Jugendhilfe

Flucht nach vorn

d'Lëtzebuerger Land du 25.02.2010

Für Ärger und Verwirrung, mindestens aber für Erstaunen sorgt die Forderung des Caritas-Verbands, dem Office national de l’enfance (ONE) eine einzige nationale Koordinationsstelle, den so genannten Service de coordination de projet d’intervention (CPI), zur Seite zu stellen.

Der Gesetzgeber hatte im vergange­nen Jahr den ONE, eine Art Jugendamt, geschaffen, um Kinder in Not besser helfen zu können. Dafür kann das Amt verschiedene Aktivitäten, wie das Erstellen, Koordinieren, Auswerten und Anpassen von Hilfsplänen und Erziehungsmaßnahmen an Dritte abgeben, die ihrerseits gegenüber dem ONE rechenschaftspflichtig sind.

Weil die Arbeit besondere diagnostische Kompetenz verlangt, fordert die Caritas, strikt auf Unabhängigkeit und Qualität der CPI-Dienste zu achten. „Wir brauchen eine einzige natio­nale Koordinationsstelle, die unabhängig vom ONE und von den Leistungsträgern funktioniert“, unterstrich Caritas-Generalsekretär Philippe Streff am Freitag auf einer Pressekonferenz. Am ehesten könne dies der Staat. Ein Standpunkt, der sachlich nachvollziehbar ist. Merkwürdig ist aber, dass der Einwand jetzt erfolgt. Die Beratungen darüber, wie die CPI-Dienste zu organisieren seien, laufen schon seit über einem Jahr: Am 5. Februar hatte ONE-Direktor Jeff Weitzel die Marschroute den Trägern offiziell vorgestellt. Dabei sollen die Caritas-Träger das Modell mehrerer, von den Leistungsträgern organisierten re­gio­nalen CPI-Dienste mitgetragen und sogar selbst Pläne für eigenen Service vorgelegt haben. Der Vorstoß des Caritas-Verbands, nun auf einen nationalen, staatlichen Dienst zu pochen, kommt daher überraschend.

Nein, er könne sich nicht vorstellen, „dass wir doch noch ein großes Jugendamt machen“, betont Nico Meisch, erster Regierungsrat im Familieministerium und zuständig für die Umsetzung des Jugendhilfegesetzes. Auch Jeff Weitzel geht davon aus, dass „die erste Option nicht mehr besteht“. Schließlich seien die Vorgespräche mit den Trägern „nicht in diesem Sinne verlaufen“ und das Budget für 2010 sei auch schon unterwegs.

Was Journalisten gegenüber mit überraschten Worten kommentiert wird, ist eigentlich vor allem ärgerlich, denn mit ihrem Vorstoß setzt die Caritas das Familienministerium unter Zugzwang: Nun sieht es so aus, als würde der Staat die Verantwortung für hochwertige und vor allem unabhängige CPI-Dienste nicht übernehmen wollen und als sei er es, der gegen eine nationale Stelle sei. Noch im Herbst hatten Nico Meisch und Jeff Weitzel in einem Gespräch mit dem Land (30. Oktober 2009) einvernehmlich gesagt, staatliche CPI-Dienste seien vor allem vom Sektor selbst nicht erwünscht.

Nicht nur im ONE rätselt man daher über die wahren Beweggründe der Caritas-Leitung, auch bei Heimträgern sorgt der Coup für Unverständnis. „Die Gespräche laufen seit Monaten. Von einer Fundamentalkritik war bislang nichts zu erkennen“, ärgert sich ein Heimleiter, der nicht genannt werden will.

Dabei steht die Caritas mit ihrer Kritik nicht alleine. Lange vor dem Einwand der katholischen Wohlfahrts­organisation hatten andere Träger schon vor den Folgen gewarnt, die von den Leistungsträgern bereit gestellte CPIs für die Jugendhilfe bedeuten würden. Sie befürchten Brain Drain, Favoritismus und vor allem hohe Kosten. Mitarbeiter könnten die attraktiveren und besser bezahlten Posten als CPI-Fallmanager der Arbeit mit den schwierigen Kindern vorziehen, schlimmer noch: kleineren Einrichtungen ohne eigenen CPI könnten Nachteile bei der Zuteilung der Hilfen entstehen. Um das zu verhindern, und großen Playern wie der Caritas nicht das Feld allein zu überlassen, plädierten damals Träger wie das Jongenheem für einen nationalen Dienst, am besten koordiniert von der Dachträgerorganisation EGCA, der einzigen Vertretung aller Heimträger. Weil besonders Verwaltungsratspräsident Romain Mauer, zudem Generaldirektor der Caritas-Vereinigung Elisabeth, sich für das Modell nicht erwärmen wollte, prüfte eine Hand voll nicht-kirchlicher Träger als zweite Wahl mögliche Allianzen. Die Croix Rouge wurde angesprochen, weil sie viele Sozialarbeiter als Case-Manager schon jetzt hausintern bereithält, deren Leitung aber hat Interesse an einem eigenen CPI-Dienst und ein solches Konzept entwickelt.

Und das könnte auch der eigentliche Grund für den Vorstoß der Caritas sein, argwöhnen manche misstrauisch: Um unliebsame Konkurrenten auszuschalten und um Kosten für einen eigenen CPI-Dienst zu umgehen, sei dem Verband die gemeinsame Plattform zupass gekommen, ein Kalkül, das Philippe Streff zumindest teilweise abstreitet. Man habe auch etwas zu verlieren, betont der Generalsekretär der Caritas auf Land-Nachfrage. Es gehe um die „sachlich richtige Lösung“, sagt Koordinator Georges Rotink, der einräumt, „mit der Stellungnahme vielleicht etwas zu lange gewartet zu haben“. Immerhin: Es war die Caritas gewesen, die in ihrem Avis zum Jugendhilfegesetz von 2007 auf die Gefahr von Machtkonzentra-tionen hingewiesen hatte.

Umso spannender geht die Geschichte weiter: Beim ersten Treffen der EGCA am Dienstag nach der Caritas-Pressekonferenz gab es erste Anzeichen von Einigkeit. Es scheint, als würde sich in allerletzter Minute doch ein Konsens für einen von allen Leistungsanbietern gemeinsam getragenen CPI-Dienst finden. Sollte dem wirklich so sein, wäre das eine kleine Sensation für die sonst so zersplitterte, zerstrittene Heimträger-Landschaft – und dann könnten für das Familienministerium noch schwere Zeiten anbrechen: Ein vereinter Träger hat ein anderes Verhandlungsgewicht als viele kleine. Und die Finanzierungsfrage der CPI-Dienste ist noch nicht abschließend geklärt.

Ines Kurschat
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