Weltmeisterin

d'Lëtzebuerger Land vom 29.11.2019

Zum Interview erscheint Elvira Berend-Sakhatova unauffällig in schwarzen Turnschuhen, Jeans und mit regenfester Jacke. Draußen ist es grau, aber sie strahlt übers ganze Gesicht. Soeben ist die Wahlluxemburgerin zum dritten Mal Schach-Seniorenweltmeisterin der Frauen geworden. Im rumänischen Bukarest bezwang sie ihre Kontrahentinnen mit 8,5 Punkten von elf, die Zweitplazierte erreichte 7,5 Punkte.

„Das freut mich riesig, denn ich war gar nicht so gut gestartet“, verrät die 54-Jährige, die in der Kategorie der (über) 50-Jährigen gestartet war. Im Verlauf des Turniers konnte sie dank starker Nerven aufholen. „Meine Hauptgegnerin hat dem Druck nicht standgehalten“, analysiert sie nüchtern. Die Psychologie und die Komplexität des Spiels faszinieren sie bis heute. Anders als Nicht-Schachspieler vielleicht meinen, sei Schach überhaupt nicht langweilig, sondern „sehr spannend“ und „keine Partie wie die andere“. „Es gibt unendlich viele Möglichkeiten. Das lernt man mit zunehmender Spielpraxis“, sagt sie begeistert.

Ihr Akzent verrät, dass die Weltmeisterin ursprünglich aus dem Osten stammt. Es war ihr Vater in Kasachstan, der sie und ihre ältere Schwester ans Brettspiel heranführte. „Schach ist dort ein Volkssport. Wir haben so oft wie möglich im Sportpalast Schach gespielt“, erinnert sie sich. Aber auch in dem Land, wo praktisch in jedem Café ein Schachbrett steht, sind Spielerinnen vergleichsweise selten.

Eine Frau auf zehn Männer treffe sie auf gemischten Turnieren, schätzt Berend. Als junges Mädchen rief sie eines Tages ein Mann an, in der Region bekannt als Schach-Kenner. Er befragte sie zu Zügen und Schachbrettpositionen, weil er sich partout nicht vorstellen konnte, dass ein Mädchen davon etwas versteht. „Heute sind Frauen anerkannter“, sagt sie grinsend. Dafür dass der Sport gleichwohl von Männern dominiert wird, hat Berend eine einfache Erklärung: „Im jungen Alter können Frauen mithalten. Aber sobald sie Familie haben, fällt es ihnen schwerer, sich die Zeit zu nehmen, zu trainieren und sich zu konzentrieren“. An mangelnder Spieltechnik oder Intelligenz liege es nicht: „Männer spielen meist konzentrierter, sie bereiten sich besser vor. Aber im Wettkampf verlieren sie auch gegen Frauen, die oftmals origineller spielen.“

Zwei bis sechs Stunden trainierte Berend zu Hochzeiten, um sich auf internationale Turniere vorzubereiten. Frauen-Großmeisterin wurde sie 1995. Dreimal gewann sie die luxemburgische Einzelmeisterschaft. Um auf professionellem Niveau zu spielen, braucht es Turniererfahrung und am besten einen Trainer. Die meisten männlichen Profis haben ein, Berend dagegen konnte sich selbst als aussichtsreiches Talent keinen leisten und musste Partien mit Hilfe von Büchern und Schach-Fachjournalen selbst analysieren. „Ich habe Hunderte davon“, sagt sie. Es gelang ihr, bis auf den 20. Platz in der Weltrangliste der Frauen vorzurücken – das war, als sie fast ihre gesamte Zeit, und viel Geld, in den Denksport investierte. Die Preisgelder sind, wenn man nicht ganz oben mitspielt, eher bescheiden und liegen im vierstelligen Bereich. Heute spielt sie weniger fürs Ranking, sondern „aus reiner Lust am Spiel“.

Zum Glück ist ihr Mann Fred Berend ebenfalls schachbegeistert und begleitet sie zu den meisten Wettkämpfen; in Bukarest war er dabei. Beim Luxemburger Traditions-Schachclub Düdelingen trainieren beide den Nachwuchs. „Wir diskutieren am Esstisch oft über Spielzüge und Varianten. Unsere Kinder verdrehen dann die Augen“, sagt sie. Von ihren Kindern spielt keines auf hohem Niveau Schach, die viele Zeit wollten sie nicht investieren.

Berends Vorbild ist Michail Botvinnik, ein russischer Kommunist und Jude, der erst mit zwölf Jahren zum Spiel fand, aber dann von Erfolg zu Erfolg eilte. 1925 bezwang er in einer Aufsehen erregenden Simultanpartie den damaligen kubanischen Schach-Weltmeister José Raúl Capablanca. Seinen ersten Weltmeistertitel gewann Botvinnik im Jahr 1948; er verteidigte den Titel nach Niederlagen dreimal, etwas, das keinem Meister vor ihm je gelungen war. Das Genie baute trotz der Wirren der Zeit die russische Schachschule auf und aus: Die späteren Weltmeister Anatoly Karpov, Garry Kasparov und Vladimir Kramnik haben alle bei ihm gelernt. „Botvinnik hat in seinen Spielen versucht, sich rasch eine vorteilhafte Situation zu sichern“, beschreibt Berend den Spielstil des Russen. Ihren eigenen bezeichnet sie als eher abwartend.

Aber auch die schnellere Variante, Schnellschach, bei der den SpielerInnen eine Bedenkzeit von mehr als zehn, aber weniger als 60 Minuten für alle Züge zur Verfügung steht, gefällt ihr: „Hauptsache, ich kann spielen.“ An diesem Wochenende tritt Berend für Luxemburg bei der Europäischen Meisterschaft der Frauen im Rapid- und Blitzschach in Monaco an. Die Daumen sind gedrückt. Schach. Matt.

Ines Kurschat
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