Das letzte der vier Kapitel der Verfassungsreform ist deponiert. Der Gesamttext unterscheidet sich kaum von dem 2019 verworfenen Revisionsvorschlag. In mancher Hinsicht ist er sogar reaktionärer

Kompromisslösungen

d'Lëtzebuerger Land vom 02.07.2021

153 Jahre Nach einem ersten frühkonstitutionellen Text von 1841 bekam Luxemburg nach der Revolution von 1848 eine verhältnismäßig liberale Verfassung, die den modernen Parlamentarismus begründete und grundlegende Freiheiten einführte. 1856 erwirkte der konservative König-Großherzog Wilhelm III. im Zuge eines Staatsstreich eine reaktionäre Verfassung. Zwei Jahre nach der Auflösung des Deutschen Bundes gewann Luxemburg an Souveränität und der damalige Regierungspräsident Emmanuel Servais setzte 1868 wieder eine liberalere Verfassung durch, die von Historikern als Kompromisslösung zwischen den Texten von 1848 und 1856 betrachtet wird. Diese Kompromisslösung ist mittlerweile seit 153 Jahren in Kraft, selbst wenn seitdem rund 40 Revisionen vorgenommen wurden.

Zum ersten Mal wurde die Verfassung 1919 angepasst. Nachdem die von Großherzogin Marie-Adelheid ausgelöste Staatskrise überwunden war, wurde die souveräne Macht vom Großherzog auf die Nation übertragen; das allgemeine Wahlrecht und die vier Wahlbezirke wurden eingeführt. 1948 wurde der Grundstein für die parlamentarische Demokratie gelegt. 2008 wurden die Bedingungen zur Erlangung der Staatsbürgerschaft aus der Verfassung herausgenommen und in ein Gesetz überführt. 2009 wurde dem Großherzog das Recht entzogen, Gesetze zu sanktionieren, nachdem er sich geweigert hatte, das Euthanasiegesetz zu unterzeichnen. 2004 wurde der Ausnahmezustand (état de crise) eingeführt und nach den Terror-Attentaten von Paris 2017 auf internationale Krisen ausgedehnt.

Noch bis 2019 galt die Verfassung von 1868 als längst überholt. Fast vier Jahrzehnte lang bestand ein Konsens, dass ein neuer Text gebraucht werde. Als Folge davon hatte der CSV-Abgeordnete Paul-Henri Meyers 2009 den Revisionsvorschlag Nummer 6030 deponiert, der ab 2013 von Alex Bodry (LSAP) verfeinert wurde. Alle Fraktionen hatten diese „moderne Verfassung für das 21. Jahrhundert“ unterstützt; nach der ersten Abstimmung im Parlament sollte sie durch eine große Volksbefragung legitimiert werden. Nachdem die CSV eine Abstimmung schon in der vorigen Legislaturperiode verhindert hatte (vgl. d‘Land vom 29.11.2019), beschloss sie vor zwei Jahren mit fadenscheinigen Argumenten ihre Sperrminorität geltend zu machen. Mehrheitspolitiker mutmaßen, dass die CSV der Revision nicht zustimmen wollte, weil diese Einwilligung mit ihrer Oppositionsrolle nicht vereinbar gewesen wäre. Deshalb suchte sie nach dem Haar in der Suppe und fand es im Kapitel über die Justiz. Ihr Verfassungsexperte Léon Gloden setzte nun durch, dass die im Revisionsvorschlag 6030 vorgesehene vollständige Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft eingeschränkt wird, indem die Regierung weiterhin das Recht behält, strafrechtliche Vorgaben zu erlassen.

Doch auch DP, LSAP und Grünen kam es nach der traumatischen Volksbefragungserfahrung von 2015 nicht ungelegen, dass das Referendum entfiel und statt der Gesamtrevision eine schrittweise Reform durchgeführt wird, die nur noch vom Parlament abgesegnet werden muss. Vor zwei Jahren wurde die Revision daher in vier Kapitel zerlegt, die die großen Parteien unter sich aufteilten. Der Gesetzesentwurf über die Justiz (7575), der von Léon Gloden (CSV) begleitet wird, ist fertig und liegt quasi zur Abstimmung bereit. Bei dem von Mars Di Bartolomeo (LSAP) hinterlegten Entwurf über die Organisation des Staats, des Großherzogs und der Monarchie, der Regierung und der Gemeinden (7700) fehlt nur noch das Zusatzgutachten des Staatsrats. Das Kapitel über die Rechte und Freiheiten (7755) wurde Ende April von Simone Beissel (DP) deponiert, vor zehn Tagen vom Staatsrat begutachtet und wird nun im Verfassungsausschuss diskutiert. Der letzte Gesetzesentwurf betrifft vor allem die Abgeordnetenkammer und den Staatsrat (7777). Er wurde erst am Dienstag von Charles Margue (déi Gréng) hinterlegt. Im Herbst will die Kammer eine Informationskampagne starten, danach sollen die vier Gesetzesentwürfe nach und nach zur Abstimmung gelangen.

Zwischenwerk Bei der Analyse der einzelnen Kapitel, wie sie bislang vorliegen, fällt auf, dass der Gesamttext zwar anders strukturiert ist, sich inhaltlich aber nur in wenigen Punkten von dem unter der Leitung von Paul-Henri Meyers und Alex Bodry ausgearbeiteten Revisionsvorschlag 6030 unterscheidet. Der Präsident des Institutionenausschusses, Mars Di Bartolomeo, bezeichnet die Reform nach Kapiteln gegenüber dem Land als „Zwischenwerk“, das sich zwischen einer partiellen Reform und einer Gesamtrevision ansiedle. Die vier Kapitel müssten nach ihrer Abstimmung noch durch zusammenführende Elemente ergänzt werden, damit ein kohärenter Text entstehe, der eine leicht verständliche „Anpassung der Verfassung an die heutige Wirklichkeit“ darstelle, sagt Di Bartolomeo. So wurde die Thronfolge des Staatschefs klarer definiert. Nicht mehr der Nassauer Familienpakt, sondern die Verfassung bestimmt künftig, wer Großherzog werden darf. Nur aus einer Hochzeit stammende direkte Nachfahren von Großherzog Adolphe kommen in Frage. Damit sind sowohl Großherzogin Maria-Teresa als auch uneheliche Prinzenkinder vom Anspruch auf die Thronfolge ausgeschlossen. Zudem erhält die Abgeordnetenkammer – auf Anfrage der Regierung und mit der Zustimmung des Staatsrats – das Recht, den Großherzog abzusetzen, falls der seinen verfassungsrechtlichen Pflichten nicht nachkommt. Diese Änderungen sind aber nicht etwa auf den Waringo-Bericht zurückzuführen, sie standen bereits in dem noch von Alex Bodry (LSAP) koordinierten Text des Revisionsvorschlags 6030 aus dem Juli 2019. Gleiches gilt für die Finanzierung und die Organisation des Hofs, die in der Verfassung nun klarer geregelt werden.

In symbolischer Hinsicht sind manche Passagen im aktuellen Text sogar reaktionärer als Revisionsvorschlag 6030, so dass man davon ausgehen muss, dass die CSV sich nicht nur im Kapitel über die Justiz durchsetzen konnte. Während der Großherzog in der Version 6030 fast ausschließlich als Staatschef bezeichnet wurde, tritt er nun wieder überall als Großherzog in Erscheinung. Ferner erhält er den Titel des Armeechefs (unter Verantwortung der Regierung) zurück. Dieses folkloristische Element, das ihm das Tragen seiner Militäruniformen weiterhin ermöglicht, hatten Meyers und Bodry gestrichen. Kriege erklären und beenden darf der Großherzog aber künftig nicht mehr. Auf sein verfassungsverbrieftes Recht, eigene Münzen zu prägen, hat er (dem Vernehmen nach freiwillig) verzichtet. In dem am Dienstag deponierten Kapitel wird ihm ebenfalls das Recht entzogen, die Kammer aufzulösen. Neuwahlen kann der Staatschef nur ansetzen, nachdem die Abgeordnetenkammer ein Misstrauensvotum gegen die Regierung angenommen hat. Auch diese Dispositionen wurden aus dem Vorschlag 6030 übernommen.

Gendergleichheit Im zweiten Kapitel wird vor allem europäischen und internationalen Menschenrechts-chartas, Abkommen und Verträgen Rechnung getragen. So wird die Unantastbarkeit der Menschenwürde in den Text aufgenommen, grundlegende Freiheiten und Rechte werden ausführlicher definiert. Die Förderung des Sozialdialogs, das Recht auf eine ordentliche Wohnung, der Schutz von Umwelt, Klima und Tierrechten werden als (nicht einklagbare) staatliche Zielsetzungen verankert. Für Diskussionen sorgte die Wahl der Formulierung: „Les femmes et les hommes sont égaux en droits et en devoirs.“ Die Unesco ist inzwischen schon über die Einteilung in binäre Kategorien hinaus und spricht von Gendergleichheit. Selbst die luxemburgische Regierung unternimmt seit Jahren Anstrengungen im Bereich der rechtlichen Anerkennung etwa von Trans- und Intersex-Personen. Im Kommentar zu den Artikeln des von Simone Beissel deponierten Entwurfs wird lediglich darauf verwiesen, dass der Begriff Gendergleichheit in der Verfassung zwar nicht zurückbehalten, aber auch nicht in Frage gestellt werde.

Als er am Dienstag sein Kapitel in der Kammer hinterlegte, meinte Charles Margue, sein Text stelle zwar, wie die drei anderen Entwürfe, keine verfassungsrechtliche Revolution dar, doch er führe zu einer deutlichen Stärkung des Parlaments. Tatsächlich wurden die Kontrollmöglichkeiten der Regierungsarbeit durch die Opposition verstärkt, indem es künftig nur noch der Zustimmung von 21 der 60 Abgeordneten bedarf, um einen Untersuchungsausschuss einzusetzen. Ferner wurden die jährlichen Kammersessionen abgeschafft und durch eine zwischen den Wahlen fortlaufende Sitzungsperiode ersetzt. Doch auch diese Dispositionen waren – genau wie die als weitere Neuerung verkaufte legislative Volksinitiative (die Kammer muss sich mit Gesetzesvorschlägen befassen, die von mindestens 125 Wählern eingereicht und von 12 500 Wählern unterstützt werden) – bereits im Revisionsvorschlag 6030 vorgesehen.

Die Gefahr dieser vermeintlichen Stärkung des Parlaments besteht darin, dass durch diese Neuerungen noch mehr Arbeit auf die zum Teil eh schon überforderten Abgeordneten zukommt. Die Gelegenheit zur Abschaffung der Doppelmandate, die eine wirkliche Stärkung der Kammer dargestellt hätte, und eigentlich auch von allen Parteien getragen wird, wurde verpasst. Offenbar lag es daran, dass man sich nicht darauf einigen konnte, welche kommunalen Mandate davon betroffen sein sollen (nur Bürgermeister/innen und Schöff/innen oder auch Gemeinderät/innen). Zumindest soll in der Verfassung aber nun die Möglichkeit eröffnet werden, die Mandatstrennung per Gesetz zu regeln, was vorher nicht explizit vorgesehen war. Auch die Einführung eines einheitlichen Wahlbezirks, der zu einem gerechteren Wahlsystem hätte beitragen können, fand in der Verfassung keinen Niederschlag. Eine politische Mehrheit gibt es dafür bislang nicht.

Volksbefragung Am Ende bleibt die Frage, ob man sich die Arbeit der vergangenen 24 Monate nicht hätte sparen können und den Text von Meyers und Bodry übernehmen sollen. Selbst der Staatsrat merkt an, dass „tout comme les propositions de révision précitées, la proposition actuelle reprend sur de nombreux points les textes proposés dans le cadre de la proposition de révision n° 6030“ und verweist in seinen Avis regelmäßig auf frühere Gutachten, die die Hohe Körperschaft bereits zum Revisionsvorschlag 6030 abgegeben hatte. Wären sie bei Vorschlag 6030 geblieben, hätten die Mehrheitsparteien einen anderen Grund vorschieben müssen, um das große Referendum zu umgehen.

Eine Volksbefragung zu einem oder mehreren Kapiteln ist aber noch nicht endgültig vom Tisch. Laut aktueller Verfassung reicht es aus, wenn 16 Abgeordnete oder 25 000 Wähler/innen sie innerhalb von zwei Monaten nach der ersten Abstimmung in der Kammer beantragen. Die nun gefundene Kompromisslösung lässt aber darauf schließen, dass die mächtige CSV dieses Recht wohl nicht in Anspruch nehmen wird.

Luc Laboulle
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