ZUFALLSGESPRÄCH MIT DEM MANN IN DER EISENBAHN

Mummenschanz

d'Lëtzebuerger Land du 18.10.2024

Nächstes Jahr nehmen Staat, Gemeinden und Sozialversicherung 42,6 Milliarden Euro ein. Sie geben 43,2 Milliarden aus (Budget pluriannuel 2025-2028, S. 17). Das ist die Hälfte des Bruttoinlandsprodukts von 87,7 Milliarden. In den Nachbarstaaten ist die Staatsquote höher.

Die Marktwirtschaft ist halbverstaatlicht: Jeder zweite Euro, der erwirtschaftet wird, fließt durch öffentliche Kassen. Um die gesellschaftliche und wirtschaftliche Reproduktion zu gewährleisten. Niemand stellt dies ernsthaft in Frage. Weder Regierungs-, noch Oppositionsparteien, weder Unternehmerlobbys, noch Gewerkschaften.

Endlos umkämpft ist nur die Umverteilung: Wer zahlt, wer bekommt? Der Neoliberalismus verteufelt Staatsdefizite, ihre Finanzierung durch Anleihen. Brutal schafft er Sachzwänge. Wie die Abwertung 1982, die Maastricht-Kriterien 1992, den Europäischen Fiskalpakt 2012. Die Sachzwänge bezwecken die Umverteilung von unten nach oben.

Luc Frieden war 15 Jahre lang Haushaltsminister. Er sollte den neoliberalen Deficit hawk spielen. Stattdessen stieg die Staatsschuld während seiner Amtszeit von 692 auf 9 543 Millionen. 2012 stufte Moody’s sie herab auf „Aaa with negative outlook“.

Gilles Roth hat aus Luc Friedens Scheitern gelernt. Er schert sich nicht um einen ausgeglichenen Haushalt. Er plant Staatsdefizite und Schulden fest ein – bis zum Ende der Legislaturperiode. Sowieso ist die Fehlerquote grob: Das Budget pluriannuel bezifferte das diesjährige Haushaltsloch im März auf 1 910 Millionen (S. 20), im Oktober auf 1 421 Millionen (S. 11). Anderer Länder Steuerbemessungsgrundlagen anzuzapfen, schafft Spielraum.

Das Zauberwort des Finanzministers ist der Schereneffekt. DP-Finanzministerin Yuriko Backes hinterließ vor einem Jahr „keng gutt Aussiichten“. Nun gebe es „eng kloer Trendwend“ – einen „positive Schéiereffekt“. Erklärte er dem Parlament in seiner Haushaltsrede (9.10.).

Der ungelenke Ausdruck soll besagen: Wäre das Budget eine Schere, würde ihr Klingenwinkel spitzer. Wenn die Einnahmen schneller steigen als die Ausgaben. Nicht zur Debatte steht das Verschwinden des Defizits. Trotz mehr Wachstum, weniger Zinsen, weniger Inflation. Soll die Opposition doch zum Sparen aufrufen! Die Wählerschaft wird es ihr schon heimzahlen. Wie 2014 den „Zukunftspak“.

Die Regierung verspricht lieber einen „Entlaaschtungspak“. Sie ruft niemand auf, den Gürtel enger zu schnallen. Alle sollen ihn lockern: Sie senkt die Steuereinnahmen um 421 Millionen. Für 171 Millionen Euro soll der Strompreis subventioniert bleiben (Gesetzentwurf 8428). Beides entlastet die Wählerschaft und bremst die Lohnkosten der Unternehmer. So steigt das Defizit auf 1 288 Millionen Euro.

Umverteilung von unten nach oben gelingt am besten, wenn sie unbemerkt bleibt. Die Dotierung des Fonds d’équipement militaire kostet 130 Millionen mehr. Die Erhöhung der Zigarettenakzisen bringt 126,5 Millionen mehr. Grenzpendler und Durchreisende rauchen für die Rüstungsindustrie.

Die bemerkbare Umverteilung stellt der Finanzminister als ausgewogen dar. Er schwärmt von „enger nohalteger-sozialer Finanzpolitik vun der Mëtt“. Er will die Kämpfe um die Umverteilung kleinhalten. Seiner Wählerschaft verspricht er: „Méi Netto vum Brutto gëllt weider. Grad fir déi breet Mëtt.“ Die besitzenden Klassen sollen sich freuen über „e Budget fir eng kompetitiv Wirtschaft an eng gesond Finanzplaz“. Den besitzlosen Klassen malt er dank Teuerungszulage und Energieprämie „een inklusiivt Lëtzebuerg mat faire Chancë fir jiddereen“ aus (9.10.).

Das Budget sieht vor, dass der Staat 1 250 Millionen leiht. Davon ein Drittel zur Finanzierung von Steuersenkungen. Haushaltsorthodoxie war Mummenschanz.

Romain Hilgert
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