Plagiatschwestern

Schreib ab, Girlie!

d'Lëtzebuerger Land vom 18.02.2010

Heute loben wir die begabten Plagiatschwestern und Klaubrüder. Abschreiben ist die „Kunst“ derer, die zu eigenen Ideen nicht fähig sind. Sei es aus Faulheit oder aus schierem Unvermögen. Werden Abschreiber ertappt, flüchten sie meist in konfuse, sehr kuriose Ausreden. Das reicht von „Ich kenne den Text, den ich abgeschrieben habe, überhaupt nicht, den Namen des Autors höre ich zum ersten Mal“, bis zu „Man darf sich doch wohl noch inspirieren, seit wann ist dies verboten?“. Als ein einheimischer Abschreiber einmal erwischt wurde, konterte er gar mit dem pathetischen Aufschrei „Ich habe ein reines Gewissen!“

Man sieht, wer in der Klemme sitzt, muss ein bisschen erfinderisch werden. Auf ein paar Lügen mehr oder weniger kommt es dann eh nicht mehr an. Nun allerdings haben die Abschreiber aller Länder eine neue Ikone, eine Art radikale Vorkämpferin für das hemmungslose, gewissensfreie Plagiat. Die junge Dame heißt Helene Hegemann, sie hat ein Buch namens Axolotl Roadkill zusammengebastelt, eine wüste Chronik über Sex-, Drogen- und Alkoholexzesse im fast schon prä-apokalyptischen Berlin. Seit zwei Wochen häufen sich die Nachweise, wo sie überall abgeschrieben hat, um ihren Text „anzureichern“. Die Liste der geklauten Passagen ist beeindruckend.

Nun könnte man meinen, die entlarvte 17-Jährige würde nachträglich so etwas wie Unrechtsbewusstsein entwickeln. Weit gefehlt! Sie fordert vielmehr: „Es muss endlich Schluss sein mit all diesen Urheberrechtsexzessen!“ Da hören wir förmlich, wie die Urheberrechtsaufräumer bei Google und anderen Web-Koryphäen vor Begeisterung gackern. Früher – das muss wohl in der Steinzeit gewesen sein, als das Klau-Girl noch längst nicht geboren war – gab es den Begriff „geistiges Eigentum“. Das stört die Diebstahlspezialisten von heute nicht im geringsten. Anders gesagt: Wer etwas Eigenes schafft, ist selber schuld. Erfolg hat, wer in fremden Gärten wildert und Früchte einfährt, die ihm gar nicht gehören. Die Wissenschaft packt diesen Vorgang verschämt in den schillernden Terminus „Intertextualität“.

Tatsächlich, Fräulein Hegemann hat enormen Erfolg. Ihr Buch avancierte auf der Spiegel-Bestsellerliste kometenhaft auf Platz 2. Bedeutende, berühmte und höchst seriöse Literaturkritiker – fast ausnahmslos männliche – lobten das Machwerk in den siebten Himmel. Wahrscheinlich waren all diese Rezensionen mit dem Schwanz geschrieben. Denn Helene Hegemann ist in den Augen dieser Enthusiasten das neue, deutsche Fräuleinwunder. Jetzt sind all diese sehr belesenen Herren, die sich unendlich weit aus dem Fenster lehnten, kräftig auf die Schnauze gefallen. Dürfen wir annehmen, dass sie wenigstens jetzt zum öffentlichen mea culpa ansetzen?

Mitnichten. Jetzt werden die Herren störrisch. Und schwenken auf die Linie der Plagiatorin ein. So lesen wir vom herausragenden Literaturkritiker Iljoma Mangold: „Die schlafwandlerische Sicherheit, mit der die 17-jährige Autorin über fremde Quellen verfügt, weist ihr künstlerisch ein besseres Zeugnis aus, als wenn sie jede Droge, über die sie schreibt, auch selbst genommen hätte“ (Die Zeit, 11.2.10). Alle Schrifsteller, die selbst Drogen nehmen und dann darüber schreiben, also authentisch sind, sollen sich trollen. Für sie bleibt nur das künstlerisch schlechtere Zeugnis.

Noch dreister formuliert es der wunderbare Textanalytiker Tobias Rapp: „Sich auf den eigenen Geschmack zu verlassen und die Dinge so zu nehmen, wie sie einem passen, um sie dorthin zu tragen, wo sie wichtig werden können: Das ist ein Talent, das man nicht geringschätzen darf. Weil es seltener ist als das Talent, gut zu schreiben“ (Der Spiegel, 13.2.10). Übertragen wir diese Argumentation mal kurz auf einen anderen Bereich, wo es auch um Eigentum geht. Wir verlassen uns also auf unseren eigenen Geschmack und nehmen uns ein Ding – sagen wir, ein Auto vor des Nachbarn Garage – so, wie es uns passt, um es dorthin zu verfrachten, wo es wichtig werden kann, nämlich in unsere eigene Garage. Wenn wir auf diese Weise nur genügend Autos klauen, haben wir ein Talent, das man nicht geringschätzen darf. Weil es seltener ist als das Talent, uns selber ein gutes Auto anzuschaffen.

Wieso nur erinnert uns diese ganze, brutale Scharlatanerie an die Luxemburger Schulreform? Irgendwie haben wir den Eindruck, dass im neuen, bürokratischen Irrgarten namens „Fundamentalschule“ künftig lauter Hegemännlein und Hegeweiblein herangezüchtet werden. Jeder ist fortan ein Genie, von Geburt an. Keinem darf angekreidet werden, wenn er maßlos zusammenklaubt, statt selber kreativ zu werden. Im Zweifelsfall kann man ja immer noch behaupten: Es gibt ohnehin nichts Neues unter der Sonne, wieso sollen wir alles nochmal erfinden? Übrigens: das Abschreiblehrbuch Axolotl Roadkill von Helene Hegemann ist für den deutschen Buchpreis nominiert. Wir möchten ausdrücklich betonen, dass der vorige Satz nur zur Hälfte abgeschrieben ist.

Guy Rewenig
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