EU-Agentur für Lebensmittelsicherheit

Ein zahnloser Tiger

d'Lëtzebuerger Land vom 17.02.2000

Dioxin im belgischen Hähnchenfleisch, mit Klärschlamm verseuchte Lebensmittel in Frankreich, Bayern und Holland, vergiftetes Olivenöl in Spanien. Was kann man heute noch mit gutem Gewissen essen, fragen sich viele Verbraucher. Und warum kommt es ausgerechnet in Europa immer wieder zu Lebensmittelskandalen? Schließlich gibt es in keiner anderen Region der Welt mehr Gesetze und Behörden, die sich um die Sicherheit von Lebensmitteln kümmern. Einmal sind da die 15 nationalen Aufsichtsbehörden. Dann wurde 1997 das Europäische Lebensmittel- und Veterinäramt in Dublin eingerichtet. Und nun soll noch eine unabhängige Agentur für Lebensmittelsicherheit gegründet werden. 

"Ein zahnloser Tiger ist das", kritisieren die Brüsseler Konsumentenschützer. Die neue Einrichtung werde nämlich weder gesetzgebende Vollmachten haben, noch selbständige Entscheidungen treffen können, noch das Personal für Kontrollen haben. Das Europäische Parlament hatte sich gegen so weitreichende Vollmachten gewehrt, sagt die Sprecherin für Verbraucherschutz der Sozialistischen Fraktion, Dagmar Roth-Behrendt, "weil hinter der ursprünglichen Initiative von EU-Kommissionspräsident Romano Prodi die Industrie steckte". 

Das sei allerdings schon so gewesen, als der Grundstein für die EU-Agrar- und Ernährungspolitik gelegt wurde, weiß der Vorsitzende des Agrarausschusses im Europäischen Parlament. Friedrich Wilhelm zu Bahringdorf macht die Agrarpolitik, wie sie der in den Fünfziger- und Sechzigerjahren für die Landwirtschaft zuständige EU-Kommissar aus Holland, Sicco Mansholt, entwarf, für die Lebensmittelskandale verantwortlich: "Die Zielsetzung war, die Preise für landwirtschaftliche Erzeugnisse real zu senken, damit sie einen Beitrag zur Stabilität des Geldes leisten. Auf diese Weise wurde immer weniger für Ernährung ausgegeben und es blieb immer mehr für Produkte industrieller Art übrig." 

Mansholt wollte eine gegenüber den USA konkurrenzfähige Industriegesellschaft aufbauen, in der der Landwirtschaft die Aufgabe zufiel, Rohstoffe zu liefern und Arbeitskräfte bereit zu stellen. Im Zuge dieser Politik wurde die Landwirtschaft immer mehr zum Zulieferer der Industrie, d.h. die Bauern erzeugten immer weniger Lebensmittel und immer mehr Agrarrohstoffe, aus denen dann die Ernährungsindustrie billige Lebensmittel für die Verbraucher produzierte. Das gilt noch heute: Während sich die Weltmarktpreise für industrielle Produkte 1999 leicht erhöhten, gaben die Preise für Nahrungsmittel gegen-über dem Vorjahr um 17 Prozent nach. 

Dieser relative Wohlstand der Gesellschaft werde aber auf Kosten der Gesundheit von Menschen, Tieren und Pflanzen erwirtschaftet, kritisiert Friedrich Wilhelm zu Bahringdorf. Rinderwahnsinn, Dioxin im Hühnerfleisch, Schweinepest, Trinkwasserverseuchung - diese Skandale seien alle auf die gleiche Ursache zurückzuführen: "Eine Kuh gibt nicht mehr 3 000 Liter Milch sondern über die Entwicklung fünf, acht, zehn, ja 15 000 Liter Milch im Jahr. Dabei werden die Leistungsreserven derart ausgeschöpft, daß die lebendigen Organismen, um die es sich ja handelt, ohne Stützmittel nicht mehr auskommen." Stützmittel sind Hormone, Chemikalien, aber auch Fleischmehl oder dioxinbelastete Fette, mit denen billig Energiefutter für Hochleistungstiere erzeugt wird. 

Durch die Skandale ist jetzt erstmals neben der Lebensmittel- auch die Futtermittelindustrie ins Blickfeld geraten, die das Futter herstellt, das der Bauer seinen Tieren zufüttert. Industrielles Fertigfutter macht bei Kühen und Rindern rund 15 Prozent, bei Schweinen schon gut die Hälfte und bei Hühnern bis zu 100 Prozent dessen aus, was die Tiere zu sich nehmen. Bei der Herstellung verwendet die Futtermittelindustrie vor allem Getreide wie Mais, Weizen und Roggen und Zusatzstoffe wie Vitamine, aber auch Tier- und Fischmehl sowie Abfälle der Lebensmittelindustrie wie Weizenkleie und Fette. Diese kritischen Rohstoffgruppen machen aber nur einen geringen Anteil aus. Denn insgesamt gibt es etwa 1 500 verschiedene Stoffe, die von der Futtermittelindustrie verarbeitet werden. 

Durch die hohe Zahl der Rohstoffe und deren Lieferanten erhöhe sich aber das Risiko für Unfälle, so der Vertreter des Verbands der Europäischen Futtermittelhersteller, Alexander Döhring. Für die Futtermittelhersteller liegt das Problem also bei den Zulieferern, die zu wenig kontrolliert würden. Zulieferer sind zum einen die Bauern, die Weizen oder Roggen liefern. Das sind aber auch Importeure, die Rohstoffe aus den USA oder Lateinamerika einführen. Und das sind die Lebensmittelfirmen, die Produktionsabfälle wie Fette, Öle oder Kleie an die Futtermittelindustrie verkaufen. Gerade die Branche der Fettsammler und Schmelzer, die Speisefette aus Bäckereien, Fast-Food-Betrieben, Gaststätten, Kantinen, Keksfabriken und Imbißbuden sammeln und wiederverwerten, ist in den letzten Jahren sehr gewachsen. 

Die Fettsammel- und Verarbeitungsbetriebe entstanden in den Siebzigerjahren in Holland und Belgien. Dort stehen auch die größten europäischen Fettschmelzen, die die gebrauchten Öle und Fette aufbereiten und an die Futtermittelindustrie weiterverkaufen. Sie unterliegen bislang keiner europäischen Zulassungspflicht. Das Öl dient als nährstoffhaltiges Bindemittel für die sonst trockenen Futterpellets, die Schweine, Hühner und Fische vorgesetzt bekommen. 

Beigemischt wird oft auch Tiermehl, das von zahlreichen Tierkörperbeseitigungsanlagen hergestellt wird. Dazu werden tote Haus- und Nutztiere vermahlen. Das Tiermehl ist eiweißreich und wachstumsfördernd. Seit dem BSE-Skandal darf es nicht mehr an Rinder und Kälber, wohl aber an Schweine und Hühner verfüttert werden. Der an Krebsgeschwüren verendete, mit Medikamenten vollgepumpte Hund landet ebenso im Tierfutter wie mit Antibiotika behandelte Pferde, Rinder und Schweine, die nicht für den menschlichen Verzehr verwendet werden dürfen. Dazu sämtliche von der Schweinepest befallenen Tiere. Mögliche gefährliche Erreger sollen durch Erhitzen des Mehls abgetötet werden. 

Für diese gefährliche Mixtur verantwortlich seien die EU-Mitgliedstaaten, sagt Dagmar Roth-Behrendt, wie deren lascher Umgang mit der für die Verbraucher wichtigen Kennzeichnung von Lebensmitteln zeige. Im Frühjahr 1997, auf dem Höhepunkt der BSE-Krise, hatten die EU-Landwirtschaftsminister ei-ne obligatorische Etikettierung von Rindfleisch ab dem 1.1.2000 beschlossen. Den Verbrauchern müsse ersichtlich sein, so die Vorgabe der Minister, woher die Tiere kommen, wo sie gemästet und wo geschlachtet wurden. Inzwischen haben es die Minister nicht mehr so eilig: Die Kennzeichnungspflicht sollte nicht vor 2002 eingeführt werden. Auf Drängen des Europäischen Parlaments gilt jetzt der 1. September 2000 als Stichtag.

Auf Drängen der Abgeordneten werden nun auch die Zuständigkeitsstrukturen in der EU-Kommission geändert. Einschließlich der Binnenmarktabteilung waren bislang nicht weniger als fünf Generaldirektionen für die Lebensmittelgesetzgebung verantwortlich. Demnächst sollen nur noch der für Verbraucherschutz zuständige Kom-mis-sar David Byrne und der Agrarkommissar Franz Fischler zuständig sein. Doch eine bessere Organisation und vermehrte Kontrollen alleine werden nicht helfen. Vielmehr muss die Ausrichtung der EU-Agrar- und Lebensmittelpolitik insgesamt in Frage gestellt werden. Denn ob Verbraucher, Politiker, Handel oder Industrie - noch immer konzentriert sich das Interesse auf möglichst billige Lebensmittel.

 

 

Michael Fischer
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