Peak 2020: Eine Naturschutz-Demo gegen ein Projekt, das auf wackligen Zahlen aufgebaut ist, musste wegen Corona abgesagt werden

Aus der Luft gegriffen?

d'Lëtzebuerger Land vom 04.09.2020

Eigentlich war in dem kleinen Waldstreifen gegenüber des Bahnhofs Niederkerschen/Sassenheim zwischen dem 3. und dem 6. September eine „Awareness-Kampagne“ der Bürgerinitiative Sassenheim geplant, gemeinsam mit lokalen Vereinen und Youth for Climate Luxembourg. Ihr Ziel wäre gewesen, durch Fahrradtouren, Müllsammeln, Zeltlager oder ein Insektenhotel auf die Natura-2000-Zone aufmerksam zu machen. Ein beträchtlicher Teil des Waldes soll der Kärjenger Umgehungsstraße weichen. Das Ziel der Kampagne, die Bevölkerung für den Wald zu mobilisieren, bedeutet daher natürlich auch, dass die Kampagne sich implizit gegen das Contournement richtet, das vor allem die Avenue de Luxembourg in Niederkerschen entlasten soll.

Doch die Aktion wurde abgesagt. Erstens wegen der Corona-Pandemie, was keiner wirklichen weiteren Erklärung bedarf. Zweitens ist die Absage Teil eines langen Konflikts gewesen: zwischen verkehrsbedingten Lebensqualitätsproblemen und einer Frustration darüber, wie diese Probleme angegangen werden, scheinbar ohne sie im Kern zu lösen. Drittens verdeutlicht sie die Wichtigkeit öffentlich zugänglicher wissenschaftlicher Daten im politischen Diskurs und einen verantwortungsbewussten Umgang mit solchen Daten. Die beiden letzten Punkte verlangen, im Gegensatz zum ersten, erläutert zu werden. 

Trimmen statt Entwurzeln Das grundlegende Problem des etwa 4,2 Kilometer langen Contournement sieht das Dreiergespann aus Mouvement écologique, Natur an Ëmwelt und Bürgerinitiative Gemeinde Sassenheim (Bigs) nicht nur in der Frage, ob die Umgehungsstraße die einzig mögliche Lösung ist, sondern auch, ob sie langfristig überhaupt eine Lösung ist. Selbstverständlich brauchten die Einwohner Niederkerschens eine Antwort auf das Problem der Verkehrsbelastung. Aber die Wahl, schlechtere Lebensqualität oder mehr Straßen?, sei nur scheinbar binär. Ein falsches Dilemma. Blanche Weber, Präsidentin de Mouvement écologique sagt, das Contournement sei keine Lösung: „Diese Umgehungsstraße macht nach Ansicht des Mouvement écologique aus verkehrspolitischer Sicht keinen Sinn und ist auch aus naturschützerischer Sicht nicht tragbar, da sie erneut zu einem hohen Verlust an Biodiversität und an Erholungsraum für den Menschen führt.“ Zudem zeige die Erfahrung, dass Umgehungsstraßen auch nicht den gewünschten Effekt der Verbesserung der Lebensqualität mit sich bringen.

Stattdessen falle die Politik wieder in alte Verhaltensmuster zurück. Was bleibt, ist laut Weber ein Projekt, das das Kunststück fertigbringe, „gleichzeitig ein Debakel für Demokratie, Mobilität, Umwelt und Biodiversität zu sein“. Und eine Herangehensweise von gestern, die gegenwärtige Umstände und Entwicklungen nicht in Betracht ziehe. Statt das Verkehrsproblem an der Wurzel zu packen, werde wieder nur leicht getrimmt.

Die intelligenten Ampeln und das Parkhaus vor dem Bahnhof, zwei der vorgeschlagenen Lösungen, werden laut Patrizia Arendt, Sprecherin der Bürgerinitiative Gemeinde Sassenheim, in naher Zukunft umgesetzt: „Der so genannten ‚Variante Zéro‘, die explizit keine Umgehungsstraße vorsieht, sondern verkehrsreduzierende Maßnahmen, wurde somit keine Chance gegeben sich zu beweisen, obwohl halbherzig begonnen wurde, Teile davon umzusetzen.“ Die Entscheidung gegen diese „Variante Null“ fiel im Jahr 2016, zwei Jahre später wurde das Finanzierungsgesetz zur Umgehungsstraße im Parlament mit zwei Gegenstimmen und zwei Enthaltungen angenommen. Und hier schließt sich an die Grundsatzdiskussion darüber, wie das Verkehrsproblem auf einem grundsätzlichen Niveau gelöst werden soll, eine zweite, heiklere Fragestellung an.

Grenzwertig Derzeit warten alle Beteiligten auf das avant-projet détaillé (APD) für den Straßenbau, das für diesen Herbst erwartet wird. Denn im Detail liegt bekanntlich der Teufel. Und auch im Detail sehen die Gegner des Projekts dessen Angreifbarkeit, denn der Bigs und ihren Mitstreitern sind die Zahlen und Argumente, auf denen das Projekt fußt, nicht ganz koscher. Hintergrund: 2016 wurde an der Avenue du Luxembourg in Niederkerschen eine permanente Messstation aufgebaut, die die Stickoxid-Belastung vor Ort dokumentiert. Laut den Zahlen des Umweltamtes lagen die für die Diskussion relevanten durchschnittlichen Jahres-Stickstoffdioxid-Werte (NO2) pro Kubikmeter an der Straße im Jahr 2015 bei 48 Mikrogramm, 2016 bei 40 Mikrogramm, 2017 bei 28, 2018 bei 42 und 2019 bei 38 Mikrogramm. Im Januar und Februar 2020 (also bereits vor dem Lockdown) sanken sie auf 37, beziehungsweise 27 Mikrogramm pro Kubikmeter. Der gesetzlich festgelegte durchschnittliche Jahreshöchstwert liegt bei 40 Mikrogramm. Wird er überschritten, sind Reduktionsmaßnahmen zu treffen.

Diese gemessenen Werte sind laut der Bigs aus zwei Gründen für die Diskussion relevant: Erstens wurden für die Planung des Projektes Prognosen für künftige Belastungswerte erstellt. Für das Jahr 2020 wurde eine durchschnittliche Belastung von 45 Mikrogramm pro Kubikmeter prognostiziert, was weit über den bisher gemessenen Werten liegt. Diese Schätzungen, argumentierte die Bigs im Juni dieses Jahres auf einer Pressekonferenz, seien für die ursprüngliche Entscheidung, die Umgehungsstraße zu bauen, zentral gewesen. Zweitens, so die Bigs weiter, seien im Projektdossier im Jahr 2018 und in der vorhergehenden Diskussion wiederholt Messwerte von 57 Mikrogramm genannt worden. Das entspricht Werten aus dem Jahr 2012.

Diese Zahl wurde verwendet, obschon damals zuverlässigere, aktuellere – und signifikant niedrigere Werte aus der Messstation vorlagen. Der veraltete Wert von 57 Mikrogramm sei dennoch auch im Februar 2020 von Mobilitätsminister François Bausch (Grüne) noch in einer Antwort auf eine parlamentarische Anfrage genannt worden. „Wieso wurden immer und immer wieder alte Daten verwendet?“, fragt sich Patrizia Arendt stellvertretend für alle Kritiker des Contournement. Die aktuellen Zahlen würden das Hauptargument für die Straße entkräften. „Wir haben vor, das Projekt, wenn nötig, auch legal anzufechten.“

Das Pressedossier zur Konferenz vom Juni zitiert weiter die parlamentarische Berichterstatterin zum Finanzierungsgesetz, die grüne Fraktionspräsidentin Josée Lorsché, Niederkerschens Bürgermeister Michel Wolter (CSV) sowie erneut Mobilitätsminister François Bausch, die in der Debatte mit Werten von bis zu 80 Mikrogramm Stickstoffdioxid pro Kubikmeter argumentieren. Allerdings seien es, sagt Arendt, genau diese fragwürdigen Zahlen, die es der Regierung erlauben, sich auf „raisons impératives d’intérêt public majeur“ zu berufen. Das würde es erlauben, das ansonsten durch EU-Vorschriften geschützte Natura-2000-Areal umzugestalten. In einer Antwort auf eine parlamentarische Anfrage schreibt Umweltministerin Carole Dieschbourg (Grüne), dass die Verbesserungen der Luftqualität, die mit der „Variante Null“ – ohne Umgehungsstraße – einhergehen würden, nicht ausreichend wären, um die Stickstoffdioxid-Belastung unter die vorgeschriebene Grenze zu drücken: Ein besserer Verkehrsfluss durch ein „intelligentes Verkehrsleitsystem“ könne bei gleichem Verkehrsaufkommen die Werte um „jusqu’à 5% par rapport à la valeur limite ou de 2µg en valeur absolue“ reduzieren, heißt es in der Antwort. Dabei beruft sich Dieschbourg auf Zahlen von 2018, die Werte würden also eine Punktlandung auf 40 Mikrogramm machen.

„„Wir müssen solche Diskussionen objektivieren“, verlangt Blanche Weber. Eine der Initiativen der Regierung, die der Mouvement écologique begrüßt hat, war die Entwicklung einer feinmaschigen Kosten-Nutzen-Analyse aller Mobilitätsprojekte, die nicht nur rein finanzielle Faktoren, sondern auch längerfristige und benachbarte Konsequenzen als Basis einer Entscheidung für oder gegen solche Projekte mit in Betracht zieht. „Es wäre angebracht gewesen, diese Analyse für dieses Projekt durchzuziehen“, sagt Weber.

Der Zugang zu zuverlässigen Daten, die objektive Diskussion und kollektive Deliberation erlauben, ist ein Eckstein der Demokratie. Bis alle Karten auf dem Tisch sind, bleibt das 139 Millionen-Projekt, für das drei bis vier Jahre Arbeiten vorgesehen sind, eine Gratwanderung und ein Beispiel dafür, wie im Zweifelsfall auf alte Lösungen zurückgegriffen wird. Die mehrtägige Kampagne für den Wald und gegen die Straße wurde indes auf das nächste Frühjahr verschoben.

Misch Pautsch
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