Die endgültige Trennung von parlamentarischer Demokratie und Wirtschaftspolitik machte Jean-Claude Junckers Amtszeit zu jenen Jahren, als die Europäische Union politisch und geografisch zerfiel

Ich bin froh zu gehen

d'Lëtzebuerger Land vom 06.12.2019

Am Wochenende setzte Jean-Claude Juncker zum Abstieg vom Gipfel seiner politischen Laufbahn an. Sie hatte ihn aus einer katholischen Arbeiterfamilie in Beles über das Staatsministerium im Schatten der Kathedrale bis nach Brüssel ins 13. Stockwerk des nach Augustinerinnennonnen benannten Berlaymont-Gebäudes geführt.

Er zeigte nicht nur Wehmut. Schon beim Echternacher „Bürgerdialog der Europäischen Kommission“ im Mai hatte er versichert: „Ich weiß jedenfalls: Ich mache Schluss am 31. Oktober um Mitternacht!“ Am Ende dauerte es einen Monat länger. Während seiner letzten Pressekonferenz als Präsident der Europäischen Kommission gab er am Freitag zu: „Je suis heureux de quitter.“

2004 hatte er das Amt des Kommissionspräsidenten, das er am Freitag „the most difficult job in the world“ nannte, ein erstes Mal abgelehnt. Erfolglos hatte er sich für das Amt des ständigen Ratspräsidenten beworben, denn „[m]ême mon ami Donald Tusk convient qu’il exerce une fonction à temps partiel“ (Le Monde, 15.11.19).

So erreichte er 2014 den Gipfel seiner politischen Laufbahn ein Jahrzehnt zu spät. Einen Gipfel zu spät zu erreichen, kann lebensgefährlich werden, wenn die Kräfte nachlassen und die Witterung umschlägt. Ohne den erhofften Teilzeitjob wurde er rasch alt und müde, musste eine Europäische Union verkörpern, die sich nicht einmal mehr den Anschein gab, noch etwas mit den europäischen Idealen seiner Jugend gemein zu haben.

Dass er sich nie für das Verwalten interessierte, hatte zuhause seinen Sturz beschleunigt. In Brüssel wurde er weniger der Herr von 30 000 Europabeamten, als ihr Gefangener. Einer die Parkinsonschen Gesetze verehrenden, durch ihre Mehrsprachigkeit berufenen Sekte, die sich auserwählt fühlt, Europa zu verwalten und vor Unwissenheit und Egoismen zu retten. Er ließ sich von den dynamischen Frauen aus Osteuropa, den überdiplomierten Juristen aus Südeuropa zuerst bedienen, dann umsorgen und schließlich mit all seinen Schwächen abschirmen und gängeln.

Die Europäische Union pflegt, auf Kommissionspräsidenten aus dem Großherzogtum zurückzugreifen, wenn sie Verlegenheitskandidaten sucht, denen die Hausmacht zur Durchsetzung nationaler Interessen fehlt. Bisher stellte Luxemburg drei von 14 Präsidenten, mehr als jeder anderer Mitgliedstaat. Entsprechend glanzlos erscheint die Amtszeit der Luxemburger im Berlaymont. Gaston Thorn (DP) und Jacques Santer (CSV) wurden Kommissionspräsidenten, weil Großbritannien die belgischen Favoriten, Etienne ­Davignon 1980 und Jean-Luc Dehaene 1994, ablehnte und eine schwache Kommission wollte. Gaston Thorn leitete die Kommission Anfang der Achtzigerjahre während der „Eurosklerose“. Jacques Santers Kommission bereitete in den Neunzigerjahren den Vertrag von Nice und die gemeinsame Währung vor, aber in die Geschichte ging sie 1999 mit Vetternwirtschaft und ihrem schmachvollen Rücktritt ein.

Der gerade als Luxemburger Premier über seinen Geheimdienst gestolperte Jean-Claude Juncker war im März 2014 zum „Spitzenkandidaten“ der Europäischen Volkspartei gewählt worden, obwohl er weder in Luxemburg noch anderswo kandidierte. Nach den Europawahlen konnte er sich mit Hilfe der Sozialdemokraten und des Europaparlaments gegen viel Widerstand aus den eigenen Reihen durchsetzen.

In Brüssel wollte er dann so regieren, wie er es zu Hause mit der LSAP von Jacques F. Poos und Jean Asselborn gewohnt war: in einer Koalition von christlich Konservativen und Sozialdemokraten gegen die anderen Parteien und ein wenig auch gegen den Ministerrat. In Martin Scorseses Film The Irishman erinnern die Mafiabosse Tony ­Salerno und Russell Bufalino den allzu selbstständigen Gewerkschafter Jimmy Hoffa daran, wem er seinen Aufstieg zu verdanken habe, bevor sie den Uneinsichtigen umbringen lassen. Jean-Claude Junckers Glaubwürdigkeit wurde pünktlich am Tag seiner Vereidigung mit dem Luxleaks-Skandal ruiniert, danach wurde er bei Bedarf als Trunkenbold lächerlich gemacht. Das kannte er schon von den Strippenziehern seines Sturzes zu Hause.

Natürlich war der ehemalige „Mister Euro“ einsichtiger als Jimmy Hoffa. Seiner Kommission gelang es, den Abgasbetrug der deutschen Automobilindustrie unter den Teppich zu kehren, und er erzählt immer wieder gerne, wie er gewitzt und kumpelhaft US-Präsident Donald Trump davon abgebracht hatte, die Importzölle auf BMW und Mercedes zu erhöhen. Zwangsrekrutiertenvater hin oder her, er pflegte stets enge Beziehungen zur europäischen Führungsmacht. Seine internationale Laufbahn verdankte er dem deutschen Kanzler Helmut Kohl, dessen CDU war stets das große Vorbild der CSV, und der studierte Rechtsanwalt hatte zwar Affekotefranséisch üben müssen, aber seine kulturellen Referenzen sind bis heute deutsch. Trotzdem geht die deutsche Automobilindustrie mit seiner Nachfolgerin Ursula von der Leyen nun auf Nummer sicher.

In seinen zahlreichen Abschiedsreden und -interviews berief Jean-Claude Juncker sich immer wieder auf zwei Erfolge seiner Amtszeit. Einer sei der „Juncker-Fonds“, eine Garantie für Darlehen der Europäischen Investitionsbank. Der Stabilitätspakt verbietet den Mitgliedstaaten weitgehend, Geld für öffentliche Investitionen, antizyklische Konjunkturpolitik, die Stärkung der Binnennachfrage und alles auszugeben, was die Exportwirtschaft nicht interessiert. Der Fonds ist die keynesianistische, das heißt sozialdemokratische Versüßung der von Christdemokraten und Sozial­demokraten getragenen Maastrichter Austerität.

Der Christlichsoziale, der zu Hause lange faszinierte und dann nervte, kehrte bei passender Gelegenheit den Herzjesu-Marxisten heraus, denn er wollte stets auch etwas Anderes sein, als er ist, am liebsten auch ein Sozialdemokrat. Der ohnehin schon ratlosen Sozialdemokratie klaute er die Strategie des kleineren Übels: Alles ist schrecklich, aber wäre irgendein José Manuel Barroso an seiner Stelle Kommissionspräsident, wäre alles noch viel schrecklicher.

Deshalb ist der zweite Erfolg, den Jean-Claude Juncker sich immer wieder zugutehält, der Verbleib Griechenlands in der Euro-Zone. So machte er sich selbst zum tragischen Helden einer Zeit, als nach der Finanz- und Wirtschaftskrise nicht bloß die Wirtschaft, sondern nun auch die Wirtschaftspolitik endgültig jeden demokratischen Einflusses entzogen wurde. Sein Stolz lässt ihn verschweigen, dass er selbst eines der Opfer ist.

Der damalige griechische Finanzminister ­Yanis Varoufakis erzählt in seinen Erinnerungen Adults In The Room: „The night before the Eurogroup [prime minister] Alexis [Tsipras] called with good news. The president of the European Commission, Jean-Claude Juncker, had secretly sent us a draft communiqué: could I look at it? Was it what we wanted? A quick look made clear it was a major breakthrough.“ Aber der Präsident der ­Euro-Gruppe, Jeroen Dijsselbloem, legte tags darauf im Auftrag des deutschen Finanzministers Wolfgang Schäuble ein neues Kommuniké vor: „All the concessions in the drafts presented by ­Juncker the previous night and by Pierre [­Moscovici] a few moments earlier had been expunged. [...] Indeed, from that day onwards, every time he or Jean-Claude Juncker tried to help our side, I felt a sense of dread, for I knew that those with real power would strike us down pitilessly in order to teach Moscovici and Juncker a lesson and beat the European Commission back into its pen.“

Die endgültige Trennung von parlamentarischer Demokratie und Wirtschaftspolitik machte nicht nur die Europäische Zentralbank in Frankfurt zur mächtigsten Einrichtung in Europa. Sie machte auch Jean-Claude Junckers Amtszeit zu jenen Jahren, als die Europäische Union politisch und geografisch zerfiel. In jedem Mitgliedstaat gibt es einen wachsenden Teil der Bevölkerung, der den nationalistischen Rückzug als einzige Alternative zum neoliberalen Durchmarsch auf Kosten der Schwachen erkennt und Halb- und Ganznazis in die Regierungen wählt: England beschloss den Austritt Großbritanniens, die Europäische Union ist in Nord und Süd, Ost und West gespalten und sieht ungerührt zu, wie Tausende im Mittelmeer ertrinken.

So könnte Jean-Claude Junckers Amtszeit, die er bei seinem Antritt die Kommission „der letzten Chance“ genannt hatte, vor allem als Desaster erscheinen. Aber sein Wirken und Unterlassen an der Spitze der Europäischen Kommission lässt sich nur bewerten, wenn man einschätzen kann, wie groß der Spielraum eines Kommis­sionspräsidenten ist. Auf eine Journalistinnenfrage am Freitag, was nun aus ihm werde, kündigte er knapp an: „Ma vie future sera ailleurs.“

Romain Hilgert
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