapolitik betreibe. Heute wissen wir, dass er sich dafür kaum interessiert“, erzählt die Aktivistin.

In der Stichwahl am 24. April werden Umfragen zufolge mehr als jeder vierte Franzose nicht wählen gehen, bei der Wählerschaft von Jean-Luc Mélenchon sogar knapp jeder Zweite. Der Bedrohung eines erheblichen Rechtsrucks im Land entgegnen immer mehr Franzosen mit einer ernüchternden Gleichgültigkeit.

Leonardo Kahn
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