In der Gemeinde Wintger wurde der Wolf vor Kurzem erneut nachgewiesen. Porträt eines Raubtiers, an dem sich die Geister seit jeher scheiden

Lupus in Fabula

Moonlight, Wolf  des amerikanischen Malers Frederic Remington, ca. 1909
d'Lëtzebuerger Land vom 24.02.2023

Close encounter Eigentlich ist es ein ganz normaler Sonntagmorgen. Als Sarah Albrecht mit ihrem Mann einkaufen gehen will, entscheiden sie spontan, davor einen Spaziergang mit den drei Hunden zu machen. Es ist Ende Januar, die Sonne scheint über die verschneiten Felder Trottens an der belgischen Grenze. Sie sollen die Entscheidung nicht bereuen. Nicht weit vom Wald entfernt, auf einer Kreuzung des Feldweges, die Hunde schnuppern gerade an einem Zaunpfahl, erblicken sie ihn: den Wolf. Er läuft etwa 150 Meter entfernt von ihnen über den Weg. Die Verhaltensregeln, die der Bevölkerung von Naturschutzorganisationen mitgeteilt worden sind, seitdem die Rückkehr des Raubtiers absehbar ist, hat Sarah Albrecht unbewusst inne. Sie spricht laut vor sich hin, um das Tier auf sich aufmerksam zu machen. Der Wolf blickt sie an, sie schaut zurück – dann läuft er in den Wald davon.

Die 38-jährige Sozialpädagogin verspürt keine Angst während der Begegnung. Im Gegenteil, sie sei eher fasziniert und ungläubig gewesen, erzählt sie dem Land. Später hätte sie sich nur noch darüber gefreut. Seit ein paar Jahren häufen sich hierzulande nachgewiesene Wolfssichtungen, 2017 gab es eine im Raum Holzem-Garnich, 2020 in der Gegend von Niederanven, eine dritte im Januar 2022 in der Nähe von Wintger und nun diese in der gleichen Gemeinde. Anhand des Haarbüschels, das es an einem Stacheldrahtzaun hinterließ, konnte das Tier identifiziert werden, es handelt sich um GW2488. Kein besonders eingängiger Name, aber vielleicht können die Einwohner der Grenzregion zwischen Luxemburg und Belgien sich einen neuen einfallen lassen, immerhin hält sich GW2488 seit mehreren Monaten dort auf. Da der Wolf vor mehr als einem Monat gesichtet wurde, und bis zu 70 Kilometer pro Tag zurücklegen kann, könnte er, wenn ihm danach wäre, mittlerweile schon längst problemlos in den rumänischen Karpaten umherspazieren. Vorausgesetzt, er bewege sich immer in die gleiche Richtung.

Imageproblem Es gibt wohl kaum ein Tier, das sich dermaßen als Projektionsfläche der Menschen in Europa etabliert hat. Der Wolf polarisiert, die einen haben Angst vor ihm, die anderen sind fasziniert. Durch den Beginn der Landwirtschaft und Nutztierhaltung veränderte sich die Beziehung zwischen Mensch und Wolf nachhaltig. Auch noch vor 150 Jahren war die Rhetorik um den Wolf eindeutig. Nachdem offiziell der Letzte in diesem Land am 24. April 1893 von einem Richter namens Edouard Wolff (!) erlegt wurde, schrieb das Luxemburger Wort am darauffolgenden Tag: „Die Jagdpächter des ‚Kiém‘, Sektionswald von Olingen, hatten heute eine Treibjagd auf Wildschweine veranstaltet. (…) Meister Isegrimm, der so lange Zeit dem mörderischen Blei der Nimrode entwischt, wagte sich zu weit heraus und wurde von der Kugel des Herrn Wolff, Richter in Luxemburg ereilt. Die Kugel drang hinter dem rechten Vorderschenkel ein und mußte der Wolf auf der Stelle bleiben. Ein kräftiges Bravo dem wackren Schützen. Die ganze Gegend ist erleichtert, hat doch das Ungethüm überall Schrecken und Furcht eingejagt. Es ist ein Prachtexemplar, und Furcht und Entsetzen flößt noch im Tode sein scharfes Gebiß ein.“ (d’Land, 19.04.2013) Neuesten Informationen nach soll es aber auch noch nach 1893 Wolfstötungen gegeben haben, eine womöglich noch 1920. Die Wortwahl, mit der die Presse damals über Wölfe berichtete, spricht jedenfalls Bände. Ein Mann war „so glücklich dem Wolfe die Kugel des ersten Schusses durch’s Herz zu jagen“ (Luxemburger Wort, 23. Januar 1872); die gleiche Zeitung warf dem Tier ein paar Jahre zuvor vor, den „Ruf seiner Grausamkeit“ zu bewahren. 1862 glaubte ein Journalist derselben Tageszeitung, gesellschaftliche Tendenzen am Tierverhalten zu erkennen: „Vor einigen Tagen nahm auf der Landstraße von Redingen, am hellen Tage, ein Wolf einem Müller den Hund vom Karren weg; einige Tage zuvor raubte in derselben Gegend ein Wolf einem Schäfer ein Schaf von der Herde. Man sagt, es sei unerhört, daß mitten im Sommer am hellen Tag Wölfe und wilde Schweine ungeniert auf offener Landstraße umherspazieren. Das ist der Zeitgeist.“

Das Narrativ hat sich geändert, doch die Geister scheiden sich weiter. Heute feiern Naturschützer das Comeback des Raubtieres als ein Puzzlestück, das dem Ökosystem viele Jahrzehnte gefehlt hat, als Erfolg für die Biodiversität. Weidetierhalter sehen sich auf der anderen Seite existenziell bedroht, immerhin macht der Wolf auch durch gerissene Nutztiere auf seine Präsenz aufmerksam. Europaweit steht er seit den 1970-er Jahren unter strengem Artenschutz. Dennoch haben sich die letzten Jahre Diskussionen um eine mögliche Lockerung dieses Schutzes entfacht. Die Neue Zürcher Zeitung postulierte kürzlich, es wäre „Zeit für eine gezielte Jagd auf den Wolf“ und plädierte nach Angriffen auf Kühen für einen „pragmatischen Umgang mit den Raubtier“, um die Alpwirtschaft nicht zu gefährden.

In Niedersachsen dürfen nunmehr nicht nur jene Wölfe, die trotz Herdenschutzmaßnahmen mehrfach Nutztiere gerissen haben sollen, geschossen werden, sondern auch Rudeltiere – so lange, bis die Übergriffe aufhören, und auch, wenn es den „Unschuldigen“ trifft. Dafür braucht es Ausnahmegenehmigungen. In Frankreich wird die Ausbreitung des Tieres aktiver eingedämmt – es ist das einzige europäische Land, in dem es eine Abschussquote von bis zu 21 Prozent gibt. In Luxemburg gibt es seit 2017 den sogenannten Managementplan Wolf, ein Konsensdokument, das von einer Reihe Akteuren, etwa der Naturverwaltung, den Weidetierhaltern, der Ackerbaugesellschaft, aber auch der Jägerföderation und Naturschutzorganisationen ausgearbeitet wurde. Er legt unter anderem fest, dass Schäden, die nachweislich durch Wolfrisse entstanden sind, zu 100 Prozent entschädigt werden. In ihm findet man ebenfalls Verhaltensregeln, etwa bei einer Wolfsbegegnung auf sich aufmerksam zu machen, sich zu vergrößern, damit das Tier einen als Mensch identifizieren kann. Meist läuft der Wolf dann nämlich davon. Komme er dennoch näher, solle man ihn als letztes Mittel mit Zweigen bewerfen.

Entfremdet Gut zu wissen. Denn dass der Wolf sich bei uns fest niederlässt, werde aller Wahrscheinlichkeit nach in zwei bis drei Jahren eintreten, sagt Laurent Schley, Ko-Direktor der Natur- und Forstverwaltung. Er appelliert daran, beim Wolf immer auf das Ganze zu schauen, und diagnostiziert Hypokrisie und Ungleichgewicht in der Diskussion um Artenschutz: Die indischen Behörden sollen ihre Tiger bitteschön schützen, jene in Afrika den Elefanten, und reiche Europäer sollen es nicht schaffen, die Wölfe zu schützen? Auch betont er, dass der Mensch nicht dem Beuteschema des Wolfes entspricht. Die seltenen Angriffe auf Menschen, die es gegeben hat, seien oft auf Tollwut zurückzuführen – eine Krankheit, die es seit zwanzig Jahren in West- und Mitteleuropa kaum noch gibt.

Dass die Angst vor dem Tier dennoch so groß ist, lässt sich anders erklären. Die Kulturlandschaft, in die der Wolf zurückkehrt, ist nicht mehr jene, aus der er ausgerottet wurde. Wir haben uns verändert. Insgesamt versteht sich der Mensch im Anthropozän weniger als Teil der Natur, sondern überwiegend als deren Verwalter. Dieses entfremdete Bewusstsein, kombiniert mit der langen Zeit ohne das Raubtier in unseren Breitengraden, führt dazu, dass wir es nun gar nicht mehr gewohnt sind, mit der Wildnis, die der Top-Prädator ausstrahlt, umzugehen. Der Wolf fordert unser Gefühl der Sicherheit heraus. Und unseren Platz in der Hierarchie. Sind wir imstande, ihn neben uns zu dulden? Die Konflikte mit dem nutztierhaltenden Menschen sind natürlich real. Aber der wahre Grund für die Angst liegt tiefer, im kollektiven Unterbewusstsein. Wer Isegrim anschaut, schaut mit Märchen und Fabeln im Hinterkopf, mit Rotkäppchen, den sieben Geißlein und den Werwölfen – und womöglich mit einer christlichen Prägung. Denn im Alten Testament wurde der Wolf konsequent als Bösewicht, als Verkörperung des Teufels dargestellt. Für die Kirche war es praktisch, das Triebgesteuerte, das Unkontrollierbare – nach Freud das Es – auf die Figur des Werwolfs, halb Wolf, halb Mensch, abzuschieben. Fürsorgliche Tendenzen, wie sie der Wölfin von Romulus und Remus zugesprochen wurden, sucht man in der Bibel vergeblich. Im Mittelalter wurden Wolfsmetaphern als moralische Warnung für Fehlverhalten genutzt. All das erklärt, warum er lange so erbarmungslos gejagt wurde. „Der böse Wolf ist ein Meme“, resümiert Laurent Schley.

In ihrem Buch Wölfe (Reihe Naturkunden, Matthes und Seitz, 2016) zeichnet die FAZ-Journalistin und Autorin Petra Ahne ein Porträt des Raubtiers. Sie schreibt: „Damit der Wolf zurückkommen konnte, brauchte es nicht viel: Man musste ihn nur lassen.“ Im Gegensatz zu Bären und Luchsen benötigt der Wolf die Wildnis gar nicht so stark – solange er Nahrung findet und Rückzugsmöglichkeiten hat, kommt er auch gut in Gebieten zurecht, die der Mensch ebenfalls nutzt. „Dadurch unterwandert er die Grenze, die der Mensch zwischen sich und der Natur gezeichnet hat“, sagt Petra Ahne im Gespräch mit dem Land. Den Wolf differenziert zu sehen, sei aufgrund seiner Ambivalenzen schwierig. „Er tötet, um zu überleben, das befremdet – gleichzeitig hat er ausgeprägte soziale Strukturen, die uns ähneln“. Ihn zu tolerieren, hieße auch, zu akzeptieren, dass wir vielleicht nicht immer ganz oben stehen. An ihm zeige sich mitunter gut, wie schwer ein generelles Umdenken in Bezug auf die Natur falle: „Ein Umdenken, das wir dringend brauchen.“

Sarah Pepin
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