Analyse der Kammerwahlen 1999

Hustensaft und Postmaterialismus

d'Lëtzebuerger Land du 12.10.2000

Wäre Pascal Triebel ohne Hustensaft DP-Abgeordneter geworden? Soll die CSV nach Sydney Nancy Kemp-Arendt wieder aufstellen? Seit dem politischen Erdrutsch von 1974 lassen sich die Parteien über das Parlament Wahlanalysen finanzieren, die ihnen erklären sollen, wie sie nächstes Mal mehr Stimmen gewinnen können.Obwohl komplexe Phänomene wie das Wetter oder die Wahlen die Wissenschaft lächerlich machen: sie machen bloß das Unvorhersehbare nachher logisch erklärbar. 

Weil die Luxemburger Sozialwissenschaften 1974 noch nicht einmal in den Kinderschuhen steckten, wurde bisher immer das Brüsseler Centre de recherche et d'information socio-politiques Crisp mit den Wahlanalysen beauftragt. Doch die methodologische Beschränktheit und die zunehmende Lieblosigkeit, mit der das Crisp arbeitete, ließen es schließlich den Auftrag verlieren. Letztes Jahr verpflichtete die Kammer zum ersten Mal das Luxemburger Centre de recherche public (CRP) Gabriel Lippmann.

Ein gutes Jahr nach den Wahlen legt das nach dem mit drei Jahren aus Luxemburg ausgewanderten Nobelpreisträger benannte CRP seinen insgesamt 452 Seiten starken Bericht vor. Aus drei verschiedenen Richtungen versuchen die Lippmänner und -frauen sich der Antwort zu nähern: mit einer Beschreibung des politischen und gesellschaftlichen Rahmens, einer Untersuchung panaschierter Wahlzettel und einer repräsentativen Meinungsumfrage vor und nach den Parlamentswahlen. So sollen die Wahlen vom 13. Juni 1999 erklärt werden, bei denen die Rechtsparteien zusammen den höchsten Stimmenanteil in einem halben Jahrhundert erzielten und die Linke entsprechend ihren niedrigsten.

Die Arbeit ist vor allem soziologisch und nicht politisch. Sie lässt äußere Einwirkungen, wie die Wirtschaftskonjunktur und den Umbau zum "nationalen Wettbewerbsstaat" außer Acht. Auch bleibt sie in der Logik ihrer Auftraggeber einer parteipolitischen Angebotstheorie verhaftet: Sie fragt, wie die Parteien Stimmen anziehen, nicht, ob die Wähler ihre Interessen anmelden konnten. Auch Geschlechterunterschiede werden kaum berücksichtigt. Doch führt sie die immer unergiebigere Crisp-Methode aus der Sackgasse heraus. Für einen Großteil der Beschreibung der Luxemburger Politik in der Studie ist der junge französische Politologe Philippe Poirier verantwortlich. Dies hat den Vorteil eines frischen Blicks von außen. Es hat aber auch die Nachteile mancher Ungenauigkeiten und der weitgehenden Beschränkung auf die französischsprachige Presse und Fachliteratur.

Eine weit ausholende Geschichte der Parteien erzählt von der staatstragenden Volkspartei CSV (S. 55), der zwischen sozialistischer Tradition und Neuer Mitte hin und her gerissenen LSAP (S. 68), der ihre reformistische Tradition aufgebenden DP (S. 78), der Lénk als industriell geprägten Protestpartei (S. 83), der Gréng, für die eine rotgrüne Koalition illusorisch bleiben müsse (S. 90) und der populistischen Protest- und Ausgeschlossenenpartei ADR (S. 99). Gerade die für die letzten Wahlen entscheidende Entwicklung der Neunzigerjahre kommt aber oft zu kurz. Etwa die bemerkenswerte Konsequenz, mit welcher der spätere Südspitzenkandidat der CSV Jean-Claude Juncker das sozialpolitische Terrain auf Kosten der LSAP besetzte.

Die Studie hält "willkürlich" sechs Themen und Ereignisse fest, die den (Vor-)Wahlkampf bestimmten: die Pensionsreform im öffentlichen Dienst, das BTB-Projekt, der Rücktritt der Santer-Kommission, die Suspendierung des Präsidenten des Rechnungshofs, die Schwierigkeiten der rot-grünen Koalition in Deutschland und der Kosovo-Krieg (S. 38). Weil sie ausdrücklich willkürlich sind, sind sie nicht schlechter als der Nationale Beschäftigungsplan, die Dysfunktionen, das Reha-Zentrum und die Asylpolitik.

Bemerkenswerterweise hielten die Teilnehmer der Meinungsumfrage allgemein die Rentenreform für ausschlaggebend bei den Wahlen, fanden persönlich aber die Bildungspolitik wichtiger. Für die Studie erklärt deshalb die versprochene Bildungsoffensive dann auch eher den Wahlsieg der DP als deren Einsatz für die Staatsbeamten.

Fernand Fehlen, der sich große Verdienste damit erworben hat, auf die politische Bedeutung des Panaschierens für die Listenzusammenstellung und den Wahlkampf aufmerksam gemacht zu haben, scheint unter dem Einfluss der rezenten Diskussion über die Einschränkung oder Abschaffung des Panaschierens bewusst oder unbewusst dem Panaschieren vermehrt positive Züge abzugewinnen. Doch bleibt die Gefahr eines Panaschierfetischismus bei Diskussionen über das Wahlverhalten bestehen. Denn immerhin ist das Panaschieren eine Konstante seit 80 Jahren, erklärt also kaum Veränderungen zwischen zwei Wahlgängen, und passen die angeblich entideologisierten Parteien bis heute ohne Schwierigkeiten in das Rechts-Links-Schema.

Die ausgiebige Untersuchung des Panaschierens in den einzelnen Bezirken kommt jedenfalls unter anderem zu dem Schluss, dass am engsten zwischen CSV, DP und LSAP panaschiert wurde, aber kaum zwischen Grünen und ADR. Derzeit vielleicht noch wichtiger sind die Hinweise, dass zwei Drittel der Wähler nicht panaschieren, das Panaschieren nicht ständig zunimmt, wie in jedem Leitartikel behauptet, und sich meist gezielt auf zwei oder drei Listen beschränkt wird.

So bleiben Fragen über Fragen. Brachte die CSV den erhofften Aufschwung nicht fertig oder verhinderte lediglich ihr Allroundstar Jean-Claude Juncker ein weiteres Absacken? Juncker kompensierte im Süden das an panaschierten Stimmen, was seiner Partei an Listenstimmen fehlte (S. 130). Die Auswertung der Meinungsumfrage unterscheidet zwischen zwei Sorten von CSV-Wählern: Einerseits einen kleineren Anteil eher älterer Menschen mit niedrigen Einkommen, die der CSV Listenstimmen gaben, weil sie den Führungskräften ihrer Politiker vertrauen. Andererseits einen größeren Anteil an Leuten zwischen 35 und 49 Jahren mit höheren Einkommen, denen Bildungs-, Familien- und Wirtschaftspolitik wichtig sind und lieber panaschierten (S. 334). Aber es sei schwierig, junge Angestellte neuer Dienstleistungsberufe an sich zu binden, ohne den rechten Rand an das ADR zu verlieren (S. 57).

Gewann die DP drei Prozent hinzu, weil die Wähler 15 Jahre CSV/LSAP satt hatten, oder weil sie voll im Trend der Spaß- und Dienstleistungsgesellschaft liegt? Die Kunst der DP sei es immer wieder gewesen, vorübergehend Wähler zu mobilisieren, die nicht zu ihrer traditionellen Basis gehörten, sich dann aber aus Enttäuschung über ihren mangelnden Reformwillen wieder zurückzögen (S. 77). Überdurchschnittlich gehörten die DP-Wähler 1999 in die Kate-gorien derjenigen, die im öffentlichen Dienst arbeiten, zwischen 125 000 und 175 000 Franken monatlich verdienen und an Bildungspolitik interessiert sind (S. 331).

Außerdem gebe es einen Pendeleffekt: Die CSV als Seniorpartnerin der Koalition bekomme immer am meisten Stimmen. Dagegen versuchten die Wähler, über ihre Koalitionspartnerin Einfluss auf die Koalition auszuüben, so dass diese Juniorpartnerin automatisch bei den nächsten Wahlen Stimmen verliere. Müsse sie in die Opposition, könne sie dagegen fast ebenso automatisch wieder mit Stimmengewinnen rechnen (S. 109).

So könnte sich zum Teil auch die Frage beantworten lassen, ob die LSAP drei Prozent verlor, weil die Wähler wieder einmal den Koalitionspartner der CSV tauschen wollten, oder weil die LSAP zuviel Partei der Arbeiter statt der Neuen Mitte war. Doch die Antwort bleibt unschlüssig (S. 67) Unter den LSAP-Wählern gab es einen vergleichsweise hohen Anteil Arbeiter, Leute mit niedriger Bildung und geringem Einkommen. Der typische grüne Wähler war dagegen zwischen 25 und 34 Jahre alt, Akademiker mit einem Einkommen über 175 000 Franken monatlich, Lehrer, Listenwähler und am Umweltschutz interessiert.

Auch die ADR-Wähler gaben viele Listenstimmen ab, sie waren vor allem an Rentengerechtigkeit und Mitspracherecht im Staat interessiert, arbeiteten überdurchschnittlich viel in der Industrie und stimmten aus Protest gegen die Regierung. 

Die Studie versucht, die Umfrageergebnisse in das 1977 vom Professor am Institut für Sozialforschung an der Universität von Michigan, Ronald Inglehart, entwickelte Raster von materialistischen und postmaterialistischen Werten einzupassen, das auf der alten Erkenntnis beruht, dass Arme ihr Leben lang mit dem Broterwerb beschäftigt sind, während Reiche sich nebenher auch um andere Dinge kümmern können. Mit wachsendem Massenwohlstand nach dem Zweiten Weltkrieg hätte dieser Widerspruch zwischen Materialisten und Postmaterialisten begonnen, die traditionellen Widersprüche zwischen Kirche und Laizismus, Industrie und Landwirtschaft, Stadt und Dorf zu überde-cken. Besonders ergiebig scheint die Befragung nach den materialistischen Prioritäten von Sicherheit und Wachstum sowie den postmaterialistischen von Umweltschutz und Mitbestimmung aber nicht.

So bleibt es für das CRP schwierig, das Kleine und das Große, das Konjunkturelle und das Strukturelle, das Lokale und das Nationale zusammenzuführen, um eine kohärente Erklärung der letztjährigen Wahlen vorzulegen.

Ob der Wahl von 1999 in diesem Prozess tatsächlich die Schlüsselbedeutung zukommt, die ihr die Studie beimisst, kann bezweifelt werden. Vielleicht fanden die entscheidenden Umbrüche schon in den Achtzigerjahren statt. Die erste grüne Liste kandidierte immerhin vor zwei Jahrzehnten, das ADR ist 13 Jahre alt, die Zahl der Kandidatenlisten bei den Wahlen nimmt seit dem Höhepunkt 1989 wieder ab.

Centre de Recherche Public Gabriel Lippmann: Les élections au Grand-Duché de Luxembourg. Rapport sur les élections législatives du 13 juin 1999. Étude réalisée pour la Chambre des Députés du Grand-Duché sous la direction de Fernand FEHLEN. Octobre 2000.

Romain Hilgert
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