Terrorismus

Die Verdächtigen sind die Zeugen

d'Lëtzebuerger Land vom 22.03.2013

Auf der Suche nach den Urhebern der Bombenanschläge der Achtzigerjahre hatten die Ermittler während einer Hausdurchsuchung bei der Brigade mobile de la gendarmerie sogar die Niederschrift eines Vortrags beschlagnahmt, den Brigade-mobile-Kommandant Pierre Reuland über den Anti-terrorism combat in Luxembourg gehalten hatte. Als sie später dem deutschen Bundeskriminalamt die englischsprachigen Erpresserbriefe der Bommeleeërten für eine Textanalyse schickten, stellten sie den Karlsruher Linguisten zum Vergleich unter anderem auch Reulands Vortrag zu.

Das Ergebnis war auf den ersten Blick verblüffend: Brigade-mobile-Kommandant Reuland machte in seinem Terrorismus-Vortrag die gleichen orthographischen und grammatischen Englischfehler wie der Terrorist, der die Erpresserbriefe geschrieben hatte – etwa „the explosifs“. Er setzte die Interpunktionszeichen an die gleichen Stellen, tabulierte seine Absätze auf die gleiche Weise, unterstrich Überschriften auf die gleiche Weise und machte beim Tippen die gleichen unnützen Leerzeichen innerhalb von Klammern. Doch Chefermittler Marco Klein musste am Mittwoch vor der Neunten Strafkammer auf die Schlussfolgerung des Karlsruher Gutachtens verweisen, laut der die Textmenge der Erpresserbriefe nicht ausreiche, um eindeutige Vergleiche mit anderen Texten zu ermöglichen.

Als Generalstaatsanwalt Roby Biever vorige Woche einen unerwarteten Auftritt im Prozess machen musste, gestand er gegenüber Richterin Sylvie Conter unumwunden ein, dass sie nur über die Schuld oder Unschuld von zwei kleinen Fischen, der ehemaligen Brigade-mobile-Beamten Marc Scheer und Jos Wilmes, zu urteilen habe. Derzeit finde „nicht der Prozess gegen die Haupturheber statt. Das bedauere ich.“ Denn es sei alles „von Meisterhand organisiert gewesen“. Biever war überzeugt, dass es „im Land und im Staat hochgestellte Personen gibt, die genau wissen, wer für die Anschläge verantwortlich ist, oder die es gar selbst waren“.

Wenig später gab Biever einen Hinweis, wen er mit den hochgestellten Personen meinte. Denn er erklärte sich zufrieden darüber, dass nun Zeugen in öffentlicher Sitzung aussagen müssten. Dadurch stünden sie erstmals unter Eid und riskierten so eine mehrjährige Haftstrafe bei einer Falschaussage. Hochgestellte Personen unter den rund 100 Zeugen sind zwei Prinzen, drei aktive und ehemalige CSV-Minister sowie aktive und ehemalige Befehlshaber von Gendarmerie, Polizei und Geheimdienst. Auch wenn sie, anders als die beiden kleinen Fische, nur als Zeugen geladen sind, stehen einige von ihnen im Verdacht, wenigstens ihr Menschenmögliches getan zu haben, um die Aufklärung der Bombenanschläge durch eine unentwirrbare Vermengung von Sabotage und Schlamperei zu verhindern. Denn bereits wenige Monate nach den ersten Anschlägen hatte sich die Vermutung aufgedrängt, dass sie das Werk von geschulten und informierten „Insidern“ sein mussten.

Wie es überhaupt zur Wiederaufnahme der Ermittlungen kam, daran erinnerte sich Generalstaatsanwalt Biever vergangene Woche vor Gericht: Als sich 1998 ein Zeuge bei ihm meldete, der ihm berichtete, dass Reulands Vorgänger, Ben Geiben, vom französischen Geheimdienst, den Renseignements généraux, verhört worden sei. Und die beim Luxemburger Geheimdienst als sehr „offensiv“ geltenden französischen Kollegen scheinen für eine Überraschung gut gewesen zu sein. Denn Biever leitete nach eigenen Aussagen die Nachricht an Untersuchungsrichterin Doris Woltz weiter, und so habe der zweite Teil der Ermittlungen begonnen.

Schließlich war der legendäre Gründer der Brigade mobile, Ben Geiben, lange der Hauptverdächtige. Gefördert von DP-Minister Emile Krieps, hatte er eine steile Karriere gemacht, bis er 1984, im Jahr der ersten Anschläge, die Gendarmerie aus nicht eindeutig geklärten Ursachen verließ. Geiben sei „während Jahren durch die Akte“ der Bombenanschläge „gegeistert“, erinnerte sich Roby Biever. Aber es habe stets an „konkreten und präzisen Elementen gefehlt, um ihn zu beschuldigen“. Das klingt nicht so, als ob der Generalstaatsanwalt ihn nunmehr für unschuldig hielte. Aber weshalb Geiben als Hauptverdächtige gegolten habe, wollte Biever nicht sagen. Es sei ihm sogar „total schleierhaft“. Mehr als „hundert Mal“ habe er den ehemaligen Sûreté-Chef Armand Schockweiler gefragt, weshab dieser Geiben seine „beste Spur“ genannt habe. Aber Schockweiler sei ihm stets die Antwort schuldig geblieben.

Stattdessen stellte sich der Generalstaatsanwalt vergangene Woche vor Gericht die Frage, ob Ben Geiben vielleicht Leute unter Druck gesetzt habe. Als Antwort beschrieb Biever ihn gleich zweimal als einen hochintelligenten Mann, der andere führen und Macht über sie ausüben könne. Der also andere unter Druck setzten konnte. Offen ließ Biever, wen Geiben seiner Meinung unter Druck gesetzt haben mag: die ihm untergebenen Beamten der Brigade mobile, Zeugen, Ermittler…?

Eine Wende der Ermittlungen hätte laut Generalstaatsanwalt der Anschlag auf den Justizpalast im Oktober 1985 bringen können. Denn der damals in Belgien wohnende Geiben sei eine Woche lang beschattet worden, hierzulande mit Hilfe des Nachrichtendienstes. Doch ausgerechnet in der Tatnacht, als er nach Luxemburg gekommen war, sei die Beschattung vorzeitig beendet worden. Wer die Beschattung durch den Geheimdienst abblies, ist bis heute nicht einwandfrei geklärt. Der inzwischen verstorbene Chefadjutant Jos Steil, erst Geibens und dann Reulands Stellvertreter an der Spitze der Brigade mobile und selbst Mitarbeiter des Geheimdienstes, soll seinen Kollegen vom Geheimdienst fälschlicherweise Entwarnung gegeben haben.

Dies sei „ein schwerwiegender Zwischenfall gewesen, der alles hätte lösen können“, stellte Biever fest. Durch die Beschattung hätte Ben Geiben damals in flagranti überführt oder entlastet werden können. Doch alle Akten zur Operation sind unauffindbar. Nach der Hausdurchsuchung beim Geheimdienst habe Biever „schweren Herzens“ einen Brief an Justizminister Luc Frieden geschrieben und den inzwischen zum Polizeidirektor avancierten Pierre Reuland sowie Generalsekretär Guy Stebens der Justizbehinderung beschuldigt. Frieden musste sie abberufen; Reuland ist inzwischen Sonderbotschafter von Interpol bei der Europäischen Union.

Der Kreditkartenbeleg eines Restaurants bescheinigt, dass Geiben am Tag des Anschlags in Luxemburg war. Eine Stunde vor dem Anschlag fiel einem Zeugen in der Umgebung des Tatorts ein Mann auf, dessen Phantombild überraschende Ähnlichkeiten mit Ben Geiben zeigt, wie das Gericht vor zwei Wochen feststellte. Doch das Bild wurde nie verbreitet. Nach dem Anschlag auf den Justizpalast sei Geiben, die angeblich beste Spur, nicht mehr in den Ermittlungsakten aufgetaucht, heißt es in der Anklageschrift.

Bis der Generalstaatsanwalt vergangene Woche vor Gericht zugeben musste, dass er sich am 16. April 2008 heimlich mit ihrem ehemaligen Kommandanten Ben Geiben im Oberdonvener Privathaus von Ermittler Marc Weis getroffen hatte. Das war viereinhalb Monate nach der Anklageerhebung gegen Marc Scheer und Jos Wilmes, die ihn offenbar nicht zufriedenstellte.

Spätestens die zahlreichen Vertuschungsversuche, die ständigen Demütigungen der Justiz durch die Spitzen von Gendarmerie, Polizei und Geheimdienst müssen Roby Biever zur Überzeugung gebracht haben, dass die Anschlagserie eine zutiefst politische Angelegenheit ist, der mit orthodoxen Mitteln allein nicht beizukommen ist. Deshalb griff er immer wieder auf heterodoxe Mittel zurück, bediente sich der Presse, um in der Öffentichkeit Druck zu schaffen, und organisierte abseits der Öffentlichkeit Zusammenkünfte mit Tatverdächtigen.

Biever hatte nach eigenen Angaben um die merkwürdige Zusammenkunft in Oberdonven, an der auch Chefermittler Carlo Klein teilnahm, gebeten, um sich angeblich „ein Bild von Ben Geiben zu machen“. Bei dem Treffen habe man zuerst geplaudert, dann sei Biever zum Thema, seinem eigentlichen „Ziel“, gekommen: Er habe Ben Geiben gefragt, wen dieser mit all seinem Wissen über das Innenleben der Sicherheitskräfte verdächtigte, für die Bombenanschläge verantwortlich zu sein.

Wenn der Staatsanwalt, der die Drahtzieher der Anschläge überführen möchte, aber stattdessen nur zwei kleine Fische fangen konnte, einem jahrelangen Hauptverdächtigen diese Frage stellt, konnte Ben Geiben sie als vorsichtiges Angebot zu einem Handel auffassen: Helfen Sie mir, an die Drahtzieher zu kommen, dann helfe ich Ihnen, mit heiler Haut davonzukommen.

Aber Geiben ließ Biever abblitzen: Er habe sich „nie weiter Gedanken darüber gemacht“, antwortete, so Biever, der angeblich brillanteste Gendarm seiner Generation. Folglich konnten sich der Generalstaatsanwalt, der Hauptverdächtige und die beiden beteiligten Ermittler vergangene Woche vor Gericht einig sein, dass es nie einen „Deal“ in Oberdonven gab.

Nunmehr einen Monat nach der Eröffnung des Prozesses um die Terrorwelle haben die Ermittler und die anderen Zeugen die zwei Angeklagten noch nicht belastet – sie haben sie noch nicht einmal erwähnt. Die beiden scheinen die Unwichtigsten im ganzen Prozess zu sein, und selbst der lautstark den Prozess dominierende Anwalt Gaston Vogel kämpft mehr um die Beschuldigung Anderer als um die Entlastung seines Mandanten.

So als dienten die zwei kleinen Fische nur dem Gericht, der Staatsanwaltschaft und der Verteidigung dazu, während des laufenden Prozesses vielleicht einen vorerst nur als Zeugen geladenen Befehlshaber zu ködern. Dass mit dem dann vielleicht sogar die Auftraggeber an die Leine gingen, ist allerdings bis auf Weiteres nicht vorgesehen. Denn die von Ex-CSV-Staatsrat Roby Biever verfasste Anklageschrift ist, so die Anwältin und CSV-Staatsrätin Lydie Lorang am Mittwoch, „ein Copy/Paste der Fallanalyse“, mit der das sehr rechte Bundeskriminalamt den Persilschein lieferte, dass auch im CSV-Staat nur Linksradikale und Muslime zu Terroranschlägen fähig sind.

Romain Hilgert
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