Soziologie der Kandidaten

Volk und Vertreter

d'Lëtzebuerger Land du 26.02.2004

Auch wenn die Kandidatenlisten erst 60 Tage vor den Wahlen deponiert werden müssen, sind seit dem 15. dieses Monats die 300 Kandidaten der fünf Parteien CSV, DP, LSAP, Grüne und ADR bekannt, die derzeit mit Fraktionen im Parlament vertreten sind und in allen vier Bezirken kandidieren. Die eben-falls im Parlament vertretene déi Lénk hat bisher zwei ihrer vier Listen vorgestellt. Die Kommunistische Partei Luxemburgs wollte erste Listen bis Ende dieses Monats veröffentlichen, die Freie Partei Luxemburgs und eine Tierschutzpartei haben ebenfalls Listen angekündigt. Es gibt keinen zwingenden Grund, weshalb die Kandidaten demografisch repräsentativ für das Volk sein müssen, das sie vertreten wollen. Aber es trägt zu ihrer demokratischen Legitimation bei, wenn sie "die Sorgen des Volks zu teilen" imstande erscheinen. Das dürfte aber längst nicht immer gelingen. Denn im Gegensatz zum typischen Kandidaten dieser Listen ist der Durchschnittsluxemburger beispielsweise gar kein Mann, sondern eine Frau. Nach den Ergebnissen der letzten Volkszählung sind die Frauen hierzulande weiter leicht in der Mehrheit: 50,73 Prozent der Einwohner waren Frauen und 49,26 Prozent Männer. Doch die Frauen stellen auf den Listen der fünf größten Parteien keine 51 sondern nur 29 Prozent der Kandidaten dar, weniger als ein Drittel (siehe Seite 5 in dieser Nummer). Keine einzige Liste und keine einzige Partei erreicht die Parität. Am nächsten kommen dank statutarischer Quotierung die Grünen, aber auch bei ihnen sind nur 47 Prozent der Kandidaten Frauen, im Osten sogar nur 43 Prozent, genauso viel wie bei der CSV Osten. Knapp verpasst trotz Quotenregelung auch die Süd-Liste von déi Lénk die Parität, im Zentrum sind nur ein Drittel Frauen - wie bei der CSV. Die noch bis kurzem verstaubte Kirche-Küche-Kinder-Partei CSV ist ebenfalls dank statutarischer Quotierung heute die Partei mit dem zweithöchsten Frauenanteil, nämlich 33 Prozent. Auch wenn sie zum Leidwesen der Frauenministerin in deren eigenem Öslinger Wahlbezirk die Quotenregel außer Kraft setzte. Aber die CSV Osten rettet den Landesdurchschnitt. Die Partei mit dem dritthöchsten Frauenanteil ist das allgemein nicht für besonders aufgeklärt geltende ADR, das 29 Prozent Kandidatinnen aufstellt. Nicht dank kleiner Geschäftsfrauen, wie man vielleicht vermuten könnte, denn die meisten ADR-Kandidatinnen sind Angestellte. Aber vielleicht ist das alles mehr Zufall als Absicht. Denn wie anders wären die großen regionalen Unterschiede zu erklären: im Süden kandidieren nur 17 Prozent ADR-Frauen, und im Norden kandidiert nur eine. Die DP hält Geschlechterquoten für überflüssig und verweist stattdessen auf die Popularität ihrer ewigen Vorzeigefrauen Lydie Polfer, Anne Brasseur und Colette Flesch.  Aber dies kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie die Partei mit den zweitwenigsten Kandidatinnen ist: 23 Prozent. Doch was ist das schon im Vergleich zur Oberpeinlichkeit der LSAP, die nicht bloß mit dem halbherzigen Versuch gescheitert war, eine Quotenregelung in die Statuten zu übernehmen, sondern nun auch noch den goldenen Kaktus für die größte Machopartei gewonnen hat. Nur 22 Prozent der sozialistischen Kandidaten sind Frauen, weniger als bei den als rückständig gescholtenen CSV, DP und ADR. Im Osten und Norden reicht es gerade eben für die obligate Alibifrau. Oft ist der Frauenanteil auf den Nord- und Ostlisten der Parteien besonders niedrig. Das mag einerseits damit zusammenhängen, dass diese Bezirke allgemein konservativer sind als Süden und Zentrum, aber auch damit, dass es die beiden kleinsten Bezirke sind, so dass die Parteien meinen, auf Nummer sicher gehen zu müssen und die wenigen Listenplätze mit alteingesessener männlicher Lokalprominenz zu füllen, statt noch weniger bekannten Frauen eine Chance zu geben. Der Durchschnittskandidat ist auch zehn Jahre älter als der Durchschnittsluxemburger. Während der Altersdurchschnitt der Einwohner dieses Landes bei der letzten Volkszählung 38 Jahre betrug, sind die Kandidaten von CSV, DP, LSAP, Grünen und ADR 48 Jahre alt. Das Durchschnittsalter der wahlberechtigten Luxemburger beträgt 40 Jahre, aber die Abgeordneten sollen bekanntlich die Gesamtbevölkerung vertreten, die auch immer zur Berechnung der Abgeordnetenzahl herangezogen wurde. Die ältesten Kandidaten sind diejenigen der CSV mit durchschnittlich 50 Jahren, doch der Unterschied zu denjenigen von DP und ADR mit 49 Jahren ist unerheblich. Immerhin wurde vor allem auf Betreiben der CSV vor einem Jahr die Altersgrenze, bis zu der Wahlzwang herrscht, von 70 auf 75 Jahre erhöht, vielleicht in der Hoffnung, dass der Mensch mit dem Alter konservativer wird und wählt. Der Altersdurchschnitt der LSAP-Kandidaten ist etwas niedriger als bei den Regierungsparteien, aber 47 Jahre ist auch noch weniger jung und dynamisch, als die Partei erscheinen möchte. Nur die Grünen  liegen deutlich unter dem Altersdurchschnitt der anderen Parteien, doch mit 43 Jahren sind sie auch längst nicht mehr die Jugendpartei, die sie einmal sein wollten. Dies gilt auch für déi Lénk, die mit einem Altersdurchschnitt von 46 Jahren für ihre beiden bisher publizierten Listen nicht gerade eine nei Lénk ist. Ein wenig überraschen könnte, dass das Zentrum bei vier von fünf Parteien mit Ausnahme der Grünen der Bezirk mit dem höchsten Altersdurchschnitt der Kandidaten ist. Jüngste Kandidatin ist die Schülerin Nuria Garcia, die Tochter des langjährigen grünen Abgeordneten und nunmehr Kulturstadtkoordinators Robert Garcia. Mit 18 Jahren ist sie auch die erste und einzige, die von der vor einem Jahr erfolgten Senkung des passiven Wahlalters von 21 auf 18 Jahre profitiert. Mit 21 Jahren  kandidieren im Norden die 100,7-Mitarbeiterin Danièle Rasqué für die LSAP, der Kfz-Mechaniker Claude Schumacher für das ADR und die Studentin Mélanie Noesen im Süden für déi Lénk. Da die Lebenserwartung der Frauen höher ist als diejenige der Männer, muss es kein Zufall sein, dass die drei ältesten Kandidaten Frauen sind: die 80-jährige, langjährige kommunistische Kandidatin Yvonne-Marguerite Frisch, die nun bei déi Lénk kandidiert, die unverwüstliche LSAP-, SdP- und nun CSV-Politikerin und Europaabgeordnete Astrid Lulling mit 74 Jahren und die gleichaltrige Geschäftsfrau Fernande Jacoby aus Niederanven, die für das ADR kandidiert. Entscheidend für das Selbstverständnis und den Standpunkt eines Politikers ist seine soziale Herkunft. Sie lässt sich teilweise an der Berufsgruppe ablesen, der er oder sie angehört. Hier dominiert deutlich ein Sektor: 41 Prozent aller Kandidaten arbeiten im öffentlichen Dienst, sei es beim Staat, bei Gemeinden, der Eisenbahngesellschaft, der Post oder parastaatlichen Krankenhäusern. Unter der Wohnbevölkerung stellen die staatlichen, kommunalen und internationalen Beamten und Angstellten 19 Prozent dar, hinzu kommen noch die Beschäftigten staatlicher und parastaatlicher Unternehmen und Einrichtungen. Von den wahlberechtigten Luxemburgern ist jeder vierte öffentlicher Beamte oder Angestellte. 27 Prozent aller Kandidaten sind Angestellte, gegenüber 36 Prozent aller Erwerbstätigen. Die Privatbeamten sind also die Berufsgruppe, die am wirklichkeitsgetreusten auf den Kandidatenlisten repräsentiert ist. 22 Prozent aller Kandidaten sind Selbstständige gegenüber nur acht Prozent in der erwerbstätigen Wohnbevölkerung. Die Anwälte, Ärzte und Geschäftsleute sind also die am stärksten überrepräsentierte Berufsgruppe unter den Kandidaten. Der häufigste Einzelberuf ist auch derjenige des Anwalts mit neun Prozent. Der Anwaltsberuf ist der Königsweg in die Luxemburger Politik: drei Viertel aller Staatsminister der Luxemburger Geschichte einschließlich des aktuellen waren Anwälte. Immerhin sind noch vier Prozent der Kandidaten Bauern, mehr als die zwei in der erwerbstätigen Wohnbevölkerung. Aber unter den 300 Kandidaten der fünf größten Parteien befindet sich kein einziger Arbeiter. Dabei sind laut letzter Volkszählung 33 Prozent aller in Luxemburg wohnenden Erwerbstätigen und 22 Prozent der Luxemburger Arbeiter. Aber keine andere Berufsgruppe wurde seit den Achtzigerjahren derart radikal aus dem öffentlichen Bewusstsein gelöscht wie die diejenige der Arbeiter, immerhin die zweitgrößte im Land. Da zudem viele Arbeiter als Immigranten kein Wahlrecht haben, scheinen für die Parteien Arbeiterkandidaten wenig attraktiv. Doch auch für die Arbeiter scheint ein Engagement in den Parteien wenig ergiebig. Als letzter Nachhall kandidieren einige Gewerkschaftsfunktionäre, die vor Jahrzehnten einmal Arbeiter waren. So wie Parteien trotz aller ideologischer Annäherung und allen Panaschierens unterschiedliche Wählerbasen haben, so unterscheiden sich ihre Kandidaten am stärksten durch ihre Berufe. Die CSV nennt sich zwar Volkspartei, aber sie hat, nicht gerade repräsentativ, den höchsten Anteil an selbstständigen Kandidaten - ein Drittel - zu dem noch ein Drittel Beschäftigte des öffentlichen Dienstes kommen. Da ist die DP schon volkstümlicher, denn sie hat weniger Selbstständige als die CSV und dafür deutlich mehr Angestellte - 27 Prozent. Und trotz der großen Sympathie für die Beamtengewerksachft CGFP kandidieren bei der DP mit 38 Prozent weniger öffentlich Beschäftigte als beispielsweise bei der LSAP. Denn die LSAP nennt sich zwar noch immer Arbeiterpartei, aber 57 Prozent ihrer Kandidaten arbeiten im öffentlichen Dienst, Arbeiter stellt sie so wenig auf wie all die anderen Parteien. Dagegen hat sie mit 15 Prozent die wenigsten selbstständigen Kandidaten mit Ausnahme der Grünen. Die Grünen sind die Partei mit den meisten Kandidaten aus dem öffentlichen Dienst - zwei Drittel arbeiten im weiteren Sinn in diesem Bereich. Setzt man dies mit einem angemessenen Einkommen und einer gewissen Arbeitsplatzgarantie gleich, kann man verstehen, weshalb die Anliegen dieser Partei als "postmateriell" eingestuft werden. Das beamtenfeindliche ADR kommt immerhin noch auf sieben Prozent Kandidaten aus dem öffentlichen Dienst, etwa dank der angehenden Gymnasiallehrerin Tania Gibéryen, Tochter des Fraktionsvorsitzenden. Aber es ist vor allem die Partei mit dem höchsten Anteil an Angestellten (48 Prozent) und dem zweit-höchsten an Selbstständigen (28 Prozent). Selbst wenn die Parteien repräsentative Listen aufstellen wollten, ist es nicht sicher, ob es ihne gelänge. Denn in vielen gesellschaftlichen Schichten und Berufs- und Altersgruppen gibt es nur wenige Interessenten für politische Mandate. In den letzten  Jahren suchten alle Parteien verzweifelt nach attraktiven, frischen, unverbrauchten, prominenten Kandidaten aus der viel gepriesenen Zivilgesellschaft. Doch die nun vorliegenden Listen konnten kaum überraschen. Die gewünschten Kandidaten vorausgesetzt, sollen die Listen der einzelnen Parteien aber nicht nur Berufe, Altersgruppen und Geschlechter der Gesamtbevölkerung widerspiegeln. Sie sollen auch noch nach Kantonen, Stadt- und Landgemeinden gewichtet sein, den austretenden Mandatären eine Chance zur Wiederwahl geben - ein Viertel aller Kandidaten sind Abgeordnete und Regierungsmitglieder -, Lokalprominenz und  Notabeln zum Stimmenfang aufstellen - 15 Prozent sind Bürgermeister -, Nachwuchspolitiker heranziehen, Streit in der Partei schlichten und vielleicht sogar Fachkompetenz mitbringen. Insbesondere in kleinen Bezirken, wie dem Osten, wo gerade sieben Kandidaten auf einer Liste Platz haben, ist das arithmetisch unmöglich.

Romain Hilgert
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