Zum Glück für die LSAP kann ihr Sozialminister rechtzeitig vor den Wahlen eine Lösung für Langzeitkranke präsentieren

26 Wochen Nachschlag

d'Lëtzebuerger Land vom 27.04.2018

Was Françoise Muller1 erzählt, ist bedrückend. „Mit 55 wurde bei meinem Mann Krebs diagnostiziert, das war im Oktober 2010. Ab November erhielt er eine starke Chemotherapie, anschließend sollte der Tumor noch bestrahlt werden.“

Doch dazu kommt es nicht, denn Herr Muller erleidet eine Komplikation und obendrein eine Lungenentzündung. „Er lag zehn Tage auf der Intensivstation, wäre fast gestorben“, erinnert sich Françoise Muller. Im Januar 2011 beginnt eine zweite Chemotherapie, auf sie folgt dann die Bestrahlung. Abgeschlossen wird sie im Mai 2011. Herr Muller ist jetzt seit über sieben Monaten im Krankenschein.

Wer wie Herr Muller im Privatsektor beschäftigt ist, kann über eine „Referenzperiode“ von 104 Wochen höchstens 52 Wochen krankgeschrieben sein. Wird die Frist überschritten, stellt die CNS die Krankengeldzahlung ein. So steht es im Sozialversicherungsgesetzbuch. Zahlt die Kasse nicht mehr, endet der Arbeitsvertrag fristlos, so steht es im Arbeitsgesetzbuch. Damit es nicht so weit kommt, gelten ein paar Mechanismen, in erster Linie eine Kontrolle durch den Ärztlichen Kontrolldienst der Sozialversicherung. Der soll sich rechtzeitig ein Bild machen, ob der Betreffende weiterhin als krank einzustufen ist, ob eventuell in Richtung Invalidität zu denken wäre oder an eine Umsetzung an einen anderen Arbeitsplatz im Betrieb oder – vierte Möglichkeit – an eine externe Umsetzung auf einen anderen Job. Als der Kontrollarzt Herrn Muller sieht, sagt er: „Um Himmels willen, in Ihrem Zustand hätten Sie nicht kommen müssen. Werden Sie erst mal wieder gesund, wir sehen uns später nochmal!“ Später ist im September 2011, als erneut ein Brief des Contrôle médical eintrifft. Doch noch ehe das Ehepaar dort vorstellig werden kann, liegt ein Schreiben der CNS im Briefkasten: Die 52-Wochen-Frist ende demnächst.

Fälle, die ganz ähnlich gelagert sind, erwähnte am Montag LCGB-Präsident Patrick Dury mehrere. Da warf der Chef des christlichen Gewerkschaftsbundes dem Sozialminister vor, er handle auf „nicht hinnehmbare“ Weise, und behauptete zwei Mal, Romain Schneider (LSAP) seien „die Leute scheißegal“. Dabei hatte der Minister am Donnerstagnachmittag vergangener Woche nach einem Treffen mit dem OGBL verkündet, die 52-Wochen-Deadline um 26 Wochen verlängern zu wollen. Er werde dazu schnell das Gesetz ändern lassen, damit die neuen Regeln zum 1. Januar 2019 in Kraft treten können.

26 Wochen länger Krankengeld hätten Familie Muller vor sechs Jahren gutgetan. Dass die CNS nicht mehr zahlen wird, kann auch der zweite Besuch beim Kontrollarzt nicht verhindern. „Der Arzt entschuldigte sich, als ich ihm vorhielt, er hätte uns früher rufen sollen. Er sagte, der Kontrolldienst sei überlastet“, sagt Frau Muller. Der Arzt rät, schnell bei der Pensionskasse eine Invalidenrente zu beantragen. „Gottseidank trafen wir dort auf Leute mit Herz!“ Sonst, sagt Françoise Muller, „hätte ich nicht gewusst, was wir hätten tun sollen. Wir hatten gebaut, uns ein Auto auf Kredit gekauft. Unsere Tochter war damals 14 und ich arbeitete nur halbtags“.

Wie viele Sozialversicherte über die 52 Wochen zu rutschen drohen und wie viele tatsächlich darüber hinaus geraten, ist nicht genau bekannt; der LCGB beklagte am Montag das Fehlen „präziser Daten“. Der Sozialminister hatte Ende 2015 auf eine parlamentarische Anfrage geantwortet, 2010 und 2011 seien „schätzungsweise“ 40 langzeitkranke Personen in die Arbeitslosigkeit entlassen worden – bekamen demnach also nicht von „Leuten mit Herz“ schnell eine Invalidenrente.

„Diese Idioten, die solche Gesetze schreiben, sollten mal nur für eine Woche in den Zustand geraten, in dem wir damals waren“, wird Frau Muller lauter. Die ganze Familie habe nachts kaum ein Auge zugetan auf den Bescheid der CNS hin. Von seinem Krebs sollte Herr Muller sich nicht mehr erholen. Nach und nach bilden sich drei weitere, im November 2015 verstirbt Herr Muller. Doch damit ist die Geschichte der Familie noch nicht zu Ende erzählt. Zehn Monate später, im September 2016, wird bei der Tochter Leukämie diagnostiziert. Vier Chemotherapien erhält sie, gleichzeitig wird ein Knochenmarkspender gesucht, schließlich auch gefunden. Für Februar 2017 ist die Verpflanzung angesetzt, doch dann wird der Spender krank, der Eingriff auf März verschoben. Als er stattfindet, ist die Tochter seit sieben Monaten krank. Zum Kontrollarzt wird sie im August 2017 bestellt, nach 48 Krankheitswochen. Der Arzt empfiehlt eine Invalidenrente für die Zwanzigjährige, und gesund wird sie auch nicht, ehe die CNS das Krankengeld kappt.

Solche Beispiele zeigen: Bei schweren Krankheiten, die mit Komplikationen und Rückfällen einher gehen oder bei denen zur ersten Erkrankung noch eine zweite kommt, kann die 52-Wochen-Grenze, wenn sie naht, wie Willkür erscheinen. Auch wenn heute der Ärztliche Kontrolldienst Kranke meist schon um den 45. Krankheitstag zum ersten Mal sieht und sie kontinuierlicher betreut: Ein neues Gesetz verhalf der Behörde vor zwei Jahren zu einer neuen Arbeitsgrundlage und deutlich mehr Personal. Aber Onkologen sagen, es sei nicht ganz falsch, zu behaupten, der Fortschritt bei den Krebsbehandlungen könne dazu führen, dass die Patienten länger krank sind – noch vor drei Jahrzehnten starben viele früher. Was das für das Krankengeld-Limit heißen soll, ist eine kritische Frage. Stellen kann sie sich aber auch, wenn nach einem Unfall, dessen Folgen zu kurieren lange gedauert hat, der davon Betroffene wieder arbeiten geht, sich kurz darauf eine zweite Erkrankung zuzieht und über die 52 Wochen hinaus gerät.

Mit der Einführung des Einheitsstatuts im Privatsektor 2009 waren die Regeln verschärft worden. Zuvor galt das Limit pro Erkrankung – wurde eine zweite festgestellt, rückte der Zähler auf null. Die Gewerkschaften bedrängten deshalb schon die vorige Regierung, eine Regelung zu finden, die Härtefällen gerecht würde. 2012 stimmte LSAP-Sozialminister Mars Di Bartolomeo zu, eine „zeitweilige Invalidenrente“ zu vergeben, wie Françoise Mullers Tochter sie erhielt. Zuerkannt wird die invalidité temporaire aber selten: Jede Invalidenrente beendet den Arbeitsvertrag, was die wenigsten Krankgeschriebenen wollen.

Da könne es zu „erstaunlichen Lösungen“ kommen, sagt Christophe Knebeler, stellvertretender LCGB-Generalsekretär. Es könne sein, dass ein Betrieb einen lange krankgeschriebenen Mitarbeiter für ein paar Wochen auf dem Papier in Urlaub schickt. „Dann zahlt der Betrieb Gehalt, Krankengeld wird nicht mehr gebraucht. Nach dem Urlaub wird der Mitarbeiter wieder krankgeschrieben. Der CNS ist das egal.“ Dass ein Betrieb einen Mitarbeiter kurz vor der 52. Woche entlässt und nach einer Woche wieder einstellt, komme ebenfalls vor. „Es ist nicht so, dass jeder Patron lang Erkrankte los werden will.“

Doch das Problem ist komplex. Vor allem der LCGB besteht seit Jahren öffentlichkeitswirksam auf einer „kohärenten Lösung“ und meint damit, das Limit gehöre am besten abgeschafft. Andernfalls müsse zum Beispiel auch dem Umstand Rechnung getragen werden, dass der Kündigungsschutz im Krankheitsfall nur bis zur 26. Woche reicht – danach kann der Mitarbeiter entlassen werden. Doch weil dann Kündigungsfristen gelten und womöglich Abgangsentschädigungen zu zahlen sind, wird nicht oft gekündigt. Meist ist es für den Betrieb bequemer, zu warten, bis der Vertrag nach 52 Wochen fristlos endet; das Krankengeld zahlt ohnehin die Kasse. Unter anderem deshalb nannte der LCGB am Montag Romain Schneiders Ankündigung, die Frist auf 78 Wochen ausweiten zu wollen, „nur einen Schritt in die richtige Richtung“. Denn wie künftig 78 Wochen Krankengeld zur weiterhin möglichen Kündigung nach 26 Wochen passen sollen und ob der Kündigungsschutz nicht ausgeweitet werden müsse, habe der Sozialminister nicht gesagt. Weil Unklarheiten wie diese blieben – und weil der Minister den Entschluss nach einer Sitzung mit dem OGBL fasste, aber ohne den LCGB, nannte dessen Präsident die Ankündigung Wahlkampftaktik, ohne an die Leute zu denken, und warf Schneider vor, fast vier Jahre lang nichts getan zu haben.

Für seinen Entschluss hat er sich tatsächlich viel Zeit gelassen. Am 28. November 2014, als sich die Regierung in einer Bipartite die Zustimmung von OGBL, LCGB und CGFP zu den Steuererhöhungen und Ausgabenkürzungen im Zukunftspak aushandelte, hatte sie unter anderem eine Lösung der 52-Wochen-Frage versprochen. Im März 2015 schien sie im Ständigen Beschäftigungskomitee nahe: Arbeitsminister Nicolas Schmit (LSAP) und Romain Schneider schlugen vor, bis zu zwölf Monate lang eine zeitweilige Invalidenrente zu gewähren und den Arbeitsvertrag suspendieren statt enden zu lassen. Nicht nur OGBL und LCGB, auch der Unternehmerdachverband UEL war im Prinzip einverstanden. Doch das Beschäftigungskomitee versuchte einen Rundumschlag, sprach auch über Verbesserungen beim Elternurlaub und dem Urlaub aus familiären Gründen, die ebenfalls Bipartite-Versprechen an die Gewerkschaften waren. Die UEL verlangte, alle diese Verbesserungen in eine Paketlösung aufzunehmen, durch die auch eingehalten worden wäre, was die Regierung in einer Bipartite mit den Unternehmerverbänden zugesagt hatte, insbesondere eine Flexibilisierung der Arbeitszeitregeln. Doch das lehnten die Gewerkschaften ab.

Im Grunde zeigte sich daran, dass Zusagen aus zwei Bipartite-Runden politisch umzusetzen, etwas anderes ist als sich auf einen Tripartite-Beschluss stützen zu können. Eine politische Initiative zu den 52 Wochen wurde nach dem Streit im Beschäftigungskomitee nie mehr ergriffen. Stattdessen ließ der Sozialminister die Diskussion in den CNS-Vorstand verlegen, hoffend, dass Gewerkschaften und Unternehmer sich einig würden, wie die Kasse über ihre Statuten länger Krankengeld geben könnte. Bis zu drei Monate lang geht das schon heute, wird aber selten angewandt. Die Möglichkeit auszuweiten, machte die UEL davon abhängig, dass der Betrieb zustimmen müsse, ob ein Langzeitkranker beim Ärztlichen Kontrolldienst eine Krankengeldverlängerung beantragen kann. Langzeitkranke brächten vor allem Kleinbetrieben organisatorische Probleme. Die Gewerkschaften fanden es eine Zumutung, dass der Patron Arzt spielen würde. Organisieren würde jeder Betrieb sich schon, wenn es nur 52 Wochen Krankengeld gibt.

Als bis Ende 2015 eine Lösung auch auf CNS-Ebene nicht greifbar schien, verkaufte der Sozialminister eine Zeitlang die Teilzeitarbeit zu Therapiezwecken (mi-temps thérapeutique) als Ausweg. Doch während es vorstellbar ist, dass ein nach einem Unfall lange krank Geschriebener in Teilzeit allmählich zurückfindet in die Arbeit, ist das nicht bei jeder schweren Erkrankung selbstverständlich. Vor allem der LCGB nannte das eine „Scheinlösung“, bestand auf dem Bipartite-Versprechen und forderte in Briefen an den Sozial- und den Arbeitsminister sowie an den Premier die Abschaffung der 52-Wochen-Grenze.

Doch eine Lösung war nie in Sicht, bis die CNS sich auf Weisung des Ministers 2017 erneut mit dem Krankengeld befasste. Am 4. Dezember verkündete Romain Schneider, er sei sich mit OGBL und UEL „prinzipiell“ einig, dass die CNS in medizinisch begründeten Fällen bis zu 26 Wochen länger Krankengeld gewähren könne. Der Betrieb gebe dazu einen „Avis“ ab, der jedoch nicht bindend sei. Außerdem werde der mi-temps thérapeutique umgewandelt in eine reprise progressive du travail: Langzeitkranke bezögen weiterhin Krankengeld, seien aber zwischen einem und drei Viertel der Arbeitszeit im Betrieb, um nach und nach in die Arbeit zurückzufinden.

Das sah gut aus für den Minister, denn nur der LCGB lehnte auch das als „Scheinlösung“ ab. Zum einen, weil nicht klar sei, wie ein Mitarbeiter in einer reprise progressive in Teilzeit im Betrieb sein könne, gleichzeitig aber weiterhin krankgeschrieben und demnach nicht voll einsetzbar wäre: Würde sich darauf wirklich jeder Betrieb einlassen? Zum anderen kritisierte der LCGB, was Romain Schneider im Dezember nicht erwähnte: Die CNS war damals einer Lösung ganz und gar nicht nahe, denn es bestanden Zweifel, ob es rechtlich zulässig wäre, eine Krankengeldverlängerung über die Statuten der Kasse zu geben. Denn erwogen wurde das schon vor zehn Jahren mit dem Einheitsstatut. Der Staatsrat schrieb der damaligen Regierung aber, sollten die Statuten einer öffentlichen Einrichtung, wie die CNS eine ist, etwas ergänzen, was in einem Gesetz steht, sei das verfassungswidrig.

Vor allem aus diesem Grund rang Romain Schneider sich vergangene Woche durch, die Krankengeldfrist auf generell 78 Wochen zu verlängern und dazu das Krankenkassengesetz zu ändern – und damit nach dem Scheitern der zeitweiligen Invalidenrente bei suspendiertem Arbeitsvertrag im Beschäftigungskomitee vor drei Jahren doch selber tätig zu werden. Seine Juristen hatten ihm zuvor gesagt, es gehe nur so. Dem Vernehmen nach soll der Vorentwurf zur Gesetzesänderung heute im Regierungsrat besprochen werden. Dem Land sagt Romain Schneider, 78 Wochen seien „eine Riesenchance“ zur Genesung, zumal in Verbindung mit der reprise progressive, über die aber noch zu diskutieren bleibe. Eine Abschaffung des Limits, wie der LCGB verlangt, wäre für ihn, „als würden wir ein sozialpolitisches Steuerungsinstrument aus der Hand geben. Arbeitslosengeld gibt es ja auch nicht unbegrenzt lange“. Nach der medizinischen Expertise, die ihm vorliege, dürften 78 Wochen reichen, um auch schwere Erkrankungen mit Komplikationen auszukurieren.

Ein halbes Jahr vor den Wahlen sieht das Vorhaben natürlich nicht nur für den Minister gut aus, sondern auch für die LSAP, und sofern der Regierungsrat das nicht grundsätzlich anders sieht, könnten die 78 Wochen zumindest in einen Gesetzentwurf gelangen. Ob er noch vor den Sommerferien zur Abstimmung ins Parlament kommt, ist unsicher, aber neben der Zustimmung des OGBL – der ihm jedoch mit auf den Weg gegeben hat, die Verlängerung müsse evaluiert und ausgeweitet werden, falls sie nicht reicht – hat Romain Schneider auch das prinzipielle Ja der UEL. Wenngleich die, wie ihr Direktor Jean-Jacques Rommes andeutet, das aber offenbar abhängig gemacht hat von Zugeständnissen und mit dem Sozial und mit dem Arbeitsminister noch „über ein paar andere Fragen reden“ will. Den renitenten LCGB hat Schneider nicht gefragt, sondern vor der Verkündung seines Entschlusses die CNS-Vizepräsidenten von Gewerkschaften und Unternehmern konsultiert. Und den Vizepräsidenten der Gewerkschaftsseite stellt der OGBL. Im Verbund mit ihm machte die Bekanntgabe der 78-Wochen-Frist einen noch besseren Eindruck für die LSAP.

1 Name von der Redaktion geändert

Peter Feist
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