Zwei Drittel der Wähler wollen einen einzigen landesweiten Wahlbezirk. Aber sie werden am 7. Juni sicherheitshalber nicht gefragt

Wählerwille gegen Parteiinteressen

d'Lëtzebuerger Land du 24.04.2015

Am 7. Juni organisiert die Regierung ein Referendum über drei Änderungen am Wahlsystem, das den Einfluss der CSV zurückdrängen soll, die bisher mehr als alle anderen Parteien von diesem System profitierte (d’Land, 20.2.15). Doch neben den Fragen über die Staatsangehörigkeit und das Mindestalter der Wähler sowie über die Mandatsdauer der Regierungsmitglieder gibt es seit Jahrzehnten diskutierte Reformen des Wahlsystems, die am 7. Juni nicht zur Debatte gestellt werden. Dazu gehören der Wahlzwang, der für die großherzogliche Familie sowie Nicht-Luxemburger aufgehoben ist und dessen Missachtung nicht mehr bestraft wird, das Panaschieren, das Wahlentscheidungen entpolitisiert, und das d’Hondtsche Höchstzahlverfahren, das bei der Errechnung der Sitze und Restsitze die größeren Parteien bevorzugt.

Vor allem aber werden die Wähler bei der Volksbefragung nicht gefragt, ob die vier Wahlbezirke durch einen einzigen landesweiten Wahlbezirk bei den Parlamentswahlen ersetzt werden soll. Dabei will laut Meinungsumfragen inzwischen eine breite Mehrheit von Wählern aller Parteien einen einzigen Wahlbezirk. Aber die großen Parteien sind aus Eigeninteresse dagegen.

Die Aufteilung der Wähler und Mandate in einen Süd-, einen Zentrums-, einen Nord- und einen Ostbezirk bevorzugt nämlich allgemein die größeren Parteien, da es in den beiden kleinen Bezirken einen deutlich höheren Stimmenanteil verlangt, um einen der spärlichen Sitze zu bekommen. So braucht eine Partei im Nordbezirk zehn Prozent und im Ostbezirk sogar 12,5 Prozent der Stimmen, um ein Mandat zu erhalten. Das ist eine weit höhere Hürde als beispielsweise die für undemokratisch gehaltene Fünf-Prozent-Klausel, die Parteien in anderen Ländern überwinden müssen, um Anrecht auf Parlamentsmandate zu bekommen.

Doch diejenigen, die reservierte Plätze für Kandidatinnen als undemokratisch ablehnen, befürworten bis heute regionale Quoten, reservierte Plätze für Abgeordnete aus dem Ösling oder von der Mosel. Denn die vier Wahlbezirke sollen den politischen Einfluss der konservativeren ländlichen Gegenden stärken gegenüber dem eher links wählenden industriellen Süden und dem liberaleren Zentrum. Aus diesem Grund hatte die Sozialistische Partei bei der Einführung des allgemeinen Wahlrechts 1919 einen einzigen Wahlbezirk verlangt, konnte sich aber nicht durchsetzen. Damals wurden die Wahlbezirke zudem genutzt, um Teilwahlen in jeweils zwei der vier Bezirke durchzuführen, mit denen landesweite politische Veränderungen gebremst wurden.

Bei den Europawahlen gibt es einen einzigen Wahlbezirk, weil Luxemburg nur sechs Abgeordnete im Europaparlament zustehen. Eine Wahl von sechs Abgeordneten in vier unterschiedlichen Bezirken triebe die Konsequenzen der Wahlbezirke aber auf die Spitze, denn dann würden vielleicht fünf oder sechs CSV-Abgeordnete nach Straßburg geschickt werden.

Weil je nach Wahlbezirk eine unterschiedliche Anzahl von Mandaten vergeben wird und das Wahlverhalten in einem landesweiten Bezirk anders ist, lässt sich das Ergebnis einer solchen Wahl nicht genau simulieren. Nimmt man die in der Wahlanalyse Elect 2013 (S. 558) für das ganze Land errechneten „fiktiven Wähler“ als Grundlage, wäre man am 20. Oktober 2013 nach der Vergabe von vier Restsitzen auf folgende Mandatszahlen gekommen:

Wahlergebnis Bei einem Bezirk

CSV 23 22

LSAP 13 12

DP 13 12

Grüne 6 6

ADR 3 4

Lénk 2 2

KPL 0 0

Piraten 0 1

Pid 0 1

Wäre demnach am 20. Oktober 2013 in einem landesweiten Wahlbezirk gewählt worden, hätten die drei größten Parteien CSV, LSAP und DP jeweils einen Sitz weniger bekommen, dafür hätte die ADR einen Sitz mehr erhalten und die Piratenpartei und Jean Colomberas Pid wären mit je einem Abgeordneten ins Parlament eingezogen. Die Grünen und déi Lénk hätten wohl die gleiche Mandatszahl erhalten wie in vier getrennten Bezirken, die KPL hätte als einzige der neun kandidierenden Partei keinen Sitz bekommen. Hätte man am 25. Mai 2014 nicht in dem einzigen Wahlbezirk Europaabgeordnete, sondern nationale Abgeordnete gewählt, wären Piratenpartei und Pid auf dem Krautmarkt eingezogen.

Auch wenn die kleinen Wahlbezirke der CSV nutzen, haben die drei Regierungsparteien also wenig Interesse an der Einführung eines einzigen Bezirks. Die im bevölkerungsreichen Südbezirk schwache DP kann in einem landesweiten Wahlbezirk nur verlieren, auch wenn sie in ihrem Wahlprogramm versprach, dass sie zumindest „eine Diskussion über die Größe der Wahlbezirke anstoßen“ will, „da die Zahl der in den einzelnen Regionen zu vergebenden Mandate nicht mehr im Verhältnis zur Bevölkerungsgröße in den jeweiligen Bezirken steht“. Ein entsprechender Gesetzesvorschlag von Gast Gibéryen (ADR) wurde aber im Oktober vergangenen Jahres von allen Parteien mit Ausnahme der ADR abgelehnt.

Die LSAP hat kein Interesse daran, dass die Zahl der Abgeordneten zu ihrer Linken zunimmt, weshalb die Frage der Wahlbezirke in ihrem reformfreudigen Wahlprogramm gar nicht auftauchte. Die Grünen sind die einzige der Regierungsparteien, die in ihrem Wahlprogramm versprachen, dass sie „die vier Wahlbezirke zu einem einzigen nationalen Wahlbezirk zusammenfügen, damit, ähnlich wie bei den Europawahlen, ohne Regionalproporz gewählt wird“. Doch bei der Vorstellung, dass so der Präsident der Piratenpartei ins Parlament käme, dürften sie es sich nun zweimal überlegen. Und den drei Parteien graut es bei der Vorstellung, dass ein CSV-Star vom Format eines Jean-Claude Juncker nicht bloß in seinem Heimatbezirk, sondern im ganzen Land plebiszitiert werden könnte.

Doch die Wähler scheinen da anderer Meinung zu sein. Bei einer repräsentativen Umfrage für die Wahlanalyse Elect 2013 des Lehrstuhls für Parlamentarismusforschung an der Universität (d’Land, 10.4.15 ) sprachen sich zwei Drittel der Befragten für eine Abschaffung der vier Wahlbezirke und deren Ersatz durch einen einzigen Wahlbezirk aus. Seit 2009 ist die Begeisterung für einen einzigen Wahlbezirk sogar drastisch gestiegen, von 53,3 auf 69 Prozent. Überraschenderweise gab es bei keiner Partei so viele Anhänger eines einzigen Wahlbezirks wie bei der DP: 82,1 Prozent. Dabei ist die DP gerade in den beiden kleinsten Bezirken die zweitstärkste Partei, deutlich vor der LSAP.

Die Forderung nach einem einzigen Wahlbezirk sticht um so mehr heraus, als die Befragten andere Reformen des Wahlsystem mehrheitlich ablehnten. Vielleicht drückt sich so der Wunsch aus, die Spitzen- und anderen prominenten Kandidaten überall im Land wählen zu dürfen. Die Begeisterung liberaler Wähler für einen einzigen Wahlbezirk erklärt die Wahlanalyse sogar mit ihrem Wunsch, lieber landesweit den Nordpolitiker Charles Goerens als DP-Spitzenkandidat Xavier Bettel zu wählen (S. 243).

Würden die Wähler also beim Referendum am 7. Juni nach einem einzigen landesweiten Wahlbezirk gefragt, fiele laut dieser Umfrage das Ergebnis so eindeutig aus wie bei keiner anderen Referendumsfrage. So dass weder die Regierungsmehrheit noch die CSV an einer entsprechenden Verfassungsänderung vorbeikämen. Umso mehr als die Wähler der drei Regierungsparteien laut der Meinungsumfrage überdurchschnittlich für die Einführung eines einzigen Wahlbezirks waren. Also gab es nur einen Weg, um einen einheitlichen Wahlbezirk zu verhindern und den viel gerühmten Wählerwillen zu missachten: zu verhindern, dass die Wähler am 7. Juni – wie zur Trennung von Kirche und Staat – um ihre Meinung gefragt werden.

Romain Hilgert
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