Leitartikel

Bettels Biedermeier

d'Lëtzebuerger Land du 13.12.2019

Er war angetreten als Bilderstürmer. Doch alles was Xavier Bettel abhängte, waren die Bilder in den Büros des Staatsministeriums. Der Premierminister entpuppte sich bestenfalls als gesellschaftspolitischer Reformer, mittlerweile ist er nur noch Verwalter. Und wünscht sich „Ruhe“. Die Bürger sollen sich nicht ärgern, ihren alltäglichen Verpflichtungen besonnen nachgehen und sich abends im gemütlichen Wohnzimmer oder am idyllischen Weihnachtsmarkt über die frohe Botschaft des Nachwuchses bei Hofe freuen. Herzlich Willkommen im neuen Biedermeier.

Zu der Kunst des Politischen gehört, über die Gegenwart und Zukunft deuten zu können. Also jenseits von Empirie und Zahlen eine Erzählung zu konstruieren, die sinnstiftend für Gesellschaften ist. Erfolgreiche Erzählungen schmieden aus einer beliebigen Gruppe von Menschen eine Gemeinschaft, die bereit ist, Kompromisse einzugehen, Opfer und Leistung zu bringen im Glauben an ein hehreres Ziel oder zumindest an eine bessere Zukunft. Diese Erzählungen, oder neumodisch auch Narrative genannt, sind der soziale Kitt von Gemeinschaften und halten sie im Innersten zusammen, selbst wenn die Gegenwart düster und das Ende des Monats noch weit ist.

Die aktuelle Regierung hat kein solches Narrativ. Sie kann den Bürgern dieses Landes nicht sagen, warum sie täglich aufstehen, sich durch den Verkehr plagen und Kinder in die Welt bringen sollen. Sie hat kein Projekt, keine Vision, wie die Gesellschaft sich entwickeln soll. Bestenfalls reden Energie- und Finanzminister von irgendeiner Zahl in der nahen Zukunft. Doch eine Zahl macht noch keine Erzählung. Und weil es der Regierung an einem Plan fehlt, würgt der Premiermister jegliche Diskussion ab, fordert die Bewahrung der Ruhe im Geiste des Luxemburger Konsensmodells.

Doch damit erreicht er womöglich das Gegenteil. Denn in den aufgeregten Zeiten der Gegenwart hat sich nicht nur in Luxemburg das Gefühl des Abstiegs beziehungsweise des Niedergangs breitgemacht. Die Anzahl der Menschen, die an eine bessere Zukunft glauben, nimmt erschreckend ab – Pessimismus prägt den Zeitgeist.

International geht die Rede vom Untergang des Westens sowie der Klimakrise. Geradezu im Gegensatz zu Bettels Ruhe-Maxime ruft Greta Thunberg die Menschen dazu auf, in „Panik“ zu geraten. Und national ist es vor allem die Wohnungskrise, die den Diskurs prägt. Steigende Immobilienpreise von über zehn Prozent jährlich setzen die Mittelschicht unter Druck, sie befürchtet, nicht mehr mithalten zu können und den sozialen Abstieg. Und für die prekären Schichten, die mit dem Mindestlohn auskommen müssen, ist sowieso in Luxemburg kein Platz mehr.

Nicht einmal die einstige Verheißung einer Leistungsgesellschaft spendet noch Trost. Die Geschichte vom Aufstieg durch Bildung, durch Fleiß, Arbeit und Tüchtigkeit – lange nichts davon gehört. Auch Bildungsminister Claude Meisch ist nach den turbulenten Anfangsjahren nun wohl erleichtert, dass der Bildungsdiskurs aktuell erst einmal vor sich hin schlummert.

Der Premierminister und die Regierung lassen das Feld der Erzählungen unbestellt, alles was ihnen einfällt, sind beschwichtigende Worte. Der historische Blick ins 19. Jahrhundert sollte als Menetekel dienen: In der Phase des Biedermeier wurden die Ängste und Wünsche der Menschen nur so lange unterdrückt, bis sie nicht mehr zu kontrollieren waren.

Pol Schock
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