Wie er gekommen war, verschwand der 1,2-Millionen-Einwohnerstaat  Luxemburg im Rentenbericht der EU-Kommission

Wieder alles anders

d'Lëtzebuerger Land vom 25.06.2021

Vor ein paar Wochen verschwand der 1,2-Millionen-Einwohnerstaat, vor dem im Wahlkampf 2018 die CSV gewarnt hatte. Aufgetaucht war er vor sechs Jahren im Ageing Report 2015 der EU-Kommission: Im Jahr 2060 könne Luxemburg so viele Einwohner/innen zählen. Drei Jahre später stand im Ageing Report 2018 eine Million.

Vergangenen Monat kam der Ageing Report 2021 heraus. Dort ist nur noch von höchstens 800 000 Einwohner/innen die Rede. Die Luxemburger Bevölkerung werde nur allmählich zunehmen: Bis 2030 auf 700 000, bis 2050 auf 800 000 und dort stagnieren.
Der seltsame Rückgang geht auf ein mathematisches Modell des EU-Statistikamts Eurostat zurück. Die Ageing Reports erscheinen alle drei Jahre. Sie rechnen den EU-Staaten vor, welche „implizite Staatsschuld“ ihnen über die nächsten vier bis fünf Jahrzehnte womöglich droht, weil sich wegen des demografischen Wandels die Ansprüche an die Sozialsysteme, aber auch ans Bildungswesen ändern. Zur Modellierung wird zum einen ein Eurostat-Bevölkerungsmodell für die ganze EU benutzt, das für die Ageing Reports auf die einzelnen Staaten heruntergebrochen wird. Zum anderen ein makroökonomisches Modell aus der Generaldirektion Wirtschaft der Kommission.

Doch wie das mit Modellen so ist: Sie brauchen Annahmen, um funktionieren zu können, und die können auch politisch bestimmt sein. Eine wichtige Annahme für das Eurostat-Modell lautet, dass in der ganzen EU27 der Einwanderungsüberschuss pro Jahr künftig nie mehr als eine Million Menschen betragen werde; eher weniger. Die EU-Bevölkerung werde deshalb nur zwischen 2019 und 2026 wachsen und lediglich von 447 auf 449 Millionen. Anschließend nähme sie bis 2070 auf 424 Millionen ab. Vor drei Jahren hatte Eurostat 2070 mit 15 Mil-
lionen Einwohner/innen mehr gerechnet. Deshalb rutschte Luxemburg nun anteilig vom 1,2 Millionen- auf den 800 000-Einwohnerstaat zurück.

Der neue Bericht aus Brüssel erklärt nicht, ob die Annahmen für Eurostat den einwanderungspolitischen Dissens zwischen den Mitgliedstaaten widerspiegeln. Oder ob davon ausgegangen wird, wenn es sein muss, mit militärischen Mitteln Klimaflüchtlinge aus dem subsaharischen Afrika von Europa fernzuhalten – immerhin wagt das Bevölkerungsmodell sich in Jahrzehnte vor, in denen selbst wenn das „1,5-Grad-Ziel“ für die maximale Erderwärmung erreicht werden sollte, Teile der Welt überflutet oder zum Leben zu heiß geworden sein dürften.

Doch man erinnert sich, dass auch in Luxemburg die Aussicht auf einen „1,2-Millionen-Einwohnerstaat“ in der politischen Klasse ganz unterschiedliche Reaktionen auslöste, als der Ageing Report 2015 dieses Szenario enthielt.

Denn die Berichte aus Brüssel drehen sich vor allem um die Renten. Demografie und Makroökonomie sollen Wachstumsaussichten skizzieren, an denen die Ausgabenentwicklung für die Sozialsysteme abgeschätzt werden. Der Glaube, dass das mehr als Kaffeesatzleserei sei, ist für die Rentensysteme am größten. Denn die kosten einerseits viel Geld – in Luxemburg waren es im Jahr 2019 über neun Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Andererseits sind Vorhersagen über Rentenausgaben recht treffsicher: Aus der Zahl der gegenwärtig Aktiven lässt sich mit einiger Genauigkeit die der Rentner/innen zu dem Zeitpunkt angeben, an dem der Wechsel in den Ruhestand möglich ist. Aus den geltenden Regeln für die Rentenleistungen lässt sich die Ausgabenentwicklung schätzen. Für Luxemburg schätzt der neue Ageing Report Rentenausgaben in Höhe von 16,7 BIP-Prozent im Jahr 2060 und 18 BIP-Prozent im Jahr 2070, was ein doppelt so hoher Anteil wie 2019 wäre. Vor sechs Jahren, als der 1,2-Millionen-Einwohnerstaat im Raum stand, war von 13,4 BIP-Prozent im Jahr 2060 die Rede.
Diese Zahl nahm die Regierung damals gerne zur Kenntnis. Denn 13,4 BIP-Prozent waren 3,3 Prozentpunkte weniger als im Ageing Report 2012 für 2060 stand. Prompt erklärte DP-Finanzminister Pierre Gramegna, bis zu den Wahlen 2018 gebe es rentenpolitisch keinen Handlungsbedarf. Der damalige grüne Landesplanungsminister François Bausch versicherte, „das Wachstum ist nicht das Problem“. Es müsse „gemanagt“ werden, und auch Wähler/innen der Grünen leuchte ein, dass es bei weniger Wachstum weniger Rente gebe (d’Land, 27.02.2015).

Die CSV dagegen erinnerte sich, wie 2001 der damalige Premier Jean-Claude Juncker den Panikbegriff „700 000-Einwohnerstaat“ erfand, der 2030 drohe, weil ein Rentendësch soeben eine allgemeine Rentenaufbesserung um elf Prozent beschlossen hatte. Der frisch gekürte Kandidat für Junckers Nachfolge, Claude Wiseler, warnte auf dem wahlstrategischen Kongress seiner Partei am 8. Oktober 2016 vor dem „1,2-Millionenstaat“, wo es nur „noch 30 Prozent Luxemburger“ gäbe. Dann müssten in den nächsten 40 Jahren „sechs Städte Luxemburg gebaut“ oder „jede Gemeinde verdoppelt“ oder „alle in den vergangenen 500 Jahren errichteten Gebäude noch einmal gebaut werden“. Die ADR und selbsternannte Sprachschützer sprangen auf diesen Zug auf. In ihrem Wahlprogramm 2018 versprach die CSV eine Rentenreform, um den 1,2-Millionen-Einwohnerstaat abzuwehren, hütete sich aber, ins Detail zu gehen: Mit Rentenreformen kann man Wahlen verlieren.

Was von dem neuen Bericht zu halten sein soll, wurde hierzulande noch kaum thematisiert. Ignorieren kann man ihn nicht, schließlich sollen die Ageing Reports die EU-Staaten disziplinieren: Nie sollte über der Rentenpolitik vergessen werden, das „mittelfristige Haushaltsziel“ einzuhalten, wie es seit der Eurokrise eine Verletzung der Maastricht-Kriterien verhindern soll und jedes Frühjahr im Rahmen des Europäischen Semesters überprüft wird. Auch wenn im Vorwort der Ageing Reports steht, sie beschrieben bloß „Möglichkeiten“, die eintreten „könnten“.

Wäre das Bevölkerungswachstum tatsächlich so klein, wie für die EU nun angenommen wird, gäbe es zwangsläufig weniger neue Beitragszahler zu den Rentenkassen: In Luxemburg werde die Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter (zwischen 20 und 64) nur noch schwach zunehmen, ab 2030 nur im Promillebereich. Ab 2040 könne der Trend sogar rückläufig werden, so der Ageing Report 2021. Der Beschäftigungszuwachs wird für das Jahr 2030 mit 1,1 Prozent fast drei Mal kleiner geschätzt als die 2,9 Prozent im Jahr 2019; in den 2040-er Jahren könne er gegen Null tendieren. Zwar enthält der Ageing Report neben dem „Basis-Szenario“ auch andere, in denen die Entwicklung bald besser, bald noch ungünstiger wäre. Und er denkt die demografisch nun angeblich schlechteren Bedingungen mit relativ besseren makroökonomischen zusammen: Die Arbeitsproduktivität soll EU-weit steigen. Der Kapitaleinsatz für neue Technologien oder Digitalisierung soll wachsen. In Luxemburg könnte pro Arbeitskraft 2040 rund doppelt so viel potenzieller BIP-Zuwachs aus der Produktivität möglich sein wie 2030. Doch ganz gleich, ob Basis-Szenario oder ein anderes: „Bei unveränderter Politik“, das zieht sich wie ein roter Faden durch den Bericht, wären die Rentenausgaben und -leistungen Luxemburgs einsame Spitze im EU-Vergleich. Was sie jetzt schon sind.

Weil die Luxemburger Regierung den Ageing Report schon kannte, ehe er herauskam, denn Ministerialbeamte der Mitgliedstaaten schreiben daran mit, hat sie ihn im Stabilitätsprogramm 2021 für die öffentlichen Finanzen schon erwähnt. Und ein wenig dagengehalten, dass die Rentenreserve Ende 2020 eine enorme Höhe von 37 BIP-Prozent erreicht habe. Außerdem werde seit der Pensionsreform von 2012 das Rentensystem alle fünf Jahre auf seine längerfristige Tragfähigkeit überprüft.

Eine solche Überprüfung durch die Generalinspektion der Sozialversicherung (IGSS) wird Ende dieses Jahres wieder fällig. Wie sie ausgehen wird, bleibt abzuwarten; welche politischen Schlüsse daraus gezogen werden, auch. Liegt das IGSS-Papier vor, beschäftigt sich eine „Expertenkommission“ aus Vertretern von Regierung, Gewerkschaften und Unternehmerverbänden damit. Das wird nächstes Jahr geschehen. Welche Empfehlungen die Runde an die Regierung macht, könnte wahlkampfrelevant werden. 2016 begnügte die Expertenkommission sich mit der Feststellung, die Lage der Rentenkasse sei „eher komfortabel“.

Den neuen Bericht aus Brüssel kann die IGSS-Vorausschau nicht unberücksichtigt lassen – mag seine Basis auch eigenartig sein und die letzte große Bevölkerungsprognose des Statec sogar bei wirtschaftlichem „Nullwachstum“ von fast einer Million Einwohner bis 2060 ausgehen. Zum anderen nehmen die Rentenausgaben schnell zu: Die Zahl der Rentner/innen wächst, und mehr und mehr Einwander/innen und Grenzpendler/innen, die als junge Beitragszahler/innen ab den 1980-er Jahren die Sozialkassen vor dem Kollaps bewahrten, haben beim Pensionsantritt vollständige Luxemburger Beitragslaufbahnen und dementsprechend hohe Rentenansprüche erworben. 2016 berechnete die IGGS, dass die Rentenreserve 2035 unter das gesetzlich vorgeschriebene Minimum von 1,5 Jahresausgaben fallen könnte – laut Gesetz müssten dann die Beiträge angehoben werden.

Doch höhere Rentenbeiträge sind eines der größten politischen Tabus in Luxemburg: Die Unternehmerverbände und mit ihnen die damalige CSV-LSAP-Regierung fanden 2012 in der Pensionsreform, dass höhere Lohnnebenkosten um der Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschaftsstandorts willen vermieden werden sollten. So gelangten „Stellschrauben“ ins Rentengesetz: Drohen die laufenden Rentenausgaben die laufenden Einnahmen zu überschreiten, würde die Jahresendzulage auf die Rente abgeschafft. Die automatische Anpassung bestehender Renten an die Reallohnentwicklung würde mindestens halbiert.

Weil das einer kleinen Pensionsreform gleichkäme, die nicht nur künftige Rentner/innen beträfe, sondern alle, die schon eine Pension beziehen, hoffte die ein knappes Jahr nach Inkrafttreten der Pensionsreform ins Amt gekommene DP-LSAP-Grüne-Regierung, dass an den „Stellschrauben“ erst in der Legislaturperiode danach gedreht werden müsse: Die IGSS schätzte 2016, dass es 2023 so weit sein könnte.
Vielleicht ist das am Ende nicht der Fall. Denn bis die Corona-Seuche ausbrach, herrschten Hochkonjunktur und Beschäftigungsboom. Die große Auseinandersetzung um Jahresendzulage und Rentenaufbesserung, beziehungsweise eine Beitragserhöhung, auf der die Gewerkschaften bestehen werden, könnte erneut vertagt werden. Doch wenn die EU-Kommission im Ageing Report behauptet, auf die Beschäftigungsentwicklung sei künftig weniger Verlass als auf die der Produktivität, könnte das ein Thema aufbringen, das im Wahlkampf 2018 nur angerissen wurde: Was, wenn man die Renten nicht nur durch Beiträge auf die Arbeit finanziert, sondern auch durch einen auf die Wertschöpfung oder auf „Roboter“?

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Peter Feist
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