Gespräch mit Jean-Claude Juncker über die Sicherheits- und Wirtschaftsinteressen der EU. Und über die CSV und ihren Spitzenkandidat für die Kammerwahlen

„Klug durch die Weltgeschichte bewegen“

Jean-Claude Juncker am Dienstag in seinem Büro in Luxemburg-Stadt
Photo: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land du 24.02.2023

d’Land: Herr Juncker, vor einem Jahr sagten Sie, Sie seien „maßlos enttäuscht von Putin“. Welches Gefühl haben Sie heute?

Jean-Claude Juncker: Es hat sich nicht in eine Pro-Putin-Richtung bewegt. Ich kenne ihn seit 2001 und hatte unzählige Gespräche mit ihm. Ab 2009/2010 bemerkte ich, dass er dem globalen Westen viele Vorwürfe zu machen begann. Vor allem den USA, aber auch den Europäern. Aber ich habe nie gemeint, auch weil ich dafür keine Hinweise hatte, dass er zu militärischen Aktionen bereit wäre. Als das entgegen meinen Erwartungen doch geschah, war ich davon überrascht und habe mein Urteil über ihn einer dramatischen Revision unterzogen.

Konfliktforscher sagen, wenn es nicht gelingt, einen Krieg im ersten Jahr zu beenden, dauert er noch Jahre weiter. Gehen Sie beim Ukraine-Krieg davon aus?

Ich habe den Eindruck, dass es in Russland Spezialisten für das Einfrieren von Konflikten gibt. Das haben wir bei der Krim gemerkt, das ist ja noch nicht ausgestanden. Wir haben es auch bei Russlands Aktionen in Georgien festgestellt. Offenbar will Putin uns in eine mal ausgesprochene, mal unausgesprochene Kriegslogik einwickeln. Wobei er die Voraussetzungen für den Krieg in der Ukraine einseitig auf das Konto des Westens bucht und einfach nicht zur Kenntnis nimmt, dass die Aufregung über den Krieg zwar im Westen, vor allem in unserem Teil von Europa oder der Atlantik-Front, besonders groß ist, aber weite Teile der Völkergemeinschaft der Ansicht sind, dass Russland im Widerspruch zur historischen Entwicklung der Weltfriedensordnung handelt.

Wie könnte der Krieg sich durch Verhandlungen beenden lassen?

Dafür gibt es Grundvoraussetzungen, das muss man nüchtern sehen. Die Ukraine kann nicht mit territorialem Verzicht leben. Ihre territoriale Souveränität wird attackiert. Grenzen werden verschoben, Krim, Donbass und so weiter. Wer zu friedlichen Lösungen kommen will, kann nicht, ehe es endgültige Bemühungen dafür gibt, akzeptieren, dass ein Land ganz oder teilweise besetzt wird. Das geht nicht. Davon zu träumen, dass Russland den Krieg verlieren könnte, halte ich ebenfalls für eine Ausgangsüberlegung, die ins Verderben führt. Denn das würde heißen, Russland massiv unter militärischen Druck zu setzen und vom Westen ausgehend Krieg gegen Russland zu führen, als Nato. Das ist ein absolutes Horrorszenario! Also meine ich, dass der klassische Weg, wenn man die militärische Niederlage ausgesondert hat, Verhandlungslösungen sind, aber kein Diktatfrieden, kein Frieden zu exklusiv russischen Bedigungen. Verhandlungen müssen auf gleicher Ausgangs-Augenhöhe stattfinden. Russland ist eine große Militärdiktatur. Eine amputierte Ukraine wäre kein Verhandlungspartner auf gleicher Augenhöhe und hätte auch immer den psychologisch-moralischen Nachteil, der gleichen Augenhöhe hinterherzulaufen, während sie Friedensverhandlungen herzustellen versucht. Deshalb muss dafür gesorgt werden, ehe Verhandlungen beginnen können. Aber ich bewege mich da in Kategorien, in denen ich früher nie aufgetaucht bin. Ich habe meine eigene Wortwahl nicht mehr gern. Mich frappiert, wie schnell unsere Argumentation in Kategorien des Kalten Krieges zurückgefallen ist.

Was Sie hier entwickeln, impliziert ja auch weitere und schnellere Waffenlieferungen. Bei im Prinzip wachsenden Eskalationsrisiken für Europa.

Nicht jede Militärhilfe an die Ukraine ist gleichzusetzen mit einer Verwicklung in die militärische Auseinandersetzung. Die Ukraine wurde überfallen und muss sich verteidigen können. Um Beistand zu bitten, ist ihr Recht. Aber nicht alles, was sie verlangt, kann geliefert werden. Ich bin ganz skeptisch, was Kampfflugzeuge betrifft. Und sehr zurückhaltend, was Streumunition angeht. Die könnte von EU-Ländern sowieso nicht geliefert werden, weil sie die Konvention zu deren Ächtung unterzeichnet haben.

Ist eine neue „europäische Sicherheitsarchitektur“, von der Emmanuel Macron vor ein paar Monaten gesprochen hat, unter solchen Bedingungen reine Spekulation?

Nötig ist sie, und an ihr wurde gearbeitet. Die EU-Kommission hat sich unter meinem Vorsitz intensiv darum bemüht. Wir hatten einen EU-Verteidigungsfonds geschaffen. Die von uns vorgeschlagenen Kreditansätze wurden vom Europäischen Rat aber reduziert. Im Europaparlament musste ich mir anhören, unter die Kriegstreiber gegangen zu sein. Heute stellt niemand mehr ernsthaft infrage, dass es eine Stärkung der europäischen Verteidigungsbereitschaft geben muss. Da ist viel in Bewegung. Wie üblich in der EU mit einer gewissen Verspätung.

Bedeutet „Sicherheitsarchitektur“ nur Militärisches?

Natürlich nicht. Sie wäre schwierigst herzustellen, ohne Russland als Sicherheitspartner auf dem europäischen Kontinent aufzufassen. Was Russland heute nicht ist. Doch die Geografie kann man nicht ändern, trotz aller Enttäuschung. Russland bleibt, wo es ist. Wir können den Umgang mit der Geografie ändern, können einen anderen Umgang mit den Folgen anstreben, die sich aus der Geografie ergeben, wenn sie sich feindlich entwickelt. Russland zu vergessen bei dem kontinentalen Baukasten, den wir im Sicherheitsbereich brauchen, aber geht nicht.

China hat angekündigt, am heutigen Freitag (das Interview fand am Dienstag statt, d. Red.) einen Friedensplan für die Ukraine vorzulegen. Erwarten Sie sich da etwas?

Ich kenne die Protagonisten gut. Präsident Xi und den Premier, auch den früheren Außenminister und jetzigen Staatsrat Wang Li. Ich meine, man darf nicht vergessen, dass nicht nur ein Machtvergleich von Russland und einem anderen Teil der Welt stattfindet, sondern dass es auch Dritte gibt, die eine Rolle zu spielen haben. Darunter vor allem China, das eine richtige Militärmacht geworden ist und immer größer wird. China, meine ich, versucht seinen Platz im Weltdialog zu verankern und will die Meinung in Europa, die in Richtung friedlicher Lösung und Verhandlungen tendiert, für sich selber beeinflussen, indem es sich als Friedensmacher empfiehlt. Obschon China Russland eine hundertprozentige Freundschaft versprochen hat. Und wenn Worte einen Sinn haben, kann China dann nicht zu zwanzig Prozent auf der Seite eines anderen stehen. Doch China braucht die EU, denn sie ist der Hauptabsatzmarkt für chinesische Produkte. Die EU kann sich ebenfalls nicht aus der Handelspartnerschaft verabschieden, weil es so viele Erstprodukte gibt, über die China exklusiv oder beinahe exklusiv verfügt. Also müssen wir mit China im Dialog bleiben. Das können aber keine Beziehungen sein, die äquidistant sind mit denen zu den USA.

Dass die transatlantischen Beziehungen eine neue Bedeutung bekommen haben, ist offensichtlich. Folgt daraus, dass die EU mit Russland wird umgehen müssen, während die USA sich auf China konzentrieren? Und ist das im Interesse der EU, die ja eigentlich „strategisch autonom“ sein will, zumindest Macron sagt das?

Man sucht sich in der Weltpolitik und der diplomatischen Aktion neu ergebende Fixpunkte nicht aus. Das ist keine Wahl, sondern eine Realität, mit der man umgehen muss. Der Konflikt mit Russland ist da. Ein Interessenkonflikt mit China ist am Wachsen. Die Allianz zur Konfliktvermeidung haben wir mit den Amerikanern. Daraus ergibt sich für die Außen- und Sicherheitspolitik der EU eine Gemengelage, die zum einen schwierig einzuschätzen ist, weil sie sich oft ändert, und in der die EU zum anderen auf ihre Schwächen zurückgeworfen wird. Sie hat es einerseits sträflichst unterlassen, sich aus der Energieabhängigkeit von Russland herauszubewegen, andererseits ihre Verteidigungsanstrengungen nach oben zu korrigieren.

Politikfähig war das nicht.

Das ist wahr. Wenn ich die klugen Kommentare in der veröffenlichten Meinung lese, was wir gegenüber Russland alles falsch gemacht hätten, nicht nur militärisch, sondern generell, komme ich aus dem Staunen nicht heraus. Stellen wir uns vor, vor zehn Jahren hätte die deutsche Regierung unter Angela Merkel ganz brutal entschieden: Kein russisches Gas mehr! Und die Nato hätte entschieden: Nun wird massiv aufgerüstet und wir beliefern unsere Alliierten nahe Russland mit schweren Waffen. Da wären die Straßen schwarz gewesen von Demonstranten. Ich erinnere mich an den Nato-Doppelbeschluss in den 70-er und 80-er Jahren unter Helmut Schmidt und Helmut Kohl. Kohl erzählte mir, er sei freitagabends ungern im Hubschrauber heim nach Ludwigshafen über die Menge der Demonstranten geflogen, die sich auf den Straßen in Bonn gegen ihn versammelt hatten. Es gibt ganze Armeen in Europa, die nicht einsatzbereit sind, vor allem die deutsche. Aber hätte die Politik vor zehn Jahren gesagt, die Bundeswehr müsse massiv aufgerüstet werden, wäre sie mit den Hunden aus dem Dorf gejagt worden. Die klugen Nachbetrachter, zu denen ich, muss ich sagen, manchmal selber gehöre, würden an Glaubwürdigkeit gewinnen, wenn sie ihre Diskurse um die Teile ergänzen würden, die sie damals geliefert haben.

Polen hat sich vorgenommen, das größte Militär der EU aufzubauen, und beansprucht zunehmend einen Platz in der EU-Politik wie Frankreich und Deutschland. Was ergibt sich daraus, wenn man bedenkt, dass Polen Probleme mit dem Rechtsstaat hat?

Der Rechtskonflikt mit Polen wird irgendwann begradigt; wenn es sein muss, gerichtlich. Das politische Gewicht Polens wächst. Seine Wirtschaft läuft ziemlich gut, abgesehen davon wird Polen durch das Vorgehen Russlands gegen die Ukraine innerhalb der EU und auch gegenüber den USA gestärkt. Polen wird strategisch wichtiger. Ist das gut? Ist das schlecht? Im Moment ist es gut, dass Polen militärische Bereitschaft zeigt. Ihm auf Dauer nicht nur in Nuancen, sondern auch in Substanzbereichen der europäischen Politik Sonderregeln einzuräumen, vor allem im Bereich Gerichtsbarkeit, weil es Nutznießer dieser strategischen Neugewichtung ist, würde mich aber besorgt machen.

Sind die EU-Staaten an der „Nato-Ostflanke“ ebenso EU-freundlich, wie sie eine Affinität haben, von den USA beschützt zu werden?

In Ost- und Mitteleuropa sind die USA via Nato der Sicherheitspartner Nummer eins. Diese Länder wurden, abgesehen von ein paar Nuancen, aus wirtschaftlichen Gründen EU-Mitglieder und, das muss man auch sagen, aus Gründen, die ihren Umgang mit sich selbst betrafen. Ich war immer ein großer Anhänger von EU-Osterweiterungen, weil ich sah, dass die Länder, die der sowjetischen Diktaur entgangen waren, untereinander Grenzkonflikte riskierten. Auch weil es recht substanzielle nationale Minderheitenprobleme bei ihnen gibt. Ich sagte mir: Diese Länder sind nun frei und wechseln aus einem Zustand von administrierter Wirtschaft in eine Marktwirtschaft über. Lässt man der neuen Demokratie und dem neu entwickelten Souveränitätsgefühl freie Bahn, kommt es zu Konflikten. Es wäre besser, diese Länder, weil sie es auch wollten, in eine EU-Solidarität einzubinden, damit sie sich gegenseitig nicht auf die Füße treten. Zum Teil geschieht das: Der Grenzkonflikt im Mittelmeeer zwischen Slowenien und Kroatien beschäftigte mich in Brüssel ziemlich stark. Von ihm weiß in Luxemburg kein Mensch, doch in den letzten Jahren hätte es fast täglich zur Entladung von Gewalt zwischen Fischerbooten und Fregatten, die die Boote begleiten, kommen können.

Kann das den Zusammenhalt der EU gefährden?

Stelle ich mir eine Zukunftsgestaltung vor, die auf einem ausgeprägten Misstrauen beruht und auf schlechten Gefühlen der einen Länder den anderen gegenüber, dann wäre Europa als Kontinent nicht mehr regierbar. Weder die EU noch die Nato hat ein absolutes Durchgriffsrecht auf ihre Mitgliedstaaten. Schaue ich optimistisch in die Zukunft? Nicht wirklich. Schaue ich pessimistisch in die Zukunft? Nicht wirklich, weil ich es nicht will.

Es gab und gibt noch eine starke Migration von Ost nach West. Vielleicht löst Westeuropa seine wirtschaftlichen Probleme auf Kosten Osteuropas, was diese Länder destablisiert. Bedenkt man obendrein, dass baltische Staaten wie Lettland und Estland große russische Bevölkerungsteile haben, die Putin vielleicht aufwiegeln könnte, steht die EU vor einer Menge Integrationsarbeit.

Das sind ein paar Probleme auf einmal. Die russischen Minderheiten in Teilen der EU werden nicht optimal gut behandelt. Sie werden stellenweise sogar zur Staatenlosigkeit gezwungen. Das sind Fragen, die bei den Erweiterungsverhandlungen, die stark wirtschaftlich geprägt waren, nicht richtig angepackt wurden und ein bleibendes Problem sind. Die Arbeitsflucht aus Teilen der EU in andere ist ebenfalls eines. Die wenigsten Leute wissen, dass mehr Letten in Großbritannien leben als in Lettland. Das war, als Lettland unabhängig von der Sowjetunion wurde, absolut nicht der Fall. Darum drehte sich übrigens ein großer Teil der Brexit-Vorverhandlungen, mit denen wir uns in Brüssel beschäftigt haben. Es gibt unverkennbar auch einen brain drain, eine Abwanderung von Intellektuellen, aus dem Baltikum, aus Ungarn und Rumänien, aber auch aus Polen in Richtung des westlichsten Teils der EU. Teilweise auch der Tatsache geschuldet, dass der Umgang mit den Rechtsnormen in Polen, Ungarn, auch in Rumänien, aber nicht vergleichbar groß, die Menschen an andere Orte lockt, wo sie freier atmen können. Die Verzahnung von die Atmosphäre negativ beeinflussenden Teilen der Gesellschaftspolitik in diesen Ländern erklärt wirtschaftliche Phänomene, die daraus entstehen.

Wie lässt sich darauf einwirken?

Die EU hat über Kohäsionspolitik, Regionalpolitik und die Unterstützung der Forschungspolitik immer versucht, so nah wie möglich an den Notwendigkeiten der so genannten „neuen“ Länder zu sein. Die nicht mehr neu sind, denn die meisten sind seit 2004 dabei. Auch da haben wir Fehler gemacht. Als Luxemburg 2005 den EU-Vorsitz innehatte, mussten wir Finanzordnung 2016-21 erklären. Der Kreditansatz der Luxemburger Regierung scheiterte. Die neuen Staaten waren nicht begeistert, sagten aber: Okay, er kommt uns entgegen. Er scheiterte an den Niederländern und den Österreichern, die immer erweiterungsfreudig waren, und an den Briten. Tony Blair verhinderte einen Kompromiss, den er dann selber in der Präsidentschaft danach im Dezember 2005 herbeiführte, mit einer Milliarde Kredit mehr für ganz Europa. Das heißt, die EU hat nicht immer zum Abbau von Spannungen beigetragen, die vorstellbar waren. Wir sind nicht gut im weitsichtigen Handeln, weil wir fundamentale Gegebenheiten oft außer Acht lassen.

Wie sollte die EU ihre Beziehungen zu China gestalten? Wird es eine Globalisierung nur noch innerhalb von Blöcken geben? Der kollektive Westen auf der einen Seite, China und seine Alliierten auf der anderen, und man muss sich entscheiden, wo man hingehören will?

Der chinesische Chefdiplomat hat auf der Münchner Sicherheitskonferenz vor Blockbildung gewarnt. China macht aber genau das.

Die USA auch.

Allerdings. Sie sind nicht die Engel der Weltgeschichte.

Was folgt daraus für die EU?

Dass wir unseren eigenen Weg suchen müssen. Deutlich machen, dass die USA unsere unverrückbaren Alliierten sind und es keine Äquidistanz mit China geben kann. Wir müssen uns klug durch die Weltgeschichte bewegen. Müssen in einer Gesprächsatmosphäre mit den Chinesen bleiben, die aber nicht so weit geht, dass alles, was in China nicht in Ordnung ist, die Menschenrechtslage etwa, oder was um Taiwan oder im Süchinesischen Meer passiert, unerwähnt bleibt. Die Marine-Aufrüstung, die da stattfindet, ist gewaltig, das muss man berücksichtigen. Wir müssen unsere Allianzen ergänzen und verfeinern. Mehr mit Japan, mehr mit Südkorea zusammenarbeiten. Mehr mit Indien, das demnächst das bevölkerungsreichste Land der Welt sein wird. Indien ist übrigens ein schwieriger Partner. Wir müssen unsere Allianzen neu formieren, um den großen Dinosauriern der Geschichte und der Geografie nicht allein gegenüberzustehen. Was aber ganz kompliziert ist.

Die Wirtschaftsbeziehungen Luxemburgs mit China sind verhältnismäßig eng. Ist das ein Risiko?

Von ihrem Gewicht her sind sie nicht ausgeprägter als die deutschen. Die Wirtschaftsbeziehungen mit China massiv auszubauen, war ein Teil meiner Außenwirtschaftspolitik, als ich Premier war. Man konnte China, den Tiger, der zum Sprung angesetzt hat, nicht ignorieren. Was übrigens keiner auf der Welt getan hat. Wir hatten als Regierung immer heftige Gespräche mit den Chinesen, Brüssel hatte die auch, über Menschenrechte und all die Fragen, die von China nicht zufriedenstellen gelöst wurden. Ich halte diese Politik nicht für falsch. Eine Abschottung gegenüber China hätte genauso wie eine Abschottung gegenüber Russland nicht den Notwendigkeiten der damaligen Zeit entsprochen. Wir haben Wirtschaftskrisen gemeistert. Die Luxemburger wissen nicht mehr, wie existenzbedrohend die Stahlkrise war. Existenzbedrohend! Sie erinnern sich nicht, wie der Finanzplatz 2008/2009 vor dem absoluten Aus stand. Da waren neue Allianzen nötig, mit China, Katar und anderen. Ich staune über die Vorwurfslandschaft, die heute in Luxemburg dazu aufgebaut wird.

Luxemburg unterzeichnete 2017 als einer der ersten EU-Staaten die „Belt and Road Initiative“. Als der heutige US-Botschafter in Luxemburg in der Ernennungsprozedur war, sagte er bei einer Anhörung im US-Senat, erhalte er den Posten, werde er besonders Acht geben auf Luxemburgs Engagement in „Belt and Road“.

Ich kann nur sagen, dass meine Kommission die 16 EU-Staaten, die sich da engagiert haben, gewarnt hat vor einer Verbrüderung von Teilen der europäischen und der chinesischen Wirtschaft. Ich habe das immer für eine gefährliche Politik gehalten. China erobert nach und nach Afrika, sichtbar. Was mir ganz viele Sorgen macht. China hat auch in der EU eine aus chinesischer Sicht nützliche Diversifizierung seiner Interessen betrieben. Die Luxemburger Regierung hätte das nicht mitmachen dürfen. Dass Griechenland gezwungen wurde, den Hafen von Piräus an die Chinesen zu verkaufen, statt an einen europäischen Interessenten, bleibt für mich ein eklatantes Beispiel nicht zu überbietender europäischer Naivität.

Luxemburg sei für China „the leading partner“ in der EU, hat der chinesische Botschafter beim Neujahrsempfang im Cercle gesagt.

Wir haben China immer im Glauben gehalten, dass Luxemburg eines der wertvollsten „Gates to Europe“ sei. Was es auch war! Ob das noch so ist, weiß ich nicht, weil ich die Handelsdiplomatie der Regierung ungenügend verfolgt habe.

Sollte Luxemburg versuchen, das zu bleiben?

Wir dürfen keine Nachbeter chinesischer Wirtschaftsinteressen in Europa werden. Luxemburg sollte, wie die EU, auf die eigenen Wirtschaftsinteressen und die eigene Würde pochen. Ich meine nicht, dass man die wirtschaftlichen Beziehungen mit China von heute auf morgen einstellen kann. Das wäre verheerend – und zwar nicht für China. Ich bin aber für eine offene Sprache. Das ist durchaus ein Problem, weil die Chinesen keine Fachleute für offene Sprache sind. Ich hatte mit den Chinesen die schwierigsten Beziehungen: Wenn man mit ihnen redet und meint, am Endpunkt der Resultatbildung angekommen zu sein, rutschen sie zur Seite und sagen: Darüber sprechen wir beim nächsten Mal.

Lassen Sie uns einen Moment ganz nationalpolitisch werden: Ist Luc Frieden der beste oder der einzig mögliche Spitzenkandidat für die CSV?

Der beste Kandidat ist immer der einzig mögliche. Ich war lange genug Spitzenkandidat, deshalb gefällt die Definition mir so gut.

Anscheinend haben Sie ihm im Regierungsrat mal gesagt: „Luc, du versteess eppes vu Finanzen, mee du verstees näischt vu Politik.“

Ich habe keine Erinnerung an eine solche nicht unspannende Anekdote. Ich habe davon mal bei RTL gehört und es auch mal gelesen. Ich frage mich, wie Journalisten darauf kommen. Von mir kommt es nicht, von Luc Frieden nicht und von einem anderen CSV-Minister ebenfalls nicht. Es käme also nur ein sozialistischer Minister in Frage, der ein Match mit Herrn Frieden auszutragen hatte. Ich mache mir diesen Satz nicht zu eigen.

Im Juni sagten Sie, es sei wichtig für die CSV, sich auf ihre alten Werte zurückzubesinnen. Auf die katholische Soziallehre …

… aber alte Werte, die mit der CSV in Verbindung gebracht werden, sind nicht immer die, die ich ihr notwendigerweise ans Herz gelegt habe. In meinen Jahren in Luxemburg habe ich mir viel Mühe gegeben, sie aus dem konservativ-reaktionären Dunstkreis herauszulösen, in dem sie sich befand. Gesellschaftspolitisch sollte man nicht vergessen, dass es CSV-Minister waren, die die Homoehe auf den Weg brachten. Das ist uns gelungen. Zur katholischen Soziallehre habe ich mich immer bekannt und bekenne mich nach wie vor zu ihr, weil sie der Partnerschaft von Kapital und Arbeit große Bedeutung beimisst und nicht einer Revolution. Auch andere Parteien, die in Luxemburg politisch tätig sind, haben ihre Gedanken an Revolutionen von Anfang des 20. Jahrhunderts längst abgeschrieben. Die LSAP ist eine marktwirtschaftlich-konformistische Partei geworden. Die katholische Soziallehre steht für Werte, die ich nach wie vor für wichtige Gestaltungselemente einer modernen Gesellschaft halte.

Ist aber nicht die Gefahr recht groß, dass das Wahlvolk Luc Frieden mehr mit der Vergangenheit in Verbindung bringt als mit Zukunftsgestaltung? Er verkörpert nicht gerade die Erneuerung der CSV.

Bei den anderen Parteien erkenne ich, ehrlich gesagt, auch keine Erneuerung. Sondern Leute, die schon lange in der Politik sind. Mit Ausnahme von Paulette Lenert, die ich im Staatsministerium eingestellt hatte. Genau wie Yuriko Backes zu meiner diplomatischen Beraterin wurde und ich sie zur Botschafterin der EU in Luxemburg ernannte. Ich kenne also mein Publikum und weiß, in wem Innovationskraft steckt und in wem das Beharrungsvermögen größer ist.

Hat Luc Frieden Innovationskraft?

Ich habe nie viel davon gehalten, andere Parteien mit Dreck zu bewerfen, und ebensowenig davon, über andere Politiker herzufallen. Ich kenne die Schwierigkeiten des Regierungsgeschäfts zu gut. Luc Frieden kennt sie ebenfalls gut. Er war in einem kruzialen Moment von wirtschaftspolitischen Schwierigkeiten auf dem richtigen Platz in der Regierung. Ich habe keinen Grund, mich größer zu machen, indem ich andere kleinmache. Das ist ein guter Satz, den muss ich mir merken ...

Peter Feist
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