Die Kleine Zeitzeugin

Wenn die Erde bebt

d'Lëtzebuerger Land du 17.02.2023

Es war in einer Volkshochschule in Wien, vor ein paar Jahren. Mein erstes Mal, hoffentlich auch mein letztes. Lehrer Nino stand an der Tafel, rechtschaffen bemüht, seinen Schüler/innen die Spezialitäten der kroatischen Grammatik näherzubringen, als es passierte. Danach war es still. War das jetzt ein Erdbeben?, fragte jemand. Eine Stimme, wie ich sie noch nie gehört hatte. Eine stimmlose Stimme. Eine vollkommen farblose, eine bleiche Stimme. Wir schauten uns an, ja, hörte ich mich hauchen. Ich war wie erstarrt, in einer absurden Position, zugleich versteinert und auf dem Sprung. Zugleich im Flucht- und im Totstellmodus. Raus hier, ins Freie, rette sich wer kann, nur raus.

Die drei Stockwerke runter? Oder war es nichts, es ist nichts, alles nur nichts? Mit dem Blick auf die Handvoll anderer, im Herdenreflex. Die ebenfalls auf dem Sprung Versteinerten. Das war wohl ein Erdbeben, sagte Nastavnik Nino, seine Stimme klang fest wie immer, er stand an der Tafel, felsenfest, schrieb was, irgendwas über diesen idiotischen sechsten Fall. Die Gesichter um mich nahmen wieder Farbe an, die Körper entspannten sich, und als wir auf die Straße traten, stand alles da wie immer. Die Gebäude in Reih und Glied. Ein Stein auf dem andern. Alle Steine auf den andern. Alles an Ort und Stelle. Leute kamen uns entgegen, sie wirkten nicht verrückter oder normaler als üblich. Ich konnte meinen Augen aber nicht trauen und dem Erdboden schon gar nicht. Würde er noch mal? Nino wischte alles mit einer Handbewegung weg, er lachte gar. Seid ihr alle da?, rief ich die Liebsten an und dankte Gott, Göttinnen, Universum, wem oder was auch immer, Mutter, oder wie soll ich dich nennen, Erde, du hast es mit uns doch nicht so schlecht gemeint. Nur so ein Gewackel unter uns.

Später, bei unserm Stammwirt, schien alles nur noch ein fait divers. Eine Anekdote. Ja, die Doppler haben gewackelt, sagte Wirt Kemal und schenkte aus, großzügig wie immer. Könnte ich mich in Ruhe betrinken? Man konnte diesen Erdboden ja offensichtlich nicht aus den Augen lassen. Er war plötzlich nicht mehr der alte. Der selbstverständliche. Der, der immer da ist. Der Boden unter den Füßen. Wacheschieben wäre angesagt. Man konnte sich nicht einfach in Morpheus’ Arme kuscheln. Im Schlaf überrascht, heißt es ja immer.

Dass Mami Erde mit dem kleinen Zeh gewackelt hat, erschütterte die Grundfesten meines Urvertrauens, meines, ich gebe zu, sehr kindischen. Der Grund soll fest sein. Darauf gründen wir, darauf gründet alles. Der Boden unter den Füßen, darauf fußen wir. Ganz archaisch. Unsere Basis auf diesem Planeten. Als wäre es nicht schon Zumutung genug, dass wir angeblich kopfüber kopfunter durchs Weltall wirbeln!

Der Boden unter unseren Füßen kann nicht mobil sein, das sind nur wir, er kann nicht flexibel sein. Etwas soll nicht flexibel sein. Etwas soll stabil sein. Verlässlich. Solide. Der Grund soll kein Abgrund werden. Ja, in den Urzeiten schon, da war das voll okay, diese Action, hat unser Planet super hingekriegt. Als er Falten warf und Berge gebar, höchst dekorative auch noch, aber da waren wir ja noch nicht da. Das war ja vor uns. Und eigentlich für uns, oder?

Wer einmal spürte, wie die Erde unter ihm auch nur erschauerte, verliert eine grundlegende Illusion. Die tiefste Gewissheit. Nicht genug damit, dass Mutterland Erde, so wird behauptet, durchs All driftet. Es hat auch noch aufeinander knirschendes, kreischendes Gebein, lockere, ja mobile Beckenplatten. Mobile im All. Ein unsicheres Terrain, ein ungewisses Pflaster ist unsere Erdenheimat. Alles andere als ein safe space, als ein space safe. Schüttelt sich, schüttelt uns ab, wie es ihm gerade passt. Ein schrecklicher Standort, ohne jede garantierte Standfestigkeit. Eigentlich müssten wir kündigen.

Jetzt ein Himmel, der kein Wässerchen trüben kann, auf einer lammfrommen Erde, sie hat gerülpst, lange und kräftig, jetzt ist sie wieder relax, der frischgewaschene Himmel, wie es bei Enid Blyton heißt, spannt sich vor den schneeweißen Bergen. Wie schön ist es da.

Michèle Thoma
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