Krankenkassendefizit

Abwälzen und umschichten

d'Lëtzebuerger Land du 09.10.2003

Wird am Ende doch, wie vor vier Jahren, der Staat einspringen, um das Krankenkassendifizit abbauen zu helfen? - Gesundheits- und Sozialminister Carlo Wagner (DP) sagt weder ja noch nein. Sondern, dass er "noch nicht alles offenlegen" könne, womit er in rund zwei Wochen in die Sitzung der Krankenkassen-Quadripartite gehen wird. Allerdings dürfe man "Sachleistungen und Geldleistungen nicht miteinander vermischen".

Die Krankenkassen-Quadripartite, das sind Vertreter von Regierung, Gewerkschaften, Patronat und der Ärztegewerkschaft AMMD. Auf ihrer Sitzung wird sie Vorentscheidungen darüber treffen müssen, welche Maßnahmen die Vollversammlung der Krankenkassenunion UCM am 13. November ergreifen soll, um die für 2004 geschätzte Deckungslücke der UCM-Finanzen von minus 83,6 Millionen Euro zu schließen. Aufgebracht werden muss diese Summe - irgendwie. Andernfalls könnte die Krankenkassenunion nicht die gesetzlich vorgeschriebene Reserve von zehn Prozent ihrer laufenden Ausgaben bilden.

 

Sachleistungen sind sämtliche Behandlungs- und Verschreibungskosten plus Abschreibungen für die Krankenhausinfrastruktur, Funktionskosten der medizinischen Ausrüstung, sowie Gehälter des nicht-ärztlichen Personals. Die Geldleistungen umfassen Krankengelder sowie die Lohnfortzahlung für Frauen im Mutterschaftsurlaub. Beide Posten werden, wie die Dinge liegen, demnächst unter erheblichen Druck geraten. Das Arbeiterkrankengeld dürfte mit einem Rekorddefizit von über 83,4 Millionen Euro am stärksten zur Negativbilanz beitragen.

 

Natürlich spielt die momentane Lage von Wirtschaft und Arbeitsmarkt ihre Rolle. Die Zuwachsrate der beitragspflichtigen Versicherten ist in diesem Jahr gegenüber 2002 um 36 Prozent gefallen. Der Ein-nahmenzuwachs aus den Krankenversicherungsbeiträgen wird nicht reichen, um auszugleichen, was die jüngste UCM-Budgetschätzung für 2004 ebenfalls enthält: einen spektakulären Anstieg der Sachleistungsausgaben. In diesem Jahr werden sie noch klein genug sein, um einen Überschuss von knapp 81 Millionen Euro zu erzeugen. Im nächsten Jahr werden es 80 Millionen weniger sein.

 

Es ist dieser Umstand, den Patronatsverbände wie Gewerkschaften ins Feld führen, wenn sie eine höhere Staatsbeteiligung am UCM-Budget verlangen. Denn wenn 2004 die Honorare für Ärzte um 20 Prozent und die für Zahnärzte um 21 Prozent wachsen werden, dann nicht nur, weil UCM und Sozialpartner mit den Ärztevertretern während der alljährlichen Neuverhandlung der Honorare eine Steigerung vereinbart hatten, sondern auch, weil Carlo Wagner in separaten Gesprächen mit der AMMD eine zusätzliche Aufbesserung und die Anbindung der Honorare an den Index zugesagt hatte. Kurz vor der Som-merpause passierte die neue Regelung per Gesetzentwurf das Parlament. Per Gesetz werden auch die Ausgaben für das Krankenhauswesen weiter steigen. Der Zuwachs wird mit rund 40 Millionen Euro nahe dem für die Medizinerhonorare liegen - und er wird nicht nur Abschreibungen und Funktionskosten für die so genannte "schwere Medizintechnik", wie etwa PET-Scanner enthalten, sondern auch die übliche 20-prozentige Beteiligung der Krankenkassen an den Baukosten für die neuen Kliniken auf dem Kirchberg und in Ettelbrück, die um elf bzw. 15 Prozent höher ausgefallen sind, als anfangs geplant: Mitte letzten Monats deponierte Carlo Wagner für die Deckung dieser Mehrkosten ein Gesetzesprojekt.

 

Ganz von ungefähr kommt es daher nicht, wenn zwischen Sozialpartnern und Regierung um die "Schuldfrage" kommuniziert wird. Erstere meinen, die Regierung habe Lasten auf die Krankenkassen abgewälzt, wenn von den Sachleistungen die Rede ist. Wenn der Sozialminister dagegenhält, man dürfe diese nicht mit den Problemen beim Krankengeld verwechseln, und darauf verweist, dass die Krankenkassen schließlich Finanzautonomie hätten, meint er: Die von den Sozialpartnern kollektiv verwalteten Kassen, besonders die allgemeine Arbeiterkasse CMO und die Arbed-Arbeiterkasse CMOA, hätten selber etwas gegen das Defizit beim Arbeiterkrankengeld unternehmen können.

 

Doch nicht nur die Sozialpartner, auch der Minister hatte sich eine deutliche Senkung des Krankenstands durch das neue Gesetz über die Regelung der Berufsinvalidität versprochen. Eine gestraffte Prozedur zur Regelung der Zuerkennung einer Invalidenrente bzw. einer Neubeschäftigung eines nicht als invalid Anerkannten sollte verhindern helfen, dass Langzeitkranke zu lange im Krankengeld verbleiben. Doch die erhoffte Wirkung hat sich noch nicht eingestellt, der Anteil der Langzeitkranken hat sich seit 2000 verdoppelt, und die Regierung will demnächst gesetzlich nachbessern.

 

Politisch sind das für sie nicht die allerbesten Voraussetzungen, um den Forderungen der Sozialpartner nach einer erneut erhöhten Staatsbeteiligung zu begegnen. Noch im Sommer schloss der Sozialminister sie aus, als das Gesetzesprojekt zur Anpassung der Arzthonorare diskutiert wurde. Doch angesichts der bevorstehenden Wahlen dürfte es ihm schwer fallen, etwa den Vorstellungen der Arbeitgeberseite zur weiteren Sanierung des Krankengeldes zu folgen: Nachdem die Handwerkerföderation die Rolle der Sprecherin fürs Grobe übernommen und einen Karenztag verlangt hatte, spricht der Patronatsdachverband UEL nun davon, die Lohnfortzahlung in jedem Fall beizubehalten, die Versicherten jedoch am Krankengeld zu beteiligen: Eine gewisse Kürzung des Krankengelds hätte zweifellos eine nicht zu unterschätzende psychologische Wirkung. Eine Sicht, die die Gewerkschaften allerdings nicht nur im Hinblick auf die bevorstehenden Sozialwahlen schwerlich teilen werden. Die Arbeitgeber wiederum pochen auf die Tripartite-Abmachung vom Frühjahr, die höhere Lohnnebenkosten ausschloss.

 

Zum Glück für Carlo Wagner und das der DP so wertvolle Bekenntnis, eine sozial verpflichtete Partei zu sein, zeigt sich die AMMD dankbar für den Honorarschub. Die Debatte um den Krankenschein-Missbrauch aufgreifend, kann der Sozialminister nun auf Kontrollen der Ärzte setzen: Rund ein Dutzend Mediziner seien verdächtig, unbegründete Krankschreibungen vorzunehmen. Der Spitzenreiter bringe es auf 3 800 Krankschreibungen im Jahr, der Zweitplatzierte auf 3 600. Vor wenigen Tagen erst wies Wagner die Krankenkassen an, Versicherte, die von jenen Ärzten krank geschrieben wurden, zum Contrôle médical zu schicken.

 

Eine Maßnahme, die den Kassen ebenfalls offen steht - im Prinzip. Denn der springende Punkt besteht nicht nur darin, dass der Contrôle médical die Betreffenden schnell überprüfen muss, weil Krankenscheine Dokumente von juristischem Wert sind. "Wir sind nicht untätig, wir haben im letzten Jahr an die 13 000 Kontrollen veranlasst", sagt CMO-Präsidentin Christiane Bertrand-Schaul, "doch ob sich darunter eine unbegründete Krankschreibung befand, erfahren wir bisher nicht." Es bestehe "eine unzurei-chende informatische Vernetzung" zwischen den einzelnen Kassen und dem Centre commun de la sécurité sociale.

 

Doch nicht nur die Vernetzung ist unzureichend, die Datenerhebung ist es auch, und sie ist zurzeit noch ohne rechte Basis. Zwar legte schon das Krankenkassenreformgesetz von 1992 die Einrichtung einer Überwachungskommission fest, die Streitfälle zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern behandeln und entscheiden soll, ob ein Arzt den Rahmen des "Nützlichen und Notwendigen" bei der Behandlung überschritten hätte. Doch nachdem die Kommission ab 1994 zu arbeiten begonnen hatte, kam es zu einer Auseinandersetzung mit der Ärztegewerkschaft AMMD: Als die Kommission einem Arzt einen Verstoß nachweisen wollte, entspann sich daraus ein langes juristisches Verfahren, das sogar den neu geschaffenen Verfassungsgerichtshof passierte. Die Frage war, ob die Kommission einem Mediziner Kriterien vorschreiben und deren Nichteinhaltung sanktionieren könnte. Als das Verfahren 1998 noch immer schwebte, änderte die damalige Sozialministerin Mady Delvaux das Krankenkassengesetz ab - seitdem muss in den Behandlungsnomenklaturen der Ärzte definiert werden, was "références médicales opposables aux médecins" sind.

 

Diese Definition aber gibt es bisher nicht. Diskutiert wurde darüber in den Quadripartiterunden wohl. Doch zum einen ist die Festlegung medizinischer Referenzen ein kompliziertes wisenschaftliches Unterfangen. Und als in Luxemburg der Verweis auf Referenzen Eingang in die Gesetzgebung fand, wollte man noch die französischen buchstabengetreu übernehmen. Mittlerweile aber gibt es in Frankreich höchstinstanzliche Rechtssprechungen, die den Referenzen eine Absage erteilten: Ein Arzt müsse stets zum Wohle des Patienten handeln, war der Tenor der Urteile.

 

So dass hier zu Lande ein Konsens mit den Ärzten nötig ist. Dass der in den letzten Jahren nicht ge-funden wurde, lag daran, dass AMMD und Sozialpartner sich in die Diskussion um eine eventuelle Dekonventionierung der Ärzte und die Zulassung von Privatbehandlungen verbissen. Nun kommt Bewegung in die Sache. "Wir stimmen zu, dass offiziell Medizinerprofile erstellt werden, dass eine Analyse des Verschreibungsverhaltens angefertigt und ein Missbrauch vor der Überwachungskommission verhandelt wird", sagt AMMD-Generalsekretär Daniel Mart. Das habe "auf jeden Fall zu tun" mit dem Honorarkompromiss. So dass die bisher intern von der UCM erhobenen Ärztecharakteristika auch in jene Datenbank münden können, die schon seit zwölf Jahren auf dem Gesetzespapier existiert, von der UCM intern geführt wird, von der aber noch nicht klar ist, wie man sie zu interpretieren hat.

 

Carlo Wagner verspricht sich von der "peur du gendarme" viel. Und  glaubt sogar, gemeinsam mit der noch einmal verbesserten Gesetzgebung zur Berufsinvalidität werde sich demnächst "ein Überschuss" in der Krankengeldbilanz einstellen.

 

Natürlich: Ein ausgeglichenes Krankenkassen-Budget für das nächste Jahr lässt sich daraus nicht zaubern. Es könnte aber sein, dass es nicht nur an den bevorstehenden Wahlen liegt, sondern auch an den wieder entdeckten Strukturproblemen auf legislativer Ebene, dass Premier Juncker am Dienstag davon sprach, es werde ein "Paket" zur Krankenkassensanierung vorbereitet. Carlo Wagner hält sich dazu bedeckt. Zunächst wolle er sehen, was die Sozialpartner in der Quadripartite vorschlagen. Doch die Verwirrung um den Staatsanteil in der Pflegeversicherung deutet darauf hin, dass das Umschichten im Staatsbudget schon begonnen hat.

 

Peter Feist
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