Am Sonntag fallen nicht nur Corona-Beschränkungen. Es beginnt auch ein Test auf Risikomanagement mit den Bürger/innen

Happy Covid-Exit

d'Lëtzebuerger Land vom 11.06.2021

Wer dieser Tage aus Luxemburg nach Deutschland reisen und länger als 24 Stunden bleiben will, muss eine digitale Einreiseanmeldung ausfüllen und nach Ankunft für zehn Tage in Quarantäne. „Geimpfte“, „Genesene“ und „Getestete“ können davon befreit werden. Noch immer gilt Luxemburg für die deutsche Regierung als „einfaches Risikogebiet“. Seit dem 25. September vergangenen Jahres ist das so.

Das könnte einerseits ein Vorgeschmack darauf sein, wie verschieden von einem EU-Land zum anderen die Corona-Regeln noch sein können, auch wenn am 1. Juli das unionseinheitliche Covid-Zertifikat mit QR-Code eingeführt sein wird. Zum anderen lässt „Risikogebiet“ das nächste Update des Luxemburger Covid-Gesetzes kühn aussehen. Ab Sonntag fällt die nächtliche Ausgangssperre weg. Privat dürfen zehn statt vier Gäste empfangen werden. Die Schließstunde um 22 Uhr in Restaurants und Cafés entfällt. Auf Terrassen werden zehn Personen zusammensitzen dürfen, die nicht zum selben Haushalt gehören, im Innern von Gaststätten vier.

Auch für Versammlungen, Kultur- und Sportveranstaltungen werden die Einschränkungen gelockert. Auf noch viel mehr Freiheiten können sich all jene freuen, die einen „Covid-Check“ herzeigen können – den QR-Code, der Impfung, Genesung oder Testung nachweist. Wer das nicht kann und es eilig hat, wird vielleicht nicht überall, aber an vielen Restaurants oder Kulturstätten Selbsttests angeboten bekommen.

Das sieht nach einem „Happy Covid-Exit“ aus, zumal der Sommer sich ankündigt. Kann Luxemburg sich das tatsächlich leisten? Der am Mittwoch dieser Woche erschienene Corona-Rückblick auf die vergangenen sieben Tage zeigte eine Inzidenz der neu registrierten Infektionen von 51 auf 100 000 Einwohner. Das ist noch immer genug, um zumindest aus deutscher Sicht weiterhin „Risikogebiet“ zu sein (die Schwelle dafür liegt bei 50 pro 100 000 Einwohner). Der letzte Bericht der Modellierer-Gruppe aus der Taskforce Research Luxembourg kommt zu dem Schluss, dass die „epidemische Entspannung, die in den vergangenen Wochen zu beobachten war“, sich verlangsamt und sich bei um die 50 Neuinfektionen pro Tag stabilisiert habe. Da könnten neue Virusvarianten und mehr soziales Leben die Fallzahlen wieder in die Höhe treiben, trotz aller Fortschritte beim Impfen, so der Bericht.

Aber die wöchentlichen Modellierer-Berichte haben immer einen warnenden, konservativen Ton; das liegt wahrscheinlich in der Natur ihrer Sache. Verglichen mit diesen Projektionen, konnte man die politischen Entscheidungen von Regierung und Kammer-Mehrheit seit Herbst 2020 immer wieder für verwegen halten. Zwischen Ende Oktober und Anfang Dezember, als wochenlang 700 bis 900 Neuinfektionen und bis zu acht Tote pro Tag hingenommen wurden, waren sie das höchstwahrscheinlich auch. Seit Januar aber hat die Regierung mit bemerkenswerter Treffsicherheit ein Epidemie-Management betrieben, das im Europa-Vergleich nahezu beispiellose Freiheiten zuließ, ohne gleichzeitig das Gesundheitssystem überzustrapazieren. Die einzige noch offene Frage ist, ob bei diesem Wellenreiter-Ansatz der Schutz von Alten- und Pflegeheiminsassen wirklich ernst genug genommen und ausreichend kontrolliert wurde.

Seit Anfang Mai zeigt die Corona-Statistik einen kontinuierlichen Trend nach unten. So dass nicht überrascht, dass es aus der politischen Klasse keine Bedenken gab, als Gesundheitsministerin Paulette Lenert (LSAP) am Montag den Gesetzentwurf im parlamentarischen Gesundheitsausschuss vorstellte. Ausschusspräsident Mars Di Bartolomeo (LSAP) unterstrich gegenüber dem Land, dass es „nicht nur für 3G-Personen“ (Geimpfte, Getestete und Genesene) Erleichterungen gibt. „Das ist ein deutlicher Schritt Richtung Normalität. Man wird nun wieder etwas genießen können, die neuen Regeln sind auch psychologisch gemeint.“ Grünen-Fraktionsvorsitzende Josée Lorsché sagte, das sei auch wissenschaftlich zu begründen. „Virologen haben uns gesagt, es ist okay.“ Auch aus der Opposition kamen am Montag keine grundsätzlichen Einwände.

Ein Virologe, der Professor Claude P. Muller vom Luxembourg Institute of Health, stellt gegenüber dem Land fest, es gelte immer mehr, dass der wichtigere Corona-Parameter nicht die Neuinfektionen sind, sondern die Hospitalisierungen und die Intensivbetten-Belegung. „Die Impfungen führen ganz deutlich zum Rückgang schwerer Fälle.“ Also könne man lockern.

Tatsächlich lag diese Woche die Zahl der Hospitalisierten bei um die 20, darunter zwei bis drei auf Intensivstationen. Das ist vergleichbar mit Ende Juni vergangenen Jahres, als Luxemburg aus dem dreimonatigen Lockdown kam. Offenbar sind die Altersgruppen, bei denen schwere Krankheitsverläufe häufiger sind – grob gesagt, die über 60-Jährigen –, zunehmend geschützt. Claude P. Muller fügt an, dass alles darauf hindeute, dass die gängigen Impfstoffe auch gegen mutierte Sars-CoV-2-Varianten schützen, wenngleich zum Teil weniger gut. „Wichtig ist, dass sie vor allem gegen schwere Krankheitsverläufe schützen.“ Ob das auch für die indische „Delta-Variante“ gilt, sei noch offen. Sie sei, wie die Dinge liegen, leichter übertragbar, „um 20 bis 40 Prozent“, so Muller. Ob sie auch gefährlicher ist, wisse man noch nicht. Erweise sie sich tatsächlich trotz Impfung als gefährlicher, „müssten wir umdenken. Dann wären wir im Grunde genommen in einer neuen Pandemie“.

Dieser Eventualität trägt der Gesetzentwurf durchaus Rechnung: Personal in Spitälern, Pflegebetrieben und Behinderteneinrichtungen soll verpflichtet werden, anzugeben, ob man geimpft ist. Falls nicht, würde zweimal pro Woche ein Schnelltest Pflicht, um überhaupt an den Arbeitsplatz zu dürfen. Dass die Diskussionen im Kammer-Ausschuss und Einwände der CSV sich vor allem darum drehen, wie diese Verpflichtung mit dem Arbeitsrecht zusammengebracht werden kann, zeigt, in welcher Eile sie geschaffen wird. Das überraschte auch den Staatsrat: Er tat Regierung und Kammer in seinem Gutachten zum Gesetzentwurf nicht den Gefallen, eine elegante juristische Regelung vorzuschlagen. Stattdessen stellte er lauter Fragen, über die sich auch die Abgeordneten die Köpfe zerbrechen.

Aber der Blick in die Impfstatistik zeigt: Auch wenn bis Mittwoch 406 570 Impfungen verabreicht wurden, wie Premier Xavier Bettel (DP) twitterte, und 163 500 Menschen komplett geimpft sind, liegt die Impfquote in den Altersgruppen ab 65 Jahren bei 80 bis 84 Prozent. Bis zu ein Fünftel dieser schon altersbedingt Vulnerablen sind demnach ungeschützt. Vor allem für sie werden nun die „cordons sanitaires“ verstärkt. Denn: Laut Corona-Rückblick des Gesundheitsministeriums von diesem Mittwoch hat die Delta-Va-
riante einen Anteil von 16,3 Prozent an den in Luxemburg im Genom sequenzierten Virusproben erreicht. In der Woche vorher waren es noch 7,5 Prozent.

Was am Sonntag in Kraft tritt, ist deshalb nicht nur etwas zum Genießen. Es ist auch ein Test auf Evolutionsbiologie und Seuchenentwicklung kurz bevor die Schulferien beginnen – das neue Gesetz soll bis zum 15. Juli gelten. Mit dem „Covid-Check“ setzt es einen Extra-Anreiz, sich impfen zu lassen. Nicht zuletzt aber ist es auch ein Test auf Risikomanagement gemeinsam mit den Bürger/innen. Wie er ausgeht, bleibt abzuwarten. Wenn sogar der Premier vor der Presse davon sprach, dass in manchen Restaurants für Gäste Schnelltests mit negativem Resultat bereitgehalten werden. Oder an QR-Codes „mit Adobe gewurschtelt wird“ ...

Peter Feist
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