Nataša Grujovićs Leben ist von Brüchen geprägt. Die einen sind geografischer Natur, die anderen sind Brüche in ihrem Innenleben. Einige der ersten haben manche der zweiten nach sich gezogen. Das Land, in dem sie aufwuchs, gibt es seit mehreren Jahrzehnten nicht mehr. Luxemburg ist das siebte Land, in dem sie wohnt. Sie wurde Ende der Siebzigerjahre als zweites Kind in eine serbische Familie in Zagreb geboren; ihre Kindheit beschreibt sie als „traumhaft, absolut frei“. Auf dem Dorf mit Tieren, mit Oma um die Ecke, wurde Obst gepflückt und gespielt – auch Musik. Mit acht Jahren, sie sollte in die Musikschule, schlug der Lehrer Klavier vor. Zuhause gab es ein Akkordeon, sagte ihr Vater, er würde kein Klavier kaufen. Außerdem hatte sich die Großmutter gewünscht, ein Enkelkind solle die Handharmonika lernen. Die Eltern wussten: Wenn ihre Tochter spielt, lassen wir sie in Ruhe. Ein Wellensittich habe neben ihr gesessen. Es klingt wie eine Szene aus einem Film. „Das Akkordeon hat mich gerettet“, sagt sie heute.
Die Hitze schwelt an diesem Montagnachmittag. Dick hängt sie in den Wolken, die sich für die historische Regenflut, die in der Nacht fallen wird, bereithalten. Nataša Grujović sitzt in ihrer Wohnung in Merl und erzählt ihre Lebensgeschichte. Hier kann der Blick vom Balkon über die Baumwipfel der Oberstadt schweifen, der Turm des Spuerkeess-Gebäudes ragt in den Himmel. Es ist eine bescheidene Einzimmerwohnung: Am Fenster steht ein Sofa, das als Bett fungiert, an der Wand ein Bücherregal mit ein paar Artefakten; ihre Instrumente stehen auf dem Boden, nebenan eine kleine Küche, ein Bad. Eine Ecke ist völlig frei: weiße Wände, ein dicker roter Teppich – es ist die „Körperübungsecke“, erklärt sie. Mehrere Wochen war sie nicht hier, da sie Housesitting für Freunde machte, vor Kurzem war sie in Kroatien im Urlaub. In dem Land, aus dem sie kommt, aus dem sie 1991 mit 13 Jahren mit ihrer Mutter im letzten Zug nach Belgrad flüchtete. Das Land, das damals Jugoslawien hieß.
Sie zieht ihre roten Strümpfe aus, gießt sich Kaffee ein, rollt sich eine Zigarette und setzt sich an den kleinen Tisch. Nataša Grujović ist eine wachsame Frau, sie ist konzentriert und unabgelenkt während des Gesprächs. Sie gestikuliert mit ihren Händen, spricht offen über das, was ihr in ihrem Leben widerfahren ist. Anderthalb Jahre lang habe sie keinen Pass gehabt in Serbien, das Land sei in einem desolaten Zustand gewesen. Als die Nato Serbien 1999 drei Monate lang bombardierte, war sie dort. „Das vergisst du nie.“ Gerne gesehen wurde die Familie als Flüchtlinge nicht. Es gab wenig Geld. Ihr Vater arbeitete als Ingenieur, ihre Mutter war Sekretärin. 1997 beschloss sie, nach Deutschland zu gehen, um Akkordeon zu studieren. An der Hochschule für Musik in Trossingen, unweit von Freiburg im Breisgau, wurde sie von Hugo Noth unterrichtet, den sie als „weltbesten Akkordeonisten“ beschreibt. Noth sei von ihr begeistert gewesen. Sie spielte Orgelkonzerte von Bach während des Studiums, experimentierte, verbesserte sich. Anschließend schloss sie ein Diplom in Kammermusik ab.
Das Akkordeon ist ein recht junges Instrument mit Wurzeln, die im Westen in die Jahrhundertwende zum 19. Jahrhundert reichen. Cyrill Demian wird als ihr Erfinder genannt, da er 1829 in Wien ein Instrument, das unterschiedliche Töne auf Zug und Druck produzierte, als „Accordion“ patentieren ließ. Trossingen, die deutsche Stadt, in der Nataša Grujović studierte, wurde im Laufe des frühen 20. Jahrhunderts zu einer Produktionsstätte für Handharmonikas und beherbergt heute einen der größten Hersteller, Hohner – dessen Instrument sie spielt. Sie war also am richtigen Ort, um ihre Liebe für dieses spezielle Instrument, das vielen lediglich als atmosphärisches Straßeninstrument bekannt ist, zu vertiefen. Im Laufe des 20. Jahrhundert professionalisierte sich das Akkordeonspiel zunehmend und wurde ein wesentlicher Bestandteil der Kammermusik und der zeitgenössischen Musik.
Private Umstände verschlugen sie 2009 schließlich nach Luxemburg. Sie begann, Kollaborationen mit anderen Musikern aufzubauen, mit Komponisten wie Camille Kerger und Elisabeth Naske. Sie spielte mit Sascha Ley, mit Catherine Lorent für die Eröffnung des Luxemburger Pavillons auf der Biennale in Venedig. Sie habe sich schon willkommen gefühlt in der Musikwelt, sagt sie. Doch auch wenn das Land sich gerne offen zeigt, ist insbesondere die Kulturszene kein einfaches Pflaster. Künstler/innen müssen nach der Status-Quo-Pfeife tanzen, um sich zu integrieren. Existenzielle Nöte taten sich auf. Arbeiten wurden unterbezahlt, es gab Ressentiments, auch ausländerfeindlicher Natur. Sie wurde krank, hatte starke chronische Schmerzen, die erst seit zwei Jahren geheilt sind. Öfter spielte sie mit diesen Schmerzen. Sie rechnet es ihren Freunden und ihrem Publikum an, dass sie stets weiter kämpfte. Sie habe auch viel Glück gehabt im Leben.
Das Künstlerstatut hilft ihr heute zu überleben. Sie beißt sich durch, aber ins Restaurant geht sie nicht. Mit ihren Freunden, die nicht in finanzieller Prekarität leben, kann sie das Thema ansprechen. In der Kulturszene, in der ein nicht unwichtiger Teil der Künstler/innen mit sozialem Kapital ausgestattet ist, ist sie eine Randerscheinung – genau wie im geldgetriebenen Luxemburg. Aus ihr klingen künstlerische Kompromisslosigkeit und Leidenschaft. Sich zu verkaufen, um populäre Musik zu machen, kommt ihr nicht in den Sinn. „Dann würde ich“ – sie nimmt einen imaginären Dolch in die Hand und sticht sich in den Brustkorb –, „das tun mit all dem, was ich gelernt habe“. Es käme einem Verrat gleich.
In einer Ecke ihres Zimmers hängt ein Stück Baumrinde mit einem Foto von Steve Kaspar und getrockneten Blumen. Als sie das Urgestein der hiesigen zeitgenössischen Musik 2012 kennenlernte, konnte sie „endlich das, was ich in der Akademie gelernt hatte, umsetzen“. Kaspar wurde ihr guter Freund und ihr enger musikalischer Vertrauter. Mit ihm arbeitete sie an Projekten, die langen Atem voraussetzten. Die Zusammenarbeit sei einzigartig gewesen. Wegbegleiter erklären, die musikalische Verbindung zwischen den beiden sei von einem „blinden Verständnis“ geprägt gewesen. Die electronicacoustic soundscapes, die Kaspar und Grujović gemeinsam aufführten, klingen mal bedrohlich, mal melodisch – stets immersiv, wie auf einer Reise. Man denkt an Steve Stapleton und seine Band Nurse with Wound. Musik, auf die man sich einlassen muss.
Am 5. Oktober 2020 starb Steve Kaspar mit 68 Jahren plötzlich. Ihr kommen die Tränen, wenn sie über ihn spricht. „Es war sehr schlimm. Auf einmal war alles weg.“ Wie das bekanntlich mit den Toten so ist, sind sie dann doch nicht ganz weg. Er sei nun immer da, sagt sie. Einige der Performances, die sie seitdem aufgeführt hat, waren Steve Kaspar gewidmet – insbesondere die, die aus ihrer Zusammenarbeit mit dem Sunn O)))-Trombonisten Steve Moore erwachsen sind. Sie lernten sich kennen, als Sunn O))), eine amerikanische Drone-Band, 2020 in der Kulturfabrik auftrat und Nataša Grujović und Steve Kaspar im Vorprogramm spielten. Sie ist inspiriert von Komponisten wie Meredith Monk, Morten Feldman und Luigi Nono, hierzulande von Musikern wie Benoit Martiny und Ela Baumann. Sie mag Humanisten: Menschen die wissen, „was menschlich ist und was nicht“.
Sie stand für mehrere Theaterproduktionen auf der Bühne, zuletzt in Ian de Toffolis Stück Trick im Kasemattentheater. Regelmäßig ist sie im Casino und in der Philharmonie zu sehen. International spielte sie unter anderem in Italien, Belgien, Taiwan, Serbien. 2019 verbrachte sie im Rahmen des Stipendiums Bert Theis drei Wochen in Italien, gemeinsam mit Steve Kaspar und der Künstlerin Claudia Passeri. Sie probte ein italienisches Lied ein, eine Serenata, und spielte sie der Dorfgemeinschaft aus einem Pick-up vor. Kommenden Donnerstag gibt es eine neue Auflage des Liedes Madonna Amore von Claudio Villa aus dem Jahr 1956, im Rahmen von Claudia Passeris Ausstellung Rurale Brutale. Diesmal singt die Akkordeonistin dazu, während der Geburtsbaum, der conocchia, der zur Geburt des Kindes mit blauen oder rosa Bändern behangen wird, abgeschnitten wird. Im November ist sie mit A-Un, einer Kollaboration mit der Butoh-Tänzerin Yuko Kominami, auf der Bühne der Philharmonie im Rahmen des Rainy Days-Festivals zu sehen.
Andreas Wagner, Dramaturg und guter Freund, bezeichnet Nataša Grujović als sensibel, sowohl menschlich als auch musikalisch. Diese Empfindsamkeit führe dazu, dass sie offene Ohren hat, gut zuhören kann, was wiederum das Spiel im Ensemble erleichtert. „Sie steckt tief in der Musik drin“, sagt er, und sei sich stets „treu geblieben“. Sich selbst zu verwalten und zu vermarkten, sei nicht ihr Ding. Er hält sie für wichtig für die Szene, da sie konsequent ihre Musik mache und dadurch vieles implizit infrage stelle. Gleichzeitig sei sie „wahnsinnig selbstkritisch, bis ins Moralische“, was ihre Arbeit angehe. Claudia Passeri schätzt ihre Konzentration in der Arbeit. Und sieht darin dennoch auch eine Herausforderung, denn man muss sich anstrengen, um mit einer leidenschaftlichen Person zusammenzuarbeiten. Das Resultat lohne sich.
Da sie derart durchlässig wirkt, stellen sich andere Fragen: Was macht das Weltgeschehen mit ihr? Was bedeutet es, in Kriegszeiten Künstlerin zu sein? „Es sind nicht die Politiker, die den Frieden bringen werden, sondern wir Menschen.“ Sie vertraue den Politikern nicht, und sie sei „nicht die einzige“. Es gebe nicht genug Psychiater auf der Welt für all die kaputten Menschen, die diese Konflikte hervorbringen. Künstler suchen Transzendenz. Auf die Bühne zu gehen, beschreibt sie als hingebungsvollen Akt. Eine Art Geburt – fast, als wolle man das, was einem am Allerliebsten sei, auf die Welt bringen. Es sei eine „nicht-materielle Bereicherung – brutal“, und stellenweise „fast zu viel, zu intim“. Akkordeon für den Besuch zu spielen, ist ihr dennoch eine Freude. Erst das kleine, das bereits eine erstaunliches Geräuschvolumen aufbaut. Dann packt sie „die Sau“ aus – so hat sie ihr Hauptinstrument getauft. 16 Kilo wiegt das Akkordeon, sie hält es leicht, als sei es ein Teil von ihr, eine Verlängerung ihres Körpers. Ihr Blick verändert sich, sie ist ganz bei sich. Sie spielt ein englisches Lied, es geht um Einsamkeit, um Erinnerungen. Sie singt dazu – und ihre Augen blicken nach draußen, ins Licht.